Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China

2. June 2010 | von

RammstedtKaiserDer Roman beginnt so:
Dass mein Großvater zu dem Zeitpunkt, als mich seine vorletzte Postkarte erreichte, bereits tot war, konnte ich nicht wissen. Ich hatte sie ungelesen beiseite gelegt, so wie ich auch die vorangegangenen Postkarten beiseitegelegt hatte. Gemeinsam mit den Rechnungen und Wurfsendungen, zwischen denen sie fast täglich lauerten, bildeten sie unter dem Schreibtisch einen immer waghalsigeren Stapel, den ich mit einer alten Zeitung abdeckte, auch wenn das wenig half, ich wusste schließlich, was sich darunter verbrarg.

Hurra! Was für ein sensationell beknacktes Buch! Bisher war alles, was ich von Tilman Rammstedt gelesen habe – nämlich alle Bücher, die er sonst noch veröffentlicht hat: Erledigungen vor der Feier und Wir bleiben in der Nähe – wahnsinnig klug und so, dass man am liebsten dauernd alles zitiert hätte. Und immer lag irgendwo unten drunter so ein grandioser Humor, der nie dumme Witze machte, sondern nur hier und da aufschien und eine Art Humus für all die klugen Gedanken bildete. Und jetzt kommt ebendieser Tilman Rammstedt daher und ist einfach mal hemmungslos albern. Ohne in blöden Schenkelklopferhumor zu verfallen, natürlich.
Keith Stapperpfennig hat ein paar Probleme. Er und seine vier Geschwister sind bei ihrem Großvater aufgewachsen, der den Kindern andauernd neue, immer jüngere Großmütter vorstellt. Bis Keith als junger Erwachsener seinem Großvater eine dieser Freundinnen, Franziska, ausspannt (Problem Nummer eins).
Etwa zur selben Zeit hat der Großvater einen runden Geburtstag, und die Kinder schenken ihm gemeinsam eine Reise an ein Ziel seiner Wahl. Der Großvater sucht sich China aus, und sein Lieblingsenkel Keith muss mit. Der allerdings hält die Idee für vollkommen bescheuert und versteckt sich am Ende unterm Schreibtisch (Problem zwei), während sein Großvater tot in einem Kühlfach im Westerwald liegt (Problem drei) und die Geschwister glauben, die beiden wären gemeinsam in China (Problem vier). Um diese Illusion aufrecht zu erhalten, schreibt Keith “Briefe aus China”, die immer länger und blumiger werden. Als Leser lernt man dabei die erstaunlichsten Dinge über China. Man weiß ja beispielsweise, dass schon die alten Chinesen viele Dinge kannten, die bei uns erst sehr viel später auftauchten; aber dass auch der Pullunder eins dieser Dinge ist, war mir dann doch neu.
Nach zwei wirklich klugen, sehr literarischen und von der Kritik gefeierten Büchern einfach so eine Albernheit rauszuhauen (die natürlich auch klug und literarisch ist, aber eben auch wunderbar unernst): das muss man sich erst mal trauen. Lieber Tilman Rammstedt, wenn ich nicht ohnehin schon ehrfürchtig vor Dir im Staub läge, dann spätestens jetzt. Meine Verehrung.

Rammstedt steht im Regal zwischen François Rabelais und Fabrizia Ramondino.

PS: Katy Derbyshire hat es auch gelesen und gemocht.
Und Tilman Rammstedt hat Max Frisch gelesen und nicht gemocht. Hihi.

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