Andrea Levy, Small Island

3. October 2009 | von

praktisch spoilerfrei

In Literaturdidaktik wurden wir an der Uni gewarnt, aus dem Romanelesen (überhaupt aus Kunst) Informationen über die Welt zu lernen. Ich konnte mir schon damals nicht vorstellen, wie man das verhindern soll, kann es heute ebenso wenig. Denn: Wenn mein einziger Kontakt mit Indien die gelesenen Romane sind, die dort spielen, und ein paar Filme – wie sollen sie denn NICHT meine Vorstellung von Indien formen?

Bislang hatte ich mir keinerlei Gedanken über die Menschen aus dem britischen Commonwealth gemacht, die im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der britischen Truppen waren. Oder über die von ihnen, die nach dem Krieg nach Großbritannien zogen. Doch jetzt habe ich Small Island von Andrea Levy gelesen.

Das Buch beginnt (nach einem Prolog, der das Thema des Romans anklingen lässt) 1948 mit der Ankunft der als Lehrerin ausgebildeten Jamaikanerin Hortense in London. Geholt hat sie Gilbert, der Jamaikaner, den sie sechs Monate zuvor geheiratetet hat. Gilbert war im Krieg bei der Royal Air Force und wohnt jetzt zur Untermiete bei der Londonerin Queenie, deren Mann Bernard immer noch nicht aus Indien vom Krieg zurückgekommen ist. Von hier aus erzählen in Kapiteln diese vier Personen abwechselnd ihr Leben bis zu diesem Zeitpunkt. Wir erfahren, wie Queenie als Metzgerstochter südlich von London aufgewachsen ist, bis sie zu einer besser gestellten alten Tante nach London kam, die sie ein wenig wie in Pygmalion vorzeigbar trimmte. Wir erfahren auch, wie Hortense wegen ihrer helleren Haut zu Großem bestimmt und bei Onkel und Tante auf Jamaika britischer als britisch aufgezogen wurde – bis sie ein echter Snob mit stiff upper lip war. Gilbert erzählt uns von seinem jüdischen Alkoholikervater und wie seine Mutter mit ihrer Schwester ihn und seine Geschwister durchgebracht hat, wie er im Krieg nach England ging, um als Soldat dem „Mother Country“ zu Hilfe zu kommen – und wie man dort auf seine dunkle Haut reagierte. Aus der Sicht des ängstlichen, biederen englischen Buchhalters Bernard wiederum lesen wir über die Geschehnisse in Indien und werden gezwungen, alle seine Ressentiments gegenüber Anderskulturellen mitzufühlen.

Dazwischen geht die Geschichte immer wieder kurz zurück ins Jahr 1948, auch hier aus der Sicht der Beteiligten, zum Schluss ausführlicher. Doch in dieser Gegenwart vergehen insgesamt nicht mehr als ein paar Wochen – in denen eine Menge passiert.

So viele Themen, mit denen ich mich nie beschäftigt hatte: Selbstverständlich ist mein Bild dieser historischen Geschehnisse jetzt von Small Island geprägt. Zumal der Roman ganz ausgezeichnet geschrieben ist und die subjektive Perspektive erzähltechnisch meisterlich nutzt: Das Fehlen eines objektiven Überblicks, die Abwesenheit von Zahlen und Fakten verhindern den Eindruck einer Geschichtsstunde, gleichzeitig werden die Figuren geschickt indirekt charakterisiert, auch aus der Perspektive der anderen auf sie. Was fast automatisch zu vielen komischen Momenten führt.

Ich bin schon sehr lange nicht mehr derart intensiv in ein Buch abgetaucht. Und ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was es wohl bei den amerikanischen Alliierten mit ihrer Rassentrennung in England ausgelöst haben mag, dass sich dunkelhäutige Commonwealth-Soldaten nicht von ihrer Segregationspolitik gemeint fühlten. Hatte mir auch nie die Bestürzung der Commonwealth-Einwanderer vor Augen geführt, deren gesamte Bildung von Großbritannien geprägt war, und die dann feststellen mussten, dass der gemeine Engländer nicht einmal wusste, wo Jamaika ist.

Hat jemand Bernhard Robbens deutsche Übersetzung Eine englische Art von Glück gelesen und kann mir berichten, ob sie taugt?

One Response to “Andrea Levy, Small Island

  1. Isa Says:

    Nicht gelesen, aber bei Bernhard Robben kann man davon ausgehen, dass sie taugt. (Ian McEwan, Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW usw.)