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Die Leiden des jungen Werktätigen

27. June 2011 | von Anselm Neft

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces  (Penguin Books 1983)

Er ist über dreißig und wohnt bei seiner Mutter. Sein Zimmer ist ein Schweinestall, sein Körperumfang und seine Fresslust eine überambitionierte Hommage an Thomas von Aquin. Er donnert in wallenden Flanellhosen und mit einer grünen Jägermütze durch das New Orleans der 60er Jahre und er hasst die Moderne, wobei er den Begriff „Moderne“ weit fast: Mindestens bis in die Renaissance. Er verachtet Protestanten, die Psychoanalyse, Lohnarbeit, Homosexuelle, fremde Völker, Heterosexuelle, das eigene Volk, das Kino, das Fernsehen, die Werbung und sowieso beinahe alles und jeden. Sein von deftiger, hekatombenweise vertilgter Speise strapazierter Pylorus verschließt sich periodisch, seiner Diagnose zufolge als Antwort auf einen entsetzlichen Mangel an „proper geometry and theology in the modern world“, nur um sich dann als Schleuse für gewaltige Winde zu öffnen: Ignatius J. Reilly  – eine Ein-Mann-Armee gegen alles, was sein gottgegebenes Recht auf Ruhe, Müßiggang, Feingeistertum, Kauzigkeit und Völlerei streitig macht.

Wer einen solchen Typen einfach nur doof, langweilig und ekelhaft findet, wird an dem Anfang der 1960er Jahre vollendeten Buch vermutlich wenig Freude haben. Auch sollen bitte solche Literaturfachleute ihre Finger von dem Roman lassen, die U und E so trefflich zu scheiden wissen und Humor für ein Kennzeichen des Trivialen halten, zumal wenn er sich nicht darauf beschränkt „so fein- wie hintersinnig“ zum „Schmunzeln einzuladen aber zugleich nachdenklich zu stimmen“.

Alle anderen sollten zugreifen: Einen derart saftigen Protagonisten in einer derart hanebüchenen und lebensprallen Story bekommt man nur ganz selten geboten. Ignaz J. Reilly verhält sich zu Anti-Helden wie dem Herrn Lehmann oder den Ich-Erzählern der geschätzten Herren Strunk und Schamoni wie eine den Klimawandel herbei flatulierende Büffelherde zu den lauen Lüftchen aus dem Gesäß eines farblosen Molches.

Der Ärger für Ignaz beginnt, als seine besoffene Mutter ihr Auto gegen eine Veranda fährt: 1020 Dollar Schaden. Die Witwenrente reicht nicht: Ignatius muss – trotz fulminanter Proteste – arbeiten gehen. Er verdingt sich als Angestellter bei „Hosen-Levy“, zettelt aus purem Eigennutz einen Aufstand der schwarzen Arbeiter an, findet sich als Würstchenverkäufer im Piratenkostüm wieder,  versucht eine subversive Schwulenpartei für seine Zwecke zu nutzen und landet über den Handel mit pornografischen Bildern im Rotlichtmilieu, wo ihn der winidge Wachmann Angelo Mancuso belauert. Nebenbei versucht er ein Standardwerk über „Die Leiden der jungen Werktätigen“ zu verfassen, liest in den fünf Büchern „de consolatione philosophicae“ seines geschätzten Boethius’ – jenem spätantiken römischen Philosophen und zu Unrecht in einer korrupten römischen Zivilisation verurteilten Christen – und schreibt sich pompöse Briefe mit einer ehemaligen Kommilitonin. Myrna Minkoff (er nennt sie meist „the minx“) scheint das genaue Gegenteil von Ignaz: weltoffen, liberal, feministisch und Beatnik in New York City. Sie konfrontiert ihn mit psychoanalytischen Interpretationen seiner ödipalen Sexualneurose, er bezichtigt sie der Blasphemie und einer dem Zeitgeist geschuldeten Verblödung. Es ist jedoch nicht zu überlesen, dass die beiden sich gegenseitig in ihren Briefen zu beeindrucken und gerade durch das Mittel der Provokation näher kennen zu lernen versuchen. Ihr tatsächliches Wiedersehen ist zugleich komischer und tragischer Höhepunkt dieser menippeischen Satire.  

Neben dem wundervollen Protagonisten und seinen aberwitzigen Konflikten mit Mutter, Minx und Markt liegt der völlig eigenständige Zauber dieses Romans in den vielen durchaus überzeichneten, aber liebevoll und bis in den Dialekt hinein facettenreich dargestellten Charakteren sowie in einer intensiven und detailreichen literarischen Begehung von New Orleans in den Swinging Sixties.

Toole schrieb zwei Bücher in seinem Leben: The Neon Bible im Alter von 16, A Confederacy of Dunces im Alter von 26. Jahrelang wollte kein Verlag die Geschichte um den wilden Ignaz veröffentlichen. Toole erkrankte an Depressionen und Paranoia. Im Alter von 31 Jahren reiste er zum Haus der verstorbenen Autorin Flannery O’ Connor, deren Southern Gothic Fiction er sehr verehrte. Danach tötete er sich durch Autoabgase.

1980 gelang es Thelma Toole, seiner Mutter, das Buch durch Walker Percy in dem kleinen Wissenschaftsverlag Lousiana State University Press veröffentlichen zu lassen. Ein Jahr später gewann es den Pulitzer Preis und wurde ein in 18 Sprachen übersetzter Millionen-Erfolg.

Wiedergelesen: Hermann Hesses “Demian”

2. March 2011 | von Anselm Neft

Als ich „Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend“ zum ersten Mal las, muss ich siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen sein. Das Buch gefiel mir. Eingestandenermaßen fand ich mich in dem überlegenen, non-konformistischen Außen- seiter Demian wieder. Unein- gestandenermaßen in dem verklemmten, naiven Bürgersohn Emil. Mir gefiel das okkulte Geraune, die Suche nach dem eigenen Wesenskern und die Idee, dass Licht und Finsternis zu einer Ganzheit versöhnt werden wollen. Trotzdem erschien mir auch irgendetwas an der Novelle zwielichtig, ohne dass ich genau hätte sagen können, was.

Vor ein paar Wochen habe ich den Demian noch einmal gelesen. Vermutlich ging es mir darum, das Hesse-Bashing in meinem Umfeld nicht einfach nach zu plappern, sondern mir anhand zumindest eines Werkes eine eigene Meinung zu bilden. Um das nicht gerade spannende und der eigenen, insgeheim angestrebten Profilierung (Ha, Hesse ist besser als alle sagen, und ich hab’s rausgefunden!) wenig dienliche Ergebnis vorweg zu nehmen: Hesse schreibt wirklich schlecht. Ich habe mich während der Lektüre mehrfach intensiv geschämt: Für Hesse, für mich, für Erwachsene, die Hesse als Lieblingsautor nennen.

Hesse hat „Demian“ im Herbst 1917 als Vierzigjähriger innerhalb von drei Wochen geschrieben. Er benutzte das Pseudonym Emil Sinclair, unter anderem, da er den jugendlichen Stoff unter einem frischen Namen präsentieren wollte. Hermann Hesse galt schon als etabliert.

Im Sinne der vedantisch-hinduistischen Verkündigung ”tat tvam asi” (Hesse neigt hier vermutlich am ehesten der Vishihtadvaita-Interpretation zu) sind alle Personen denen der Icherzähler begegnet zugleich Teile seines Selbst. Die Einzelseele ist die Weltseele, und nur in der Verblendung existiert eine Trennung, vergleichbar mit derjenigen von Eiswürfeln in einem Glas mit Wasser, die ihrer Substanz nach auch nichts als Wasser sind. Trifft Emil also den skrupellosen Kleinkriminellen Kromer, dann trifft er zugleich das „Böse“ in sich. Trifft er auf Demian, so trifft er seinen eigenen inneren Führer. Trifft er auf dessen Mutter Eva, so hat ihn seine jungsche Anima am Wickel.

Um das Ganze noch etwas zu verkomplizieren, gibt es auch noch eine Proto-Anima namens Beatrice (Dante winkt erhaben aus der Ferne) und einen zweiten Psychopompos namens Pistorius. Und am Ende wird es dann vollends mystisch und zugleich multi-erotisch , wenn der im ersten Weltkrieg sterbende Demian dem Ich-Erzähler einen Kuss von Eva aufdrückt.

Wer nun vermutet, dass alle Charaktere außer Emil eindimensional und ohne Entwicklung präsentiert werden, liegt ebenso richtig, wie diejenige, die mutmaßt, dass sich die Novelle konstruiert und obendrein unangenehm autobiographisch liest. Zu diesen erzählerischen Schwächen gesellt sich eine Sprache, die oft Großes und Tiefes behauptet und selten etwas wirklich zeigt und nachvollziehbar macht. Hesses Stil ist geschwätzig, pastoral und neigt zum Sentimentalen. Eine typische Passage: „Ich sah Heimat und Elternhaus, Vater und Mutter, Schwestern und Garten, ich sah mein stilles, heimatliches Schlafzimmer, sah die Schule und den Marktplatz, sah Demian und die Konfirmationsstunden – und alles dies war licht, alles war von Glanz umflossen, alles war wunderbar, göttlich und rein, und alles, alles das hatte – so wusste ich jetzt – noch gestern, noch vor Stunden, mir gehört, auf mich gewartet und war jetzt, erst jetzt in dieser Stunde, versunken und verflucht, gehörte mir nicht mehr, stieß mich aus, sah mit Ekel auf mich! Alles Liebe und Innige, was ich je bis in fernste, goldenste Kindheitsgärten zurück von meinen Eltern erfahren hatte, jeder Kuß der Mutter, jede Weihnacht, jeder fromme, helle Sonntagmorgen daheim, jede Blume im Garten – alles war verwüstet, alles hatte ich mit Füßen getreten!“

Ob ein solcher Stil schon damals wie das Reden eines engagierten, aber nicht sonderlich schlauen Gemeindepfarrers wirkte, oder erst durch die spätere Aneignung eben solcher Gemeindepfarrer in jenen Ruf gekommen ist, weiß ich nicht zu entwirren, möchte aber darauf verweisen, dass Thomas Mann den Demian als Buch von „elektrisierender Wirkung“ lobte, das „mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf“. Es kann vermutet werden, dass „Demian“ in Thema, Erzählstruktur und Stil in seiner Zeit frischer, vielleicht sogar experimentell wirkte.

Trotz der genannten Unerfreulichkeiten kommen Hesse mit Demian auch Verdienste zu: Es wird der Zeitgeist einer Sinnsuche eingefangen: Die Selbsterforschungen der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie als neue Heilsversprechen, importierte Versatzstücke aus Buddhismus und Hinduismus, Ausflüge in eine nur halb verstandene Gnosis, probeweises Aussteigertum am Monte Verità, die Ahnung einer großen Umwälzung, der Vorabend des ersten Weltkriegs, die Götterdämmerung des Bürgertums.

Auch werden existenzielle Fragen behandelt. In welchem Verhältnis stehen Konvention und Moral? Moral und Glück? Glück und Selbstverwirklichung? Wie soll sich der Mensch zum Problem des Bösen positionieren? Auf welche verschlungenen Pfade der Erkenntnis oder Verirrung führt uns unsere Sexualität, die beim Menschen immer mehr ist, als reiner Trieb, nämlich auch ein Schlachtfeld zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und den Bedürfnissen des Individuums? Und was ist überhaupt ein Individuum? Gibt es ein wahres, authentisches Selbst, oder handelt es sich dabei um ein ständig in der Konstruktion befindliches Gebilde aus Worten, Gedanken, Taten, Fremd- und Selbstzuschreibungen? Und wenn es dieses wahre Selbst gibt, das schließlich alle Gegensätze in sich vereint, was ist daran noch individuell? Ist es dann nicht längst zu einem Nicht-Ich geworden, zu Wasser, in dem nur die unerlösten, verblendeten Egos noch markant und unterscheidbar als Eiswürfel prangen?

Das sind interessante Fragen, und Hesse erscheint als aufrichtig Suchender, der eigene Erfahrungen verarbeitet. Das Problem sind die Antworten. Sie kommen zu schnell, zu oberflächlich, zu absolut. Sie klingen zu harmoniebedürftig, zu sehr nach Wunschdenken und Esoterik-Workshop. In der Pubertät und ihren Nachwehen mag einem Hesses Demian das Gefühl geben, verstanden zu werden: Die Zerrissenheit, die Suche nach einer dauerhaft tragfähigen Identität, das Misstrauen gegen das Althergebrachte, die Hoffnung auf eine Überwindung aller Gegensätze, gerade im Gebiet der verwirrenden und von Ambivalenzen durchzogenen Sexualität. So ist es zumindest mir gegangen, und Abraxas – der Gott, der gut und böse ist – blieb mir als durchaus sympathische Wesenheit in Erinnerung. In meiner heutigen Sicht hingegen erscheint mir Hesse mit seinem Demian in einer solchen Pubertät weitgehend steckengeblieben.

Im Herzen des Schreckens

19. December 2010 | von Anselm Neft

Thomas Ligotti:  Teatro Grotesco (Virgin Books 2008)

Hätten mich alle Geschichten des hier zu besprechenden Buches so fasziniert wie die erste („Purity“) und die letzte („The Shadow, the Darkness“) – ich hätte keine Rezension dazu veröffentlicht. Das, was für mich auf eine eng mit meiner Person verwobene Weise großartig ist, möchte ich nur mit den Wenigsten teilen. Vielleicht ist das egoistisch, vor allem aber  verbirgt sich dahinter die Sorge, dass unter den Augen Anderer die Magie geschwächt wird.

Ligotti wollte nach eigener Aussage stets nur ein Insider-Autor sein, und wenn man sieht, dass sein nicht mehr verlegtes Frühwerk hei Amazon für bis zu 200 € gehandelt wird, kann man vermuten: Es ist ihm gelungen.

Wie bei H.P. Lovecraft haben Ligottis Horrorerzählungen einen pessimistischen Überbau. Das Entsetzen ist nicht allein Reaktion auf singuläre Phänomene, sondern in letzter Konsequenz auf die Existenz selbst. Wer dieser “dunklen Gnosis” einmal teilhaftig geworden ist, kann, wenn überhaupt, nur noch durch ein Eingeständnis der Sinnlosigkeit und vielleicht eine zunehmende Identifikation mit dem Gräßlichen in der Monstrosität des Daseins ausharren. Hierzu ein Zitat aus den Erzählfragmenten „Sideshow and other stories“:

“I wanted to believe that this artist had escaped the dreams and demons of all sentiment in order to explore the foul and crummy delights of a universe where everything had been reduced to three stark principles: first, that there was nowhere for you to go; second, that there was nothing for you to do; and third, that there was no one for you to know. Of course, I knew that this view was an illusion like any other, but it was also one that had sustained me so long and so well — as long and as well as any other illusion and perhaps longer, perhaps better.”

In der Titelgeschichte heißt es: “It has always seemed to me that my existence consisted purely and exclusively of nothing but the most outrageous nonsense.”

Ähnlich wie Edgar Allan Poe nähert sich Ligotti der zersetzenden Einsicht in den Widersinn der eigenen Identität und die Widerwärtigkeit des Universums oft mit nüchterner Beobachtung und scheinbarer Rationalität. Auch der größte Irrwitz (wie z.B. die Fabrik in „The Red Tower“) wird mit einer gewissen Gelassenheit dargestellt: Vor dem Unausweichlichen erscheint jede Hysterie unangebracht.

Im Genre des Horrors gehört Ligotti zu den großen Stilisten. In seinen Mitteln limitierter als Poe, übertrifft er sprachlich Lovecraft mit Leichtigkeit. Dennoch neigt auch Ligotti in manchen Passagen zu einem lovecraftschen „Zuviel“. Zwar weiß er sich bei dem Gebrauch von Adjektiven auf das Nötige zu beschränken, aber beizeiten wiederholt er Gedankengänge und leicht variierte Beschreibungen recht häufig, ohne dass jedes Mal die vermutlich angestrebte Sogwirkung (im Sinne eines Thomas Bernhard, der neben Nabokov, Poe und Kafka zu Ligottis Vorbildern zählt) erreicht würde. Obendrein philosophieren die Ich-Erzähler (z.B. in der größtenteils fesselnden Geschichte „The Gas Station Carnivals“) hin und wieder etwas zu ungezügelt vor sich hin und schwächen damit leider die Wirkung der meist atmosphärisch äußerst dichten Erzählungen.

Neben seinem stilistischen Anspruch sowie seinem konsequenten und unbestechlichen Pessimismus, liegt eine weitere Stärke Ligottis darin, dass er moderne Arbeitsbedingungen thematisiert. Texte wie „My Case for Retributive Action” oder „Our Temporary Supervisor“ könnten mit dem Sub-Genre-Etikett “Corporate Horror” versehen werden. Auch die wiederkehrenden Darstellungen von Zirkeln erfolgloser Künsterlerinnen und Künstler bergen einen subtilen schwarzen Humor, der zusammen mit der gotischen Eleganz der ligottischen Phantasmagorien, deren inhaltliche Finsternis erträglich macht. Oder, um es mit Ligotti selbst zu sagen: „We may hide from horror only in the heart of horror.”

P.S.: Die Übersetzungen ins Deutsche sollen nicht besonders gelungen sein.

Die Einsamkeit der Träumenden

22. September 2010 | von Anselm Neft

Richard Yates: Revolutionary Road (Vintage Books 2009)

Ach herrlich. Endlich hat einmal alles geklappt: Mir wurde ein Buch empfohlen und ich habe es in Wochenfrist gekauft und dann tatsächlich auch gelesen, ganz, und obendrein so toll gefunden, dass ich dem Empfehlenden schon bald mehrere enthusiastische Mails schreiben musste – und wann passiert so etwas schon einmal?

Das 1961 erschienene „Revolutionary Road“ ist ein echter Knaller. Ein Buch, nach dessen Lektüre ich mich fragte, ob ich tatsächlich weiterschreiben oder den bei anhaltender Erfolglosigkeit auf 40 angesetzten Selbstmord auf dieses Jahr vorziehen soll. Menschen, die nicht selbst schreiben, kann das Buch ebenfalls in Richtung Selbstmord oder zumindest Scheidung bzw. Trennung motivieren. Kurzum: ein großartiges Buch.

Die Geschichte spielt 1955 in einem Vorort von Conneticut, und trotz des Zeit- und Lokalkolorits, haftet dem Geschehen nichts Antiquiertes oder Fernes an. Franklin und April Wheeler sind Anfang 30, haben einen Jungen und ein Mädchen, ein Haus, eine gute Gesundheit und durchaus etwas in der Rübe. Frank arbeitet in New York in einem drögen Bürojob, der ihn weder herausfordert noch ausfüllt. In Phantasien oder Gesprächen mit seinem alkoholkranken Kollegen erhebt er sich Tag für Tag über den Stumpfsinn der Tätigkeit und der Kollegen. April hat sich nur scheinbar in die ihr zugedachte Rolle als repräsentative Gattin, Hausfrau und Mutter gefügt. Sie trauert ihrer abgebrochenen Schauspielerkarriere nach und wagt sogar einen kleinen Neustart in einer lokalen Laienspielgruppe. Mit der Premiere des Stückes „The Petrified Forest“ beginnt der Roman, und es ist kein Zufall, dass wir gleich im ersten Kapitel einer Theateraufführung beiwohnen, die, zumindest was April angeht, vielversprechend beginnt und dann immer bemühter wird. Schließlich gleicht auch das Ehe- und Familienleben der Wheelers zunehmend einer hölzernen Inszenierung. Mit dem peinlichen Theaterabend und den Versuchen Franks seine Frau aufzuheitern, beginnt eine Ehekrise, die erst dann beigelegt scheint, als April einen kühnen Plan präsentiert: Raus aus der „spießigen“ Vorstadt, in der die Familien große Schilder wie „The Millers“ vor ihr Anwesen pflanzen, ab nach Paris. Weg von der oberflächlichen amerikanischen Konsumkultur, hinein ins alte, kultivierte Europa. Sie wird dort aufgrund ihrer Sprachkenntnisse als Sekretärin arbeiten, er soll dort seine wahre Berufung finden. Denn dass er zu Höherem geschaffen ist, daran besteht zumindest bei ihm kein bewusster Zweifel. Frank und April geht es gut, als sie sich ausmalen, wie sie ihrer Maklerin Mrs. Givings und dem befreundeten Paar Campbell eine Nase drehen und endlich sich und anderen beweisen, dass sie etwas Besseres sind. Wie der aus Konformität geborene Kampf gegen die Konformität endet, sei hier nicht verraten, auch wenn ich vermute, dass einige bereits die Verfilmung „Zeiten des Aufruhrs“ von 2008 kennen, die ich allerdings nicht gesehen habe.

Dieser aus heutiger Sicht nicht herausragend originell klingende Plot lebt von der absoluten Glaubwürdigkeit der Protagonisten, ihrer Motive, Dialoge und Handlungen. Die Charaktere werden seziert, aber nicht verraten. Yates’ Blick auf seine Figuren ist kühl, aber nicht lieblos, auch wenn er offenbar die meisten Sympathien für den in einem Irrenhaus untergebrachten Sohn der Maklerin zu haben scheint. Die Sprache des Romans ist zwingend, einfach, nie prätentiös und erzählt scheinbar mühelos etwas Trauriges und Wahres über das Leben zweier spezieller Menschen und der Menschheit allgemein. Der Handlungsaufbau ist makellos und mitreißend. Es gibt, anders als bei vielen „großen“ (männlichen) Autoren, keine Spur von Sexismus, Selbstgefälligkeit oder Geschwätzigkeit.

Richard Yates, der „Revolutionary Road“ im Alter von 35 Jahren nach seiner ersten Ehescheidung als sein Romandebut veröffentlichte, wurde früh ein Liebling der Kritiker- und Autorenschaft, verkaufte von den Hardcoverausgaben seiner Bücher aber nie mehr als 12.000 Stück. Schon vor seinem Tod geriet er zunehmend in Vergessenheit, ist aber heute bekannter als je zuvor, nicht zuletzt wegen eines leidenschaftlichen Aufsatzes von  Stewart O’Nan, der 1999 in der Boston Review erschien.

Nachtrag: Da ich das Buch sofort nach der Empfehlung haben wollte, habe ich das öde ummantelte “Buch zum Film” gekauft, und muss mir nun die Beschimpfung “Buch-zum-Film-Leser” gefallen lassen.

Johannes Freumbichler: Philomena Ellenhub.

31. May 2010 | von Anselm Neft

CIMG1054So, wie es seelentötenden Volksschlager und herzerfrischende Volksmusik gibt, so finden sich neben abgeschmackten Heimat-romanen auch kraftstrotzende.  ”Philomena Ellenhub” reiht sich unter die letztgenannten. Der   1937 erschienene „Salzburger Bauernroman“ wurde zwar vor Drucklegung vom Zsolnay-Verlag  behutsam von über 1000 auf etwa 500 Seiten gekürzt, verströmt aber immer noch eine Gemächlichkeit, die effizienzoptimierende Lebenszeitnutzer auf eine harte Probe stellt. Das ahnen Leserin wie Leser bereits beim Eröffnungssatz: „Die Landschaft, worin unsere Erzählung wurzelt, bildet ein Tal, flankiert von Wäldern, fast noch so dicht wie in den Zeiten, wo Hirsch und Eber darin hausten, und von Höhen bis über tausend Meter; doch weil das Gebirge dahinter Felsen aufweist, bis zu zwei- und dreitausend, nennt man es das „Flachland“.  Hier wächst die Protagonistin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heran. Zu Beginn des Romans ist Philomena aus dem stolzen Bauerngeschlecht der Ellenhuber zwölf Jahre alt. Die Eltern sterben und sie und ihre Geschwister werden auf unterschiedliche  Höfe und Handwerksbetriebe verteilt. Mena arbeitet sich beim protzigen Haginghofer und der strengen Haginghoferin vom „Kleinmensch“ zur „Kleindirn“ herauf.  Sie muss sich gegen Gehässigkeiten und Zudringlichkeiten erwehren, findet unter dem Gesinde Freunde, empfängt nachts am Fenster ihres Zimmers Liebhaber, bekommt ein Kind, muss es als Unverheiratete zur „Kinderkathl“ geben und sich nach einer neuen Stelle umsehen. Erst arbeitet sie beim schrulligen Ehepaar Kröll, dann beim gewitzten „Butterkönig“.

Gen Ende des Buches und vielleicht in der Mitte ihres Lebens kommt Mena zu der Einsicht, dass es „vernünftiger war, weniger am Leben teilzunehmen und es mehr zu beschauen.“ Bis dahin hat sie in der kleinen, abgeschlossenen Welt des Dorfes genug erlebt, um sich viele existenzielle Fragen zu stellen: Sie verliert ihr Kind, ihren Großvater und einige Geschwister an Krankheiten und Krieg. Ihr Geliebter, der Wilderer Toni, verendet an einer Schusswunde in ihrem gar nicht mal kitschigen Beisein. Der Ellenhuber Hof wird versteigert, ein Brand vernichtet große Teile des Dorfes, ein Ausflug nach Wien erweist sich als Ernüchterung: hier sind die Armen viel elender als die Armen im Dorf.

Bei all diesen Krisen bleibt Menas Leben erfüllt von Lebenslust und Vertrauen in einen guten Urgrund aller Dinge. Mena wird als starke Frau gezeichnet, die früh Verantwortung für sich und andere übernimmt, viel nachdenkt und versucht aus Fehlern zu lernen. Die Feste feiert sie, wie sie fallen, und dafür gibt es genug Gelegenheiten: Hochzeiten mit ausufernden Singspielen (das Buch führt etliche Liedtexte, teils in Mundart auf), kirmesartige Vergnügungen, Wiedersehen mit den Geschwistern oder den Wettlauf der Siebziger, in dem ihr geliebter Großvater die anderen Alten des Dorfes besiegt. Dieses Wettlauf-Kapitel zählt zu den vielen eindrücklichen Episoden des Romans. Eine anderes großartiges Kapitel lautet „die Versammlung“ und beschreibt eine politische Debatte in einem Gasthaus am Vorabend der Revolution von 1848. Revolutionäre, Reformer und Konservative liefern sich unter den Zwischenrufen der Bauern und Krämer ein Wortgefecht, das gleichzeitig lebensecht und exemplarisch wirkt und an literarische Großtaten wie Zolas „Germinal“ erinnert. In der Beschreibung des einfachen, harten und doch lustvollen Landlebens zeigen sich bei Freumbichler Parallelen zu Knud Hamsuns „Segen der Erde“. Allerdings ist es kein Wunder, dass Zola und Hamsun bekannter sind als Freumbichler. Zwischen die erstklassigen Passagen mogeln sich immer wieder weitschweifige, verzückte Naturbeschreibungen und betuliche Betrachtungen über Gott und den Lauf der Welt, die entweder Philomena in den Kopf gedichtet, anderen Figuren in den Mund gelegt oder gleich vom allwissenden Erzähler altväterlich zum Besten gegeben werden: „Es gibt keine andere Rettung: du selbst in dir selber, das ist das höchste Geheimnis und eine Kraft ohnegleichen. So geht auch, meines Erachtens, in tief verworrenen Zeiten ein Volk zum Bauerntum zurück, weil es instinktiv fühlt, dass hier der Weg führt zur wahren Weisheit. Ein Hauptstück dieser Weisheit liegt im Gesetz der Sonderung, das, wie alle großen Gesetze, göttlicher Natur ist. Diese Sonderung heißt: Arbeit und Genuss, Ruhe und Bewegung, Werktag und Feiertag, Jugend und Alter, Mann und Weib, Krieg und Frieden.“

Wer nun in Freumbichlers Roman eine beizeiten herzhaft-reaktionäre Sichtweise vermutet, liegt richtig. Die Unterschiede der Stände und der Geschlechter werden zwar nicht durchgängig als naturgegeben wahrgenommen, aber für Freumbichler waltet in allem ein gerechter Weltgeist, der jedem Menschen gleichermaßen Freude und Leid zuteilt, ganz unabhängig von Schicht, Einkommen und Geschlecht. Ein wichtiges Instrument dieses Weltgeistes ist „die Majestät des Todes. Sie war gerecht und traf jeden ohne Unterschied, den Reichsten wie den Ärmsten; sie war mitleidlos, Mitleid verträgt sich nicht mit Gerechtigkeit.“

Die Größe des Romans liegt darin, dass Freumbichler vor allem die Kleinen und Schwachen zu Wort kommen lässt und ihre Sichtweisen ernst nimmt: Kinder, Außenseiter des Dorfes wie den religiösen Halbnarren „Die Ewig-Gerechtigkeit“, das Atheisten-Kind „Schinder-Pelei“, den verarmten Kunstmaler Peregrin, den gesetzlosen Wilderer Toni, die zwielichtigen Brüder „die drei heiligen Schneider“ und natürlich vor allem seine weibliche Hauptfigur, die sehr liebevoll dargestellte Philomena Ellenhub.

Johannes Freumbichler, 1881 in Henndorf geboren, hat in seinen Ausführungen genau dieses österreichische Kaff vor Augen. Als lebenslang erfolgloser und im Ort belächelter Schriftsteller hätte er über die engstirnige Welt der Bauern und kleinen Kaufleute, der Frömmler und selbstherrlichen Gutsbesitzer Gift und Galle spucken können. Tatsächlich lässt er den Kunstmaler einmal über die Dorfbewohner sagen: „Tiere, die von der Macht des Geistes keine Ahnung haben! Aufrecht gehende, dressierte Tiere.“ Genau dieser Maler gibt jedoch sein Leben in einer bizarren Opferung, die das Dorf vor dem weiteren Wüten eines Brandes bewahren soll.

Thomas Bernhard notiert über Freumbichler, seinen Großvater, der sein ganzes Leben dem Schreiben unterordnete, in der autobiographischen Erzählung „Die Ursache“: „Alle meine Kenntnisse sind zurückzuführen auf diesen für mich in allem lebens- und existenzentscheidenden Menschen.”  Immer wieder trug sich Bernhard mit der Idee, Freumbichlers Roman, der 1937 den Förderpreis zum Großen Österreichischen Staatspreises und somit immerhin etwas Aufmerksamkeit gewann, erneut heraus zu bringen. Allerdings konnte er sich nie dazu durchringen.

Ignatz Hennetmair, ein Freund von Thomas Bernhard, zitiert den Schriftsteller in seinem Tagebuch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ mit den Worten: „Beim Weiterlesen habe ich schwache Stellen entdeckt. Alles ist viel zu schön, viel zu schön geschildert. Alles, was ich als scheußlich empfinde, findet mein Großvater schön”.

Kinderquälen als gesamtgesellschaftliches Phänomen

14. April 2010 | von Anselm Neft

414GCMCW7FL__SL500_AA300_Hans-Georg Behr: Fast eine Kindheit  (Eichborn, 2002)

Der Titel ist mehrdeutig. „Fast eine Kindheit“ legt zum einen nahe, dass wir es mit einer Autobiographie zu tun haben, die sich mit einer Kindheit, wenn auch nicht in ihrer chronologischen Gesamtheit befasst. Das „fast“ kann aber auch auf den autobiographischen Gehalt bezogen werden. Nicht nur, weil Erinnerungen unzuverlässig sind, sondern auch, weil Behr nicht durchweg im Sinn gehabt haben mag, eigene Erlebnisse exakt aufzuschreiben. Schließlich kann auch noch eine pädagogische Behauptung aus dem Titel heraus gelesen werden: Das, was das Kind hier erlebt, ist so von autoritärem Zwang und Traumata geprägt, dass von einer Kindheit, wie sie sein sollte, nicht gesprochen werden kann.

Behrs kindlicher Erzähler ist kein „Ich“ sondern ein „Man“. Die großbürgerliche Familie hat dem 1937 geborenen Jungen das „Ich-Sagen“ frühzeitig abtrainiert. Geschildert wird das Leben auf einem Gutshof in Österreich, die hierarchische Struktur von Familie und Arbeitswelt, die Bindung des Kindes an eine überforderte Mutter, die um die Reste ihrer musikalischen Karriere kämpft und nebenbei das Fehlen des Vaters, eines NS-Offiziers, durch Härte ausgleichen will. Geschildert werden auch die „antiklerikalen“ und „antifaschistischen“, aber gleichfalls prügelnden Großeltern, die bei aller Faszination unzugänglich und fern bleiben, sowie das vielfältige Personal der spätfeudalen Struktur. Wir lernen aus den Augen des Kindes Nazigrößen wie „Onkel Hermann“, „Onkel Josef“ und „Onkel Heinrich“ und die Hautevolee der damaligen Salzburger Musikwelt (Wagner, Furtwängler, Strauss)  kennen, erleben Bombenangriffe, Russenbesatzung und die scheinbare politische Kehrtwende nach der Kapitulation Nazideutschlands im Mai 1945, der Zeit, ab der das Kind beginnt zu stottern.

Das letzte Drittel des 360 Seiten langen Buches befasst sich vorwiegend mit der bedrückenden und durch und durch missbräuchlichen Atmosphäre, der das Kind in einem katholischen Internat ausgeliefert ist. Die Verquickung von Gehorsam, unterdrückter Sexualität, Sprachlosigkeit, Spitzeltum und alles durchdringender Verlogenheit wird auf manchen Seiten so greifbar, dass es dem Lesenden die Luft nimmt. Die Stärke der Schilderung liegt auch hier in der schlichten und vorurteilslosen Perspektive des Kindes, die Sprechweisen entlarvt, resistent ist gegen Pathos und intellektuelle Mätzchen und die für keine Ideologie oder Schwarz-weiß-Moral Partei ergreift, sondern nur für die unschuldigen Bedürfnisse eines Individuums.

Durch diese teilweise überaus unterhaltsame Distanz zwischen Kind und Umwelt, die natürlich der narrative Trick eines Erwachsenen ist, ergeben sich gerade bei radikal subjektiver Erzählhaltung Einsichten in überindividuelle Zusammenhänge.

Wer die Autobiographie von Thomas Bernhard liebt und mit Interesse einen Film wie Michael Hanekes „Das weiße Band“ gesehen hat, sollte unbedingt einen Blick in „Fast eine Kindheit“ werfen, auch wenn Behr in erster Linie Journalist und stilistisch mit Bernhard nicht zu messen ist.

Zum Schluss möchte ich drei Passagen des Buches wiedergeben, um dessen Stil zu illustrieren:

„Ein nur etwas geringerer Schrecken war das Krokodil. Bei seinem ersten Auftreten hatte es dieselbe Aufgabe wie der Schürzengeist, da es aber nur mit seinem langen Schnabel klapperte, fehlte ihm die letzte Gewalt, und man konnte es hassen. Es war auch wirklich sehr lästig. Oft tauchte es nämlich unvorhergesehen am Horizont des Kindes auf, auf der anderen Seite der Tischkante, und entriss ihm das Spielzeug, das gerade Seele angenommen hatte. Dann war meist wiederum Essenszeit, doch das Kind wollte nicht mehr essen. Das Krokodil wurde ein Feind erster Ordnung – ein Wort, das dem Kind aus dem Radio ins Hirn gefallen war – (…) nun war dem Krokodil der Krieg erklärt, und der musste bis zum Endsieg durchgekämpft werden.“

„Onkel Hermann grinste über das ganze Gesicht, das sehr viel war, und gab der Mutter einen sehr aufwendigen Handkuss (. . .). Dann näherte er sich dem Kind, fasste sein Kinn, drückte es ganz fest und zog ihm die Lefzen so hoch, dass es nur noch „Au!“ sagen konnte.“

 „Einmal hatte man vom Suderer einen fürchterlichen Anschiss und einen Pinsch bekommen, weil man auf die Frage, was Gott denn so tue, „er sitzt im Himmel und spielt“ geantwortet hatte. Er hätte doch seinen eigenen Sohn auf die Erde geschickt, damit ihn die Juden umbringen, und er hätte ihn als Juden auf die Erde geschickt, damit sie ihn umbrächten, und dann habe er die Juden verdammt, weil er gewusst hatte, dass sie es tun würden, weil er auch noch allwissend ist. So war es richtig, und es war so widerlich, dass der Junge am liebsten nicht an Gott dachte.“

Mehr als ein schlauer Mädchenstreich

25. February 2010 | von Anselm Neft

Helene Hegemann: Axolotl Roadkill CIMG1040 (Ullstein, Februar 2010, 2. Auflage)

Um 16 Uhr 30 wache ich orientierungslos in einen Bettbezug gewickelt auf und frage mich als erstes, ob man in so einem Zustand von sich selbst gelangweilt sein kann. Bin krank. Seit Wochen. Die Wohnung besteht aus Taschentüchern, Teebeuteln, Staubmäusen und dem gerade ausgelesenen Buch Axolotl Roadkill. Mir schwirrt der Kopf. Ich habe Gesichte.

Am Bettrand sitzt Helene und sieht mich aus kajalumränderten Augen an.

 

„Was meinst du?“, fragt sie.

„Nicht übel. Is’ schon Literatur. Oder zumindest Proto-Literatur.“

„Früher war das alles so schön pubertär hingerotzt und jetzt ist es angestrengte Literatur.“

„Es ist teilweise auch anstrengend zu lesen. Ich habe mich gefühlt, als würde ich ein paar Stunden mit einem sehr schlauen, belasteten Teenager verbringen.“

„I totally agree und frage trotzdem: Warum?”

„Sprichst du immer englisch, wenn du dich schämst?“

“Ach, I don’t care.”

“Nee, Helene, echt, is’ schon viel Interessantes dabei. Da ist also diese 16jährige Mifti, deren Mutter seit drei Jahren tot ist, Mifti, die nicht in die Schule geht, alle möglichen Drogen nimmt, viel halluziniert und reflektiert, rumlabert, vergewaltigt wird, mit ihren älteren Halbgeschwistern zusammenlebt, hin und wieder ihren aufgeblasenen Künstler-Vater anruft und in der 46 Jahre alten Alice einen erotisch aufgeladenen Mutterersatz und schließlich in der 28 also 36 Jahre alten Ophelia einen Ersatz-Ersatz sucht, was auch schief geht, Mifti, die sich zwischendurch einen symbolisch aufgeladenen Axolotl zulegt (Schwanzlurch, wird nicht erwachsen) und am Schluss noch mal Alice trifft. Mir gefällt das zum Lebensgefühl gewordene Misstrauen. Dieses gnostische Fremdsein in der Welt, in der Gesellschaft, im Körper und im eigenen Kopf.“

„Baby, was veranstaltest du denn für Scheiße hier?“

Wir schweigen eine Weile und schauen auf ein Stück Rindfleisch unter der Heizung.

„Aber ist es nicht etwas pietätlos, so zu schreiben, wenn die eigene Mutter wirklich tot ist?“, fange ich das Gespräch wieder an.

„Vater, Mutter, Kind. Warum ist dieses barbarische Familienmodell eigentlich nicht auszurotten?“, giftet Helene ohne rechten Elan.

„Du lenkst ab.“

„Alles in allem ist über mich zu sagen: Diese junge Frau spielt geschmeidig auf der Klaviatur der Elemente wie eine Gazelle mit Panzerfaust.“

„Das ist wieder so ein Satz. Halbdoof, aber auch lustig.“

„Diese sich verselbständigende Altklugheit muss ich mir dringend abtrainieren.“

“Och schade! Gerade die wirkt doch so erfrischend jugendlich. Weniger echt finde ich andere Stellen. Zum Beispiel lesen sich die Sex- und Drogenerlebnisse teilweise ein wenig…”

„Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.“

„Die Passagen sind also nicht alle von dir?“

„Nein von so nem Blogger.“

„Der Typ, der „Strobo“ geschrieben hat?“

„Airen.“

„Ist der sauer? Oder sagt er: Ich bin nicht sauer, nur enttäuscht?“

„Ich bin nicht so der Drüber-Rede-Typ.“

„Na immerhin hat der Hype um dein Buch auch seinem Buch Bekanntheit verschafft. Amazonranking 168 habe ich eben gesehen. Und Ullstein hat dem Kleinverlag SuKuLTuR ein paar Tausender rüberwachsen lassen. Das hat ja auch was Gutes.“

„Moral ist unintelligent. Sie greift zu kurz. Da ist man einfach zu schnell im Konsens. Das fällt mir jetzt spontan dazu ein.“

„Jaja, und „dein“ und „mein“ sind ohnehin nur bürgerliche Kategorien. Dabei kommt dein Text bestimmt hauptsächlich bei uns Bürgerlichen an. Es gibt ja diese Literaturgattung der „Lebensbeichte“, da können sich dann Oberstudienräte in Pforzheim durchlesen, wie das so ist auf dem Drogenstrich oder als Teilzeithure oder bei der wohlstandsverwahrlosten Jugend in Berlin. Und dann können sie den Kopf schütteln und sagen: Schlimm, schlimm, schlimm. Aber bei dir ärgern sich jetzt bestimmt ein paar Spanner, dass sie das für einen Erlebnisbericht gehalten haben. Ist das nicht ein seltsames Gefühl: Auf der einen Seite schön spießige Erwartungen durchkreuzen, auf der anderen Seite nicht über eigene Erfahrungen sondern aus zweiter Hand schreiben? 

 „Von mir selber ist überhaupt nichts, ich selbst bin schon nicht von mir.“

„Das ist von der Schauspielerin Sophie Rois, stimmt’s?“

„Keine Ahnung.“

„Trotz der Flickschusterei hast du einen eigenen Sound und klingst glaubwürdig verwirrt und angepisst. Deshalb gefällt mir das Buch, trotz aller Schwächen.“

„Ich habe mit zwölf einen ganzen Roman geschrieben, der nur aus Songtexten von Nick Cave zusammengeflickt war.“

„Immerhin Nick Cave und nicht Phil Collins.“

Helene scheint mir gar nicht zuzuhören. Sie starrt vor sich hin und schaukelt mit dem Oberkörper hin und her. Wie für sich selbst sagt sie leise: „Ich bin für den Rest meines Lebens behindert, und niemand kann was dran ändern. Für den Rest meines Lebens kann ich das Verhalten von Selbstmordattentätern nachvollziehen.“

„Tja, jetzt weiß aber keiner mehr, was Show ist und was nicht.“

„Kannst du dir vorstellen, wie megaaggressiv ich bin auf all die pseudoerfahrenen Scheißleute um mich rum, die noch nie mit irgendeiner wirklich ernsthaften Schwierigkeit konfrontiert wurden, außer vielleicht mit einer Rheumaattacke oder Trennungsschmerz?“

„Ja, aber wenn ich dich jetzt ernstnehme, zeigst du mit dem Finger auf mich und lachst mich aus. Das ist schlau, aber auch scheiße und damit schon wieder tragisch.“

„Ich lüge, weil ich eigentlich genau weiß, wonach ich mich sehne.“

„Lass uns über Sex reden.“

„Das ist krass uncool, Mann.“

„Ich habe das Gefühl, dass Sex für dich was Anziehendes und gleichzeitig Fieses ist. Auf der einen Seite sind erstaunlich viele Menschen im Buch scharf auf die zugedröhnte Mifti. Auf der anderen Seite wird Sex immer als brutal und einsam beschrieben.“

„Ich hab ein Problem mit Sex, weil Sex der bedingungslosen Liebe entgegenwirkt, die ich will, und nichts anderes ist als ein egoistischer, tierischer Trieb, der die Menschen, die ich liebe, als fremdgesteuerte Reflexbündel entlarvt.“

„Das würde Bischof Mixa freuen.“

„Dein Körper, der eigentlich nichts mit dir zu tun hat, hat dich besiegt. Manche empfinden das als absolute Erfüllung. Mir macht das aber einfach Angst.“

„Nicht nur dir. Aber vielleicht hast du in zehn Jahren normalen, gleichberechtigten, legalen, auf erfüllter Liebe basierenden Sex.“

„Sex ist ja immer ein gewalttätiger Akt.“

„Bitte Helene, lass das nicht das Schlusswort sein. Hättest du noch was anderes?“

„Wie wär’s damit: Ich persönlich würde mich wirklich freuen, wenn Sie als Publikum etwas Brauchbares finden, das über das Individuell-Psychologische der Autorin hinausgeht.“

Wir schweigen eine Weile. Vermutlich hat auch Helene das Gefühl, dass dieser Abschlusssatz zu glatt ist, zu anbiedernd. Sie steckt sich eine Zigarette an und denkt ein paar Züge lang nach.

„Ich habe dieses Jahr Höchststeuersatz“, sagt sie schließlich und lacht.

Überschätzte Bücher. Heute “Rituale” von Cees Nooteboom.

2. February 2010 | von Anselm Neft

Seit Jahren gellt’s in meinen Ohren: „Den Nooteboom – den musst du lesen. Den Nooteboom, den Nooteboom!“ So griff ich vor ein paar Wochen endlich vor einer Suppenküche in eine Wühlkiste und fischte „Rituale“ (Suhrkamp, Hardcover, übersetzt von Hans Herrfurth) heraus, ein Buch, dessen Titel mir Wohlmeinende beinahe wöchentlich einflüstern und das Nooteboom selbst als sein „opus magnum“ bezeichnet. Der Autor kann nichts dafür, dass die ständigen Lobgesänge meine Skepsis hartherzig werden ließen, wohl aber kann er etwas dafür, diese Härte nicht in Milde, die Skepsis nicht in Begeisterung überführt zu haben.

Erzählt wird die Geschichte von Inni Wintrop, einem Grachten-Casanova, Spekulations-Strolch und üppig erbenden Parvenü, der sich umbringen will, weil ihn seine Zita verlassen hat. Natürlich reißt der Strick.

Erzählt wird auch die Geschichte von Arnold Taads, einem Griesgram, der nur zu seinem Hund eine Art Beziehung unterhält, sein Leben auf die Minute genau durchplant und der am Ende natürlich wundervoll metaphorisch im Eis erfriert.

Erzählt wird schließlich auch von Philip Taads, der den Weltekel ebenso kultiviert wie der Herr Papa, sich dabei aber weit deutlicher dem Selbstekel und damit dem Asiatisch-Spirituellen öffnet. In einem weißen Raum sitzt er und brütet über japanischen Teeschalen und -zeremonien. Natürlich bringt auch er sich um. Natürlich zerbricht er vorher eine sehr kostbare Teeschale.

Inni Wintrop, der all dies sieht, während ihm ein allwissender und zu scherzhaften Bemerkungen aufgelegter Erzähler über die Schulter schaut, ist am Ende natürlich ein bisschen weiser und lässt fortan die Hände vom Strick: „Es gab somit unverkennbar zwei Welten, eine, in der die beiden Taads sich aufhielten, und eine, in der sie abwesend waren, und zum Glück befand er sich noch in der letzteren.“ Potzblitz.

Der Roman will viel und bringt wenig. Er ist ein wenig ein Sittengemälde des angeschlagenen Amsterdamer Bürgertums um 1960 und 1970, er ist ein wenig eine laien-philosophische Betrachtung über die Geworfenheit des Menschen in ein undurchschaubares Sein, dem man sich nun stellen oder entziehen, das man zulassen oder durch Rituale zu kontrollieren suchen kann. Auch geht es so ein bisschen um die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, das Verlogene des Narrativen, die wacklige Konstruktion von Sinn, um Angst vor dem Altwerden, holländisches savoir-vivre, Sex als unbewusste Sinnsuche und um anderes, was sich schick in einem so richtig literarischen Buch macht,  einem Buch von dem Reich-Ranicki sagen kann „Ein poetischer Roman, in dem die Erotik im Mittelpunkt steht.“ Aber das hat er ja auch schon über das halbseidene Murakami Bändchen „Gefährliche Geliebte“ verlautbaren lassen.

Die Charaktere sind am Reißbrett entworfene Pappkameraden, die Handlung konstruiert, die Sprache so, wie sie sein muss, wenn jemand mit viel Talent Autor spielt. Es handelt sich um einen Schein-Roman von einem Schein-Autoren geschrieben für Scheinleser und Scheinleserinnen.

Zum Schluss einige Auszüge:

„Durch Männer, doch das würde er erst sehr viel später sagen können, lernt man, wie die Welt ist, durch Frauen jedoch, was sie ist.“

„Die Bar war lang und dunkel, bestimmt für Börsenjobber und Provinzler, ein schlechtes Publikum, das zu spießig war, zu den Huren zu gehen, und zu knauserig, sich eine Freundin zu halten, und statt dessen im götterdämmernden Licht der schottengemusterten Bar auf den sehr großen, weißen Busen in Lydas Ausschnitt glotzte.”

Von innen bin ich völlig grün,  sagte sie regelmäßig.“

„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will…Ein Gedicht von Bloem hatte er auch noch gelesen, aber welches, das wusste er nicht mehr. Der Hund, dieses eigenwillige Tier, versagte in dieser Hinsicht völlig.“

Tiere sind straight. Tiere haben keine Slogans.“

Wem diese Auszüge gefallen, wer sogar einen tiefen Sinn darin erahnt, dem empfehle ich dieses Buch. Denn: Spaß macht es schon, wenn etwas nicht einfach schlecht ist, sondern eine gar nicht üble Imitation des Guten. Aber eben nur eine Imitation, in der jedoch, um es mit Cees Nooteboom oder Xavier Naidoo zu sagen, wie in jedem Schein ein Sein aufleuchten kann.

Aus dem Leben eines Luftikus

13. October 2009 | von Anselm Neft

Thomas Klupp: Paradiso (btv 2009)

Alex Böhm, Filmhochschulstudent in den 20ern, steht in der Sommerhitze auf einer Raststätte bei Potsdam und wartet auf ein Auto. Eigentlich will er nach München, um mit seiner neuen Freundin Johanna nach Portugal zu fliegen. „Eigentlich“, weil er auch Angst davor hat und gar nicht traurig ist, als sich die Dinge anders entwickeln. Die Mitfahrgelegenheit erscheint nicht, dafür ein ehemaliger Klassenkamerad („Loserkonrad“), der es geschafft hat: Tolles Auto, tolle Freundin, toller Job.  Die Begegnung bleibt eine Episode unter Episoden: Der Fernfahrer mit Messer und tschechischer Ehefrau, das pornophile Bikerpärchen, das antrainiert fröhliche Hippiemädchen, der Taxifahrer, dem Jana Hensel mit ihrem Roman „Zonenkinder“ die eigene literarische Karriere versaut haben soll und andere.

Böhm verhält sich auf seiner Reise in die bayrische Heimat immer nett, zustimmend, harmoniestiftend, hat dabei aber nur sich selbst im Kopf und macht sich aus dem Staub, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. In seinem langen, inneren Monolog offenbart sich mehr und mehr ein charakterloser Oberflächenmensch, der bindungslos durch ein in Parallelwelten zerfallenes Deutschland treibt.

Wer nun einen Autoren Anfang 30, einen Ich-Erzähler und als Erzählzeit das Präsens vermutet, liegt völlig richtig. Ein bisschen musste ich an Faserland denken, jedoch ohne königliche Tristesse, ein bisschen an Wäldchestag (auch wenn hier nicht die hessische sondern die oberpfälzische Provinz ins Visier genommen wird), ein bisschen an Ego und Ich und Kaminski, wenngleich Alex Böhm nicht ganz so offensichtlich als Karikatur angelegt ist wie die Protagonisten bei John von Düffel oder Daniel Kehlmann. Streckenweise bin ich Böhm auf den Leim gegangen und sehe darin eine Stärke der Figurenzeichnung.

Paradiso ist ein schneller Roman: Böhms Gedankenfluss zieht einen durch anfangs mehr später minder alltägliche Ereignisse, die in ihrer Bündelung und finalen Steigerung einen starken Sog entwickeln. Dabei bleibt Zeit für manche Kapriole: „Ich möchte ja insgesamt mit etwas mehr Liebe an die Welt und an die Menschen denken, jedenfalls an die Menschen, von denen ich glaube, dass sie mir etwas bedeuten. Mein kleiner Bruder zum Beispiel und eben auch Simon und Johanna  und Leni sowieso. Letztes Sylvester habe ich mir das offiziell vorgenommen. Auf einen Zettel habe ich geschrieben Believe in yourself/Write a movie/Think friendlier about yourself. Keine Ahnung, weshalb ich die Sachen auf Englisch notiert habe, vielleicht weil sie sich auf Deutsch so völlig verkorkst anhören…“

„Todkomisch, atemberaubend, genial“ und was der Lobesprüche auf dem Einband mehr sind – das ist dieses Buch nicht. Dazu geht das Konzept der Bloßstellung eines unzuverlässigen Ich-Erzählers zu wenig Risiken ein und schafft zuviel Distanz zur Hauptfigur und allen weiteren Charakteren. Die Tiefe eines Raskolnikoff, der im Buch erwähnt wird, kann die Figur des Böhm nicht für sich beanspruchen.

Aber Thomas Klupp ist ein guter Erstling über einen ehrlichen Lügner gelungen. Ein Buch, das viel Spaß macht und das ich hiermit als leichte, aber nicht unterfordernde Lektüre empfehle.