Scarlett Thomas, The End of Mr. Y

17. January 2010 | von

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Es war ein Weihnachtsgeschenk, sonst hätte ich The End of Mr. Y sehr wahrscheinlich nie gelesen: Sein Umschlag sieht zu sehr nach Fantasy, Vampiren, Steam Punk aus, als dass es mich anzöge. Doch dann hätte ich etwas verpasst (die schwarzen Seitenränder – Schwarzschnitt? – gefallen mir ohnehin sehr gut).

Die Geschichte startet mit einem Erdbeben und steigert sich von dort aus langsam. Nein, ernsthaft: Auf der ersten Seite raucht ein Ich-Erzähler gerade aus seinem Bürofenster, als der Boden unter ihm erbebt. Er flieht Hals über Kopf – es stellt sich heraus, dass das Büro Teil eines Universitätskomplexes ist, unter dem soeben ein altes Gewölbe einbricht. Wir sind im Jetzt und Heute (Derrida ist bereits gestorben); der Erzähler promoviert über ein Teilgebiet der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts und stolpert über ein Buch aus dieser Zeit, das als verschollen und verflucht gilt: The End of Mr. Y von Thomas Lumas.

Es dauerte einige viele Seiten, bis ich den Erzähler eindeutig als Frau einordnete – ein gutes Zeichen und Beweis für den Abstand zu Stereotypen: Diese Ariel ist besessen von ihren Studien, steht auf oberflächlichen Sex, kämmt sich selten, ist ganz einsamer Wolf / einsame Wölfin – mit den entsprechenden seelischen Verletzungen.

Die Geschichte dreht sich dann im Weiteren um die seltsamen Inhalte des entdeckten Buches, das ein Rezept für Telepathie enthält. Parallel geht es um die Entstehung von Wissenschaft, wie wir sie heute kennen; die Details werden gerne in Dialogform präsentiert – und das durchaus fachlich tief und sauber. Ich genoss es, an die Zusammenhänge der Relativitätstheorie erinnert zu werden, auch an die Auswirkungen der Unschärferelation auf unsere heutige Wahrnehmung. Alles ist verwoben in eine temporeiche Handlung, in der Ariel das Rezept des Buches ausprobiert, mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, amerikanischen Geheimagenten ausweichen muss, zwischen Wirklichkeitsebenen wechselt. Das macht den Roman kurzweilig, ist aber auch sein Nachteil: Insgesamt ist The End of Mr. Y deutlich zu voll (Derrida hätte verlustfrei gestrichen werden können, auch Heidegger braucht es nicht). Erzähltechnik und Sprache hinken dem intellektuellen Anspruch hinterher, der nichts weniger versucht, als eine postpostmoderne Erkenntnistheorie des 21. Jahrhunderts zu entwerfen.

Dennoch ein angenehm seltsames Buch. Und es hat mich sehr gefreut, diese Ariel Manto kennenzulernen.

One Response to “Scarlett Thomas, The End of Mr. Y

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