Archiv für Dezember 2009

Der Dunst von Indochina

14. Dezember 2009 | von Modeste

Diese Ungeheuerlichkeit, ein Land nicht einfach zu kaufen, sondern sich zu nehmen, gleichsam aufzuessen und als eigenes Fleisch am eigenen Körper zu tragen. Kleine Beamte aus der Provinz zu Herrschern zu machen, und mit ihnen Frauen zu senden, mit den Frauen Kinder, mit den Kindern Lehrer und all das, was man vermisst, wenn man am Ende der Welt in einem viel zu großen Haus ein viel zu fremdes Land regiert.

Das Land aber lässt sich nicht verdauen, und so wird Indochina nicht ein fernes, wärmeres Frankreich, sondern etwas ganz, ganz anderes, und im Dunst über dem Mekong, in den geschäftigen, schmutzigen Straßen Saigons entsteht eine eigene, unendlich flirrende Welt, über die man uns Schlechtes erzählt, und die wir uns doch schön vorstellen, träge und elegant: Staubige Straßen, Reisfelder, Bambus, Seide und lächelnde Diener. Die Schmerzen sehen wir nicht.

Die Liebe aber bleibt sichtbar. Vielleicht gerade, weil es eine kühle, ihrer selbst kaum bewusste Liebe ist, die die alte Marguerite Duras beschreibt, denn sie, die fünfzehnjährige Tochter der verwitweten Schulleiterin von Sadec ist keine Romantikerin, und was sie mit dem viel älteren, reichen Chinesen verbindet, ist mit S*x zwar nur ungenügend beschrieben, aber Liebe, Liebe in des Wortes reiner Bedeutung ist es nicht. Ein reines Utilitätsverhältnis aber mag man die Liaison auch wiederum nicht nennen, denn mehr als Geld und Lust und Hunger nach dem, was man so Leben nennt mit 15, liegt in der warmen, feuchten Luft dieses Romans, der 1984 erschienen ist, aber in den späten Dreißigern spielt, als die Herrschaft Frankreichs über diesen Teil der Welt schon müde geworden ist, und die Risse im Gebälk tief und sichtbar.

Dass es der Duras gelingt, eine Liebesgeschichte zu schreiben, deren männlicher Protagonist nicht begehrenswert erscheint, ein kraftloser, nicht einmal schöner Sohn, ist eine Kunst und zwar keine geringe. Ganz allein um das Mädchen kreist die Erzählung, die wie zum Hohn “Der Liebhaber” heißt, als ginge es nicht allein um die Seele des Mädchens, die sich seiner schwächlichen Liebe nicht ergibt: Wie ein Baum einen prächtigen Parasiten tragen kann, eine blühende, tödliche Orchidee, die schillert und wuchert und ihm den Lebenssaft nimmt, so trägt der chinesische Bankierssohn die Liebe und das Begehren des Mädchens auf seinem schmächtigen Körper, und bisweilen erinnert – bei allen Wüsten der literarischen Distanz – dieser Bericht über Leidenschaft und Kälte der eigene Seele an Stendhal, und wie bei jenem liegt unter der gläsernen Klarheit des Wissens um die Regungen des eigenen Ich eine zweite, feine, silbrige Membran, in der sich eine zweite, schwärzere Geschichte spiegelt, die die Duras nicht aufschreibt, und die sich doch erzählt.

Der Stil freilich hält auch mit geringeren Konkurrenten nicht Schritt. Assoziativ malt die Duras Pinselstriche, Tuschezeichen, ein paar Sätze lang und bisweilen rankend ins Entlegene. Ein längeres Buch hätte an diesem Makel gelitten, doch wenn der Chinese lange Jahre später am Telephon über seine Liebe spricht, sind noch keine 200 spärlich bedruckte Seiten vorbei, und wir verlassen Madame Duras mit dem verlegenen Lächeln der Ertappten, auch wenn wir kaum wissen, warum.

Marguerite Duras
Der Liebhaber
1984