Ein jeder Mensch ist ein Abgrund

6. September 2010 | von

Ferdinand von Schirach, Schuld, 2010

Es ist eine verbreitete Vorstellung, der Mensch werde gelenkt wie eine Marionette. Irgendwo, unsichtbar, hinter den Kulissen, sitze der Puppenspieler und lasse den einen stolpern, den anderen lachen, zwei jagen einander von rechts nach links, und wenn es dem Puppenspieler gefällt, lässt er einen die Hand heben, und ein anderer liegt still auf der Bühne. Einen Moment bleibt das Publikum dann betroffen sitzen und schweigt. Im nächsten kommt schon die Polizei, es wird geschäftig, Staatsanwälte klagen an, Strafverteidiger treten auf, und schließlich fällt der Richter ein Urteil. Das Puppenspiel über ein Verbrechen mag vorbei sein in diesem Moment. Über den Puppenspieler aber haben wir nichts erfahren. Das Verbrechen, den Mord, das Böse, wenn man so will, können wir sehen. Was es ist, sehen wir nicht.

Auch aus Ferdinand von Schirachs zweitem Buch (nach dem letztjährig erschienen Erstling Verbrechen des Charlottenburger Rechtsanwalts) erfahren wir nicht, was es ist, das den einen morden lässt und den anderen nicht. Über die Motive spricht von Schirach, das sicher. Die feinen Schattierungen zwischen Schuld und Unschuld, Schicksal und Zufall, Verhängnis vielleicht. Von der über Jahre misshandelten Frau, die sich von ihrem monströsen Ehemann befreit, als dieser ankündigt, das gemeinsame Kind anzugehen. Die Kindsmörderin. Ein bizarres Durcheinander von Kriminellen in der Unterwelt von Berlin, und ein paar rätselhafte, verstörende Geschichten, von denen wir nur Fetzen erfahren wie die, von denen man manchmal träumt, um verschwitzt und mit klopfendem Herz zu erwachen.

Etwas Marionettenhaftes werden den Protagonisten aller, nach eigener Aussage des Autors verfremdet aus seiner Praxis gegriffenen Geschichten nicht los. Sei es, dass die extrem verknappten, lakonischen, wohl ebenso vom juristischen Stil wie von einer Neigung zu manchen Amerikaner, Carver vor allem und Hemingway, geprägten Erzählungen eine gewisse Distanz schaffen, die gerade dort auffällt, wo Schirach sie mit einigen literarisierenden Sätzen zu überbrücken versucht. Doch wir kommen den Figuren nicht näher. Ein Abgrund von Fremdheit klafft zwischen den handelnden Personen nicht weniger als zwischen ihnen und uns. Eine kalte, klare Luft weht durch die kurzen Geschichten.

Gut lesbar sind Schirachs kurze Erzählungen. Man gewöhnt sich schnell an die harte Oberfläche der klaren Sprache, die manchmal, in ihren besten Momenten, etwas Metallisches gewinnt, nicht ohne Eleganz, das in der deutschen Gegenwartsliteratur selten ist, weil die Deutschen seit dem Krieg einen merkwürdigen Sonderweg beschritten haben mit ihren Büchern. Sicher profitiert der Autor von unser aller Voyeurismus, einer Faszination, die der Pitaval ebenso bedient wie das Vermischte in der Zeitung ganz hinten. Vielleicht aber reizt uns auch neben dem Puppenspiel über Blut und sinistre Sensationen der Puppenspieler selbst, die Ahnung der Wahrheit über die Herkunft von Gut und Böse, und der betroffene Blick auf die eigenen Glieder, wo denn die Schnüre wohl seien, an denen jener uns lenkt.

3 Responses to “Ein jeder Mensch ist ein Abgrund”

  1. kaltmamsell Says:

    Schreibt Herr von Schirach auch über Motive, die zum Schwerverbrechen führen, ein Buch aufgeklappt auf den Bauch abzulegen? (weinend ab)

  2. Modeste Says:

    Ich bin bekennende Buchmisshandlerin, deren Bücher voller Ecken sind, verziert mit Fettflecken, aber sehr geliebt.

  3. Anselm Says:

    Liebe Modeste, hoffentlich macht Ihr Satz nicht in anderen Zusammenhängen Schule. Bekennende Misshandler, die von Liebe reden, machen mich würgen.