David Grossman (Anne Birkenhauer): Eine Frau flieht vor einer Nachricht

25. August 2010 | von

Das zweite Kapitel fängt so an:
Stotternd schlängelte sich die Kolonne aus Zivilfahrzeugen, Jeeps, Militärkrankenwagen, Panzern und riesigen Bulldozern auf Transportern dahin. Der Taxifahrer, mit dem sie fuhren, war still und grimmig, seine Hand lag auf dem Schaltknüppel des Mercedes, sein breiter Nacken bewegte sich nicht, und schon mehrere Minuten hatte er weder sie noch Ofer angeschaut.
Bereits beim Einsteigen hatte Ofer wütend die Luft durch die Lippen gepresst, und sein Blick sagte, das war aber eine tolle Idee, Mama, ausgerechnet ihn für diese Fahrt zu rufen, und erst da begann sie etwas zu begreifen – um sieben Uhr früh hatte sie Sami angerufen, er möge bitte kommen, er solle sich auf eine lange Fahrt einstellen, in die Gegend des Berges Gilboa.

Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Die Frau heißt Ora, und eigentlich wollte sie mit ihrem erwachsenen Sohn Ofer zusammen eine Wanderung durch Galiläa machen, eine Woche lang, zur Feier seiner Entlassung aus der Armee. Jetzt muss Ofer aber doch noch mal hin, in den Krieg. Und Ora flieht, sie flieht vor der Nachricht, dass er gefallen ist. Von dem Moment an, da Ofer nicht mehr zu Hause ist, hält sie es dort nicht mehr aus, weil sie dauernd damit rechnen muss, dass „sie“ kommen, um ihr diese Nachricht zu überbringen. Zum Überbringen einer Nachricht gehören aber immer zwei: einer, der sie überbringt, und einer, der sie empfängt. Wenn Ora einfach nicht da ist, dann kann die Nachricht auch nicht überbracht werden. Sie beschützt ihren Sohn sozusagen, indem sie nicht da ist. Und so macht sie die geplante Wanderung trotzdem, und zwar zusammen mit ihrem Jugendfreund Avram. Und auf dieser Wanderung reden sie miteinander.
Es geht um eine Frau zwischen zwei Männern, und mit zwei Söhnen noch dazu, also sozusagen zwischen vier Männern, und um die komplizierten Beziehungen zwischen diesen fünf Personen – eine sehr intime, persönliche, familiäre Geschichte, in der sich aber die große Politik spiegelt. Anders gesagt: in der der ewige Krieg in Israel, wie wahrscheinlich in den meisten israelischen Familien, eine furchtbare Rolle spielt und die Beziehungen und die Leben aller verändert. Und es geht um Leidenschaft, ebenso um leidenschaftliche Liebe wie um leidenschaftliche Angst, um sich selbst und um andere, bis zur völligen Unvernunft und Panik.
Es ist grausam und grauenhaft, natürlich, und es ist wahnsinnig gut. Ein sensationelles Buch, unglaublich intensiv, 728 Seiten lang, und zwar große und sehr vollgeschriebene Seiten, und es ist kein Wort zu viel. Ich habe ja normalerweise eher Angst vor so dicken Büchern, aber dies wurde mir keine Sekunde zu lang. Anne Birkenhauers Übersetzung ist, ich möchte fast sagen: makellos (Tippfehler zählen nicht). Ich ziehe tief meinen Hut vor dem Autor wie auch der Übersetzerin. Sie haben gemeinsam den Albatros-Literaturpreis bekommen, und David Grossman bekommt dieses Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, was mich wirklich freut. Und Euch lege ich dieses Buch ans Herz. Das ist ein Buch, das bleibt. Und das einen dankbar macht, in Frieden zu leben.
David Grossman bekommt einen Regalplatz zwischen Grimmelshausen und Klaus Groth.

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