Britisch-indisch Barock

17. June 2010 | von

Salman Rushdie, The Satanic Verses

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The Satanic Verses (1988) von Salman Rushdie ist eines der bekanntesten Werke zeitgenössischer Literatur – und gleichzeitig ein selten gelesenes. Wahrscheinlich ist der Grund für Ersteres auch der Grund für Letzteres: Der Roman brachte Rushdie die Fatwa des Ayatollah Khomeini ein, die Muslime aufforderte, ihn umzubringen. Verleger und Übersetzer wurden nicht nur mit Ermordung bedroht, sondern auch getötet (laut Wikipedia gibt es 38 mit dem Roman verbundene Todesopfer, unter anderem den japanischen Übersetzer) . Daraus schließt der Großteil der zur Unterhaltung lesenden Öffentlichkeit, dass es sich um ein komplett unspaßiges Pamphlet gegen den Islam handeln muss – und wer will das schon lesen?

Gehen Sie hin und lesen es: Der Roman ist hochgradig komisch, zudem quietschbunt, völlig wahnwitzig und sehr unterhaltsam. Vielleicht mögen Sie sich diese Folge der britischen Quiz-Show Have I got News for you? aus dem Jahr 1994 ansehen? Zum einen haben Sie dann eine geniale Show gesehen (wenn auch bei YouTube in miserabler Bildqualität), zum anderen ist einer der beiden Rategäste überraschend Salman Rushdie. Wenn sie erlebt haben, wie witzig und schlagfertig der Mann ist, glauben Sie mir vielleicht, was ich Ihnen über seinen berühmtesten Roman erzähle.

Doch erst mal ein paar Schläge zurückgerudert: Einfach wegzulesen ist The Satanic Verses nicht. Die Dichte der Geschichte, die barocke Vielzahl an Erzählsträngen, die vergnügte Verwurstung von ein paar Jahrhunderten Kulturgeschichte vertragen sich auch schlecht mit scheibchenweisem Lesen in immer nur wenigen Seiten vor dem Einschlafen. Der Roman ist in meiner Definition ein idealer Reise- oder Urlaubsschmöker: Gut 600 Seiten pralles Erzählen mit einem Ideenreichtum, aus dem andere fünf Bücher gebaut hätten. Wer den Irrsinn der ersten ca. sechs Seiten überstanden hat, wird mit einem einmaligen Leseerlebnis belohnt.

Der rote Faden der Geschichte schlingt sich um zwei muslimische Männer aus Indien: Den zum Britentum konvertierten Saladin Chamcha und den Bollywood-Star Gibreel Farishta. Gleich zu Beginn des Romans stürzen sie aus einem Flugzeug, das, wie wir später erfahren, von Terroristen in die Luft gesprengt wurde. Nachdem sie unverletzt an der englischen Küste landen, stellt der eine fest, dass ihm Teufelshörner und Bocksfüße wachsen, der andere muss damit fertigwerden, dass er einen Heiligenschein trägt. Diesen surrealen Elemente folgen noch viele weitere, wie ich sie aus allen Romanen Salman Rushdies kenne. Doch im Gegensatz zum magic realism der lateinamerikanischen Literatur setzt Rushdie sie nie beliebig oder als deus ex machina ein; sie machen die Geschichten und Figuren lediglich runder.

Weitere Erzählstränge drehen sich um die Erinnerungen einer alten Engländerin an ihre Jugend in Südamerika, um die Extrembergsteigerin Allie Cone und ihre jüdische Familie, um Träume, in denen der Prophet Muhammad und sein Leben eine Hauptrolle spielen, um das indische Bauernmädchen Ayesha und ihre religiösen Visionen, um einen unbenannten fundamentalislamischen Imam im Exil, um eine indische Emigrantenfamilie in London. In Nebenrollen ein toter schottischer Bergsteiger und ein stotternder indischer Filmproduzent. Unter anderem. Das meiste davon hängt zusammen. Schauplätze sind hauptsächlich London und Bombay. An einigen wenigen Stellen mischt sich ein heftig auktorialier Ich-Erzähler ein und äußert Überlegungen zum Fortgang der Handlung.

Als ich das Buch nach über 15 Jahren zum zweiten Mal las, hatte ich ebenso viel Vergnügen wie bei der ersten Runde, sah einige Bezüge zu Romanen, die ich seither gelesen habe (unter anderem zu John Irvings Son of the Circus und zum genialen White Teeth von Zadie Smith). Zudem erschienen mir viele Passagen prophetisch. Und ich war überrascht, wie wenige der popkulturellen Anspielungen sich überholt hatten. Ein epochales Kunstwerk.

2 Responses to “Britisch-indisch Barock”

  1. Vorspeisenplatte » Blog Archive » Salman Rushdie, The Satanic Verses Says:

    [...] geht es beim Common Reader. die [...]

  2. Modeste Says:

    Nun, dann schaue ich es mir vielleicht doch noch an.