Schnee

20. February 2010 | von

Dieses Buch habe ich gerade zum zweiten Mal gelesen, vor allem wegen des Titels, es könnte ja sein, dass es für immer so weiter schneit.

Schnee ist ein Roman von Orhan Pamuk, übersetzt von Christoph K. Neumann. Der Leser begleitet den den türkischen Dichter Ka, der seit längerem nichts mehr geschrieben hat, auf seiner Reise in ein kleines Dorf weit im Osten der Türkei. Ka ist nach dem Putsch von 1980 für eine Weile nach Deutschland gegangen und kehrt jetzt zum ersten Mal in die Türkei zurück. Nach Kars fährt er aus vielen gleichermassen zeitgenössischen Gründen: Er möchte als Journalist über die religiös motivierten Selbstmorde einiger junger Frauen berichten, er hofft auf ein Wiedersehen mit einer früheren Geliebten und auf ein Wiedersehen mit sich selbst. Er wird nach seiner Ankunft in Kars von allen umworben, als jemand, der weggegangen ist, als jemand, der wiedergekommen ist, als Türke, Dichter und als Europäer. Und als Geliebter.

Ich hatte das Buch eigentlich nur wegen seiner Hauptfigur gekauft, nach einer Lesung von Pamuk, in der Volksbühne 2005 – besitze jetzt eine Signatur von einem Nobelpreisträger!- es gibt ja viel weniger Bücher über Dichter als über andere Autoren.
Wunderbar fand ich gleich am Büchertisch den Einstieg in den Roman, mit der Anreise von Ka, in einem dunklen Bus über dunkle verschneite Straßen, hier die ersten Sätze:

Die Stille des Schnees, dachte der Mann, der gleich hinter dem Busfahrer saß. Er hätte zu dem, was er im Inneren empfand, “die Stille des Schnees” gesagt, wenn dies der Beginn eines Gedichtes wäre.

Pamuk bringt im ersten Kapitel den Dichter, den Schnee und den Erzähler zusammen, der Schnee fällt im ganzen Buch unaufhörlich, auf jeder Seite neu, als wäre er nicht schon auf fast jeder vorangegangenen Seite erwähnt worden, er wird immer wieder beschrieben, so wie man bei echtem Schnee auch immer wieder aus dem Fenster guckt. Und in den ersten 40 Seiten, während man sich an den Schnee gewöhnt, verändert der Autor unmerklich seine Position zum Dichter Ka, er bekommt einen Abstand zu ihm, wird Kommentator, bis der auktoriale Gestus zu einer weiteren Figur verdichtet ist, einem Freund von Ka, der alles schon weiß und als Ich- Erzähler durch das Buch führt – ein gewisser Orhan. Das alles ist ziemlich meisterhaft konstruiert und kommt dabei auf ganz leisen Sohlen, sehr elegant und wirklich schön. “Schnee” hat einen Haufen sehr schöner Sätze.

Ka läuft auf den ersten Seiten mit dem Leser durchs Dorf und redet mit allen,  es wird ein Tanz auf Messers Schneide, Ka muss sich erklären und rechtfertigen, ihm werden dauernd Fragen gestellt, er erschafft beim Reden so ein Bild von sich, weil ihn in Kars niemand einschätzen kann, und weil dort die politische wie religiöse Zugehörigkeit darüber entscheidet, ob Vertrauen und Nähe möglich werden oder nicht. In Kars sind diese beiden Bereiche nichts privates, das befremdet mich, weil ich so tief in einer säkularen Demokratie verwurzelt bin, es befremdet auch die Hauptfigur Ka, der nichts falsch machen möchte und sich in die vielen geforderten Entscheidungen hineinbegibt wie unsereiner grade aufs Eis der Berliner Straßen. Immer wieder wird die Sensibilität und Intelligenz, mit der Ka seine Reise erlebt, von den Bedürfnissen der Dörfler unterlaufen und in Frage gestellt, die dabei auch vor Magie und Gewalt nicht zurückschrecken (dieser Satz gefällt mir, auch wenn er etwas unklar ist) – für den Leser wird daraus eine Art fortlaufender Horizonterweiterung.

Pamuk hat eine große Begabung für klares, analytisches Schreiben. Seine Beobachtungsgabe lässt ihn manchmal etwas kalt erscheinen, weil er die vielen Gründe für alles immer wieder zusammenführt, ohne Partei zu ergreifen, jede Überzeugung, jedes Gefühl hat eine Erklärung, das ist manchmal etwas ermüdend. Ich habe das Pathos ein bisschen vermisst, aber dafür gibt es ja den vielen Schnee in diesem Buch, als wäre das Tiefe und Geheimnisvolle menschlicher Gefühle an den Schnee delegiert worden. Der Schnee hat mich bei der Stange gehalten beim Lesen, man will beim Lesen diese Schneemetapher immer verstehen und deuten, für mich wars am Ende ein Bild für das Verschwinden der Wirklichkeit oder der Wahrheit unter den ganzen Auseinandersetzungen. Der Schnee legt sich auf all die Statements und die vielen politischen Intrigen und Streitgespräche, die man aber als Nichtfachfrau für Islam und Türkei doch mit ziemlichem Gewinn durchlesen kann. Der Dichter findet wieder zum Schreiben in dem Buch, im Schnee, seine Gedichte werden von den Karsianern mit so einem Heißhunger und einem romantischen Respekt vor der Inspiration erwartet, ich denke, weil das lyrische Sprechen für Pamuk nicht parteiisch ist, nicht festlegbar, nicht für den ideologischen Kampf zu missbrauchen, auch seine Figur Ka behält so eine Permeabilität bei all den Positionen, die er bezieht, er bleibt mimetisch, ist nicht konsistent, auch seine Entwicklung ist es nicht. Ich hätte natürlich gern noch ein paar Gedichte gehabt im Buch, wo es doch schon um einen Lyriker geht, aber Pamuk hatte wohl genug an der Backe mit dem Rest des Buches.

Grad komm ich aus dem Kino, habe Shahada gesehen, einen Berlinalefilm von Qurbani, und habe plötzlich auch meine Reserven gegenüber dem Schneebuch besser verstanden. Ich habs jetzt zum 2. Mal gelesen, beim ersten Mal bin ich leicht und schnell durchgerauscht, jetzt hänge ich schon anderthalb Monate drin fest, aber aufhören konnte ich auch nicht damit. Der Film ist sehr besonders, persönlich, sehr nah und fast zärtlich zu seinen Figuren, aber es blieb bei mir so eine innere Barriere vor dem vollen emphatischen Tauchsprung, genau wie bei “Schnee”. Ich glaube, das liegt daran, wie selbstverständlich die Glaubenskonflikte bei Pamuk und in Shahada daherkommen, sie haben für die Betroffenen eine existentielle Wucht, es gibt Tote, im Roman gibt es einen von Fundamentalisten inszenierten Putsch, den der Autor in einem Theater stattfinden lässt, einen Theaterputsch, aber mit echten Toten. Ka muss sich immer wieder rechtfertigen, die Figuren im Buch müssen sich immer wieder ihres Glaubens versichern, die Glaubensfragen scheinen in diesen Biographien wichtiger zu sein und größere Folgen zu haben als Familie oder Beruf. Gleichzeitig gibt es keine richtige oder falsche Haltung, keine Wahrheit, Pamuk weiß das, das macht den ganzen Ernst so grotesk, die Toten so tragisch lächerlich. Ich konnte nicht aufhören zu lesen, weil Pamuks Roman funktioniert, man wird hineingezogen in die Konflikte und kriegt mit, dass sie nicht lösbar sind,  aber diese Verwobenheit von Religion und Person hält mich dann wieder draussen. Darum fällt „Schnee“ in meiner persönlichen Statistik unter die eher widerspenstigen Werke.

Es ärgert mich ein bisschen, dass das hier so ein langer Text geworden ist, aber das war auch ein 500 Seiten-Wälzer! Ich kann das Buch empfehlen, weil es eine große Klarheit hat, im Beschreiben von Menschen, und so nebenbei ein Gefühl für die Konflikte in islamischen Ländern vermittelt, für die tieferen Schichten dieser Konflikte, für deren Unauflösbarkeit, auch dafür, wieviel Leben und Alltag dadrin steckt, also ein Gefühl neben dem Wissen, einen wirklich neuen Zugang.

3 Responses to “Schnee”

  1. kaltmamsell Says:

    Schnee habe ich vergangenes Jahr an den Münchner Kammerspielen als Theaterstück gesehen – hat mir sehr gut gefallen. (Bis auf den wörtlich aus dem Roman zitierten Abschlussmonolog – Pamuks Romane langweilen mich mit ihren Wiederholungen und Detailbeschreibungen zu Tränen.)

  2. Casino Says:

    Mir sind die gar nicht aufgefallen, weil ich den Roman über ein paar Wochen gelesen habe. Vielleicht hatte ich deshalb nie Probleme mit dem Wiedereinstieg! Und ist das Leben nicht auch voller Wiederholungen und Details?

  3. Véronique Says:

    Ich habe das Buch nur bis kurz nach dem Putsch gelesen, musste aus purer Verwirrung aufhören. Der Anfang ist tatsächlich unglaublich schön und stark, und Jahre später “sehe” ich ihn noch. Vielleicht versuche ich bald wieder, das Ganze zu lesen.
    Übrigens, Kars, mit über 70.000 Einwohner ist nicht gerade ein kleines Dorf.