Warum wir welche Geschichten gerne lesen

18. May 2010 | von

Angela Leinen, Wie man den Bachmannpreis gewinnt

Leinen_Bachmannpreis Es gibt Leute, die die Klagenfurter „Tage der deutschsprachigen Literatur“, vulgo den Bachmannpreis, leben und feiern wie andere Leute (viel, viel mehr Leute) die Fußballweltmeisterschaft – ein mir ausgesprochen sympathisches Spinnertum. Seit 2004 gehört auch Angela Leinen dazu, die ich als Autorin des Blogs Sopranisse kenne. Aus ihrem Blog weiß ich unter anderem, dass sie ganz besonders gerne und viel liest und dass es in ihrer jugendlichen Vergangenheit Walter Kempowski gab.

Das Ergebnis dieser beiden Interessen, Bachmannpreis und Lesen, ist ein Buch: Wie man den Bachmannpreis gewinnt. Angela Leinen hat eine Art Poetik geschrieben, aus der Perspektive einer Leserin und erfahrenen Bachmannpreisbesucherin. Und zwar in einem Tonfall, der gerade durch Leichtigkeit und Ironie verrät, mit wie viel Leidenschaft sie für diese Themen brennt.

Zwar richten ihre Tipps sich tatsächlich vor allem an dem Ziel aus, den Bachmannpreis zu gewinnen, doch formuliert sie durchaus allgemeine Handreichungen, wie und worüber sich gute Geschichten schreiben lassen. Hilmar Klute hat das Buch im Aufmacher der jüngsten Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung (leider nicht online) als Beispiel für die Umtriebe der Nichtexperten als Rezensenten genannt: „An der Entzauberung der Kunst wird also nicht allein im Internet gearbeitet.“ Was lediglich belegt, dass Herr Klute das Buch nicht gelesen hat: Es geht nicht um Entzauberung, sondern um Reflexion. Die Autorin bezieht sich dabei auf eine ganze Reihe namhafter Werke, die sich über das Entstehen von Geschichten Gedanken machen. Andererseits steht Hilmar Klute mit seiner Anmerkung in der guten deutschen Tradition des romantischen Geniekults: Sobald Kunst Können erkennen lässt, ist sie keine Kunst mehr. Und wenn ich an so manche ungelenke Inhaltsangabe denke, die die Süddeutsche Zeitung als Buchrezensionen verkauft, ist mir eine Angela Leinen mit ihrer ungeheuren Belesenheit und Analysefertigkeit deutlich lieber.

Angela Leinen schreibt über geeignete Stoffe für Bachmannpreisgeschichten, von A für „Arbeit, gute ehrliche“ über E für „Ex, Abrechnung mit der/dem“ und K für „Krankheit und Siechtum“ bis X für „XY ungelöst“ – zählt Folgen der und Beispiele für die Behandlung dieser Themen auf und schließt dies jeweils mit Stichpunkten zu Reizen und Risiken der Sujets ab. Sie lässt sich ebenso aus über die Perspektiven beim Erzählen und deren Auswirkungen, über Schauplätze, Motive und die Sorgfaltspflicht von Autoren. Dazwischen stehen Gastbeiträge von Menschen aus dem Literaturbetrieb, die also beruflich Kriterien für die Beurteilung von Geschichten haben, nicht nur als Leser. Kathrin Passig hat das Vorwort geschrieben und macht sich darin Gedanken über die Messbarkeit literarischer Qualität und die besondere Rolle, die dabei der Bachmannpreis spielt. (Wenn allein schon der Versuch einer Objektivierung von Beurteilungskriterien Entzauberung ist, dann hat Hilmar Klute allerdings doch recht. Aber dann ist die gesamte Literaturwissenschaft eine einzige Entzauberung.)

Ich hatte mich sehr auf das Buch gefreut und las es mit Genuss und Belehrung. Sehr schön fand ich unter anderem das Kapitel über Schauplätze (Venedig geht nur noch mit wirklich originellem Twist) und das kluge Nachdenken darüber, warum welche Sexszenen funktionieren und andere nicht. Manchmal passten die Überlegungen allerdings nicht ganz zum Buchtitel – vielleicht wäre das Buch runder geworden, wenn es die Gedanken zum Geschichtenschreiben völlig unabhängig vom Bachmannpreis formulieren hätte können.

Nebenher tauchen die ganzen 190 Seiten über als positive Beispiele ständig Bücher auf, die ich noch nicht kannte und umgehend lesen wollte. Seien Sie also gewarnt: Wenn Sie auf Angela Leinens Sicht anspringen, beenden Sie die Lektüre des Buches nicht nur mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, sondern auch mit einer ziemlich langen Wunschliste.

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