Autor-Archiv

Der Tod und das Mädchen*

3. July 2010 | von Kaltmamsell

Markus Zusak, The Book Thief

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Wenn ein Buch seit Jahren als Weltbestseller gelistet ist – braucht diese Welt dann überhaupt eine weitere Besprechung, noch dazu von einer gewöhnlichen Leserin? Sehr wahrscheinlich nicht. Aber, hey!, das hier ist Bloggen.

Eine Freundin des Mitbewohners hatte den Roman empfohlen: Ein australischer Autor schreibt eine Geschichte, die in den frühen 40ern im nahegelegenen Fürstenfeldbruck spielt – hörte sich attraktiv abgefahren an. Und stellte sich als ausgezeichnet gebaute und sehr gut erzählte Geschichte heraus.

Fürstenfeldbruck wird in The Book Thief zu Molching. In Deutschland scheint das bereits jeder zu wissen, ich nehme an, es steht auf der Übersetzung (die mich ohnehin sehr interessiert). Doch erst mal lernen wir im Prolog einen höchst auktorialen Ich-Erzähler kennen: den Tod. Er stellt sich vor, korrigiert ein paar Vorurteile über sich, gibt den scheinbar leichten und humorvollen Plauderton der Geschichte vor, und er führt ein typografisches Feature ein, dass sich durch das ganze Buch zieht: fett gedruckte, kurze erklärende Einschübe mit Überschrift, zum Beispiel

HERE IS A SMALL FACT
You are going to die

Sie werden später für Nebengedanken genutzt, Lexikonerklärungen, Fußnoten.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht – neben dem dem Tod – Liesel, die 1939 im Alter von neun Jahren von ihrer Mutter bei Pflegeeltern in Molching abgegeben wird. Sie ist ein verstörter und traumatisierter Mensch mit ungeheurer innerer Kraft. Der Roman erzählt ihre Geschichte hauptsächlich bis zu einer entsetzlichen Bombennacht 1943. Dabei lernen wir unter anderem ihre Arbeiter-Pflegeeltern kennen, die ruppige Rosa Hubermann und den sanften und zugewandten Maler Hans Hubermann, zudem den gleichaltrigen Nachbarsbuben Rudy Steiner, der auf den ersten Blick ihr bester und treuester Freund wird, den jungen jüdischen Mann Max, im Keller der Hubermanns versteckt, die eigenartig abwesende Frau des Bürgermeisters, die sich auf sehr besondere Weise Liesels Bücherhungers annimmt. Denn den hat Liesel, noch bevor sie richtig lesen kann, und er macht sie zur titelgebenden Bücherdiebin.

Schon mit dem Titel muss die deutsche Übersetzung mehr verraten als das Original: das Geschlecht der Hauptfigur. Die Geschichte ist durchzogen mit deutschen und bayrischen Wörtern, die immer wieder auch in Einschüben übersetzt und erklärt werden, die erwachsenen Figuren heißen alle Herr oder Frau statt Mr und Mrs.

Markus Zusak nimmt uns in eine Zeit und eine Gegend mit, die ich seit meiner Kindheit aus den Erzählungen alter Leute kenne: Hunger und Armut gehören zum Alltag, jugendliche Diebesbanden plündern Obstgärten, der Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Schichten ist hart und deutlich, der moralische Code rigide und unmenschlich. Und weil wir in Fürstenfeldbruck sind, sehen wir immer wieder Gruppen von jüdischen Gefangenen auf ihrem Fußmarsch nach Dachau.

Was mich besonders begeisterte: Endlich eine Heldin nach meinem Geschmack. Wir sehen einer 9- bis 14jährigen zu, die Fußball spielt, liest, hinguckt, ihre Freiräume genauso verteidigt wie ihre Lieben – notfalls mit Fäusten, die mal hilflos ist und mal entschlossen, mit schrecklichen Alpträumen ebenso fertig wird wie mit eigenartigen Erwachsenen.

Anfangs irritierte mich der zeitweilige Kinderbuchtonfall des Buches. Doch er funktioniert inhaltlich, vor allem wenn damit innere menschlichen Konflikte erklärt werden, zum Beispiel die Gewissenskonflikte von manchen Erwachsenen im 3. Reich. Wenn schon telling statt showing, dann lieber so deutlich markiert. Überhaupt gibt es fast keine personale Innensicht der Personen, fast alles wird durch Handlung gezeigt oder vom Erzähler erklärt. In dieser leicht märchenhaften Erzählweise (die an ein paar Stellen ziemlich dick aufgetragen ist) bereitet uns der Tod auch auf schreckliche Ereignisse vor; dass Rudy das Erwachsenenenalter nicht erreichen wird, erfahren wir zum Beispiel bereits kurz nach seiner Vorstellung, ebenso, dass die Bombardierungen durch die Alliierten die Szenerie der Geschichte zerstören werden.

Diese Mischung von Erzählweise aus dem 19. Jahrhundert (inklusive chirurgisch präzisem Druck auf die Tränendrüsen) und moderner Charakterisierung erinnerte mich sehr an John Irving; und vermutlich werde ich bei Schilderungen von verheerenden Bombennächten in Deutschland immer an Kurt Vonneguts Slaughterhouse Five denken.

Ob jetzt wohl ein Literaturtourismus nach Fürstenfeldbruck beginnt?

* Ich kenne die Presseberichterstattung über das Buch nicht, nehme aber an, dass jeder zweite Schreiber zu dieser Überschrift gegriffen hat.

Britisch-indisch Barock

17. June 2010 | von Kaltmamsell

Salman Rushdie, The Satanic Verses

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The Satanic Verses (1988) von Salman Rushdie ist eines der bekanntesten Werke zeitgenössischer Literatur – und gleichzeitig ein selten gelesenes. Wahrscheinlich ist der Grund für Ersteres auch der Grund für Letzteres: Der Roman brachte Rushdie die Fatwa des Ayatollah Khomeini ein, die Muslime aufforderte, ihn umzubringen. Verleger und Übersetzer wurden nicht nur mit Ermordung bedroht, sondern auch getötet (laut Wikipedia gibt es 38 mit dem Roman verbundene Todesopfer, unter anderem den japanischen Übersetzer) . Daraus schließt der Großteil der zur Unterhaltung lesenden Öffentlichkeit, dass es sich um ein komplett unspaßiges Pamphlet gegen den Islam handeln muss – und wer will das schon lesen?

Gehen Sie hin und lesen es: Der Roman ist hochgradig komisch, zudem quietschbunt, völlig wahnwitzig und sehr unterhaltsam. Vielleicht mögen Sie sich diese Folge der britischen Quiz-Show Have I got News for you? aus dem Jahr 1994 ansehen? Zum einen haben Sie dann eine geniale Show gesehen (wenn auch bei YouTube in miserabler Bildqualität), zum anderen ist einer der beiden Rategäste überraschend Salman Rushdie. Wenn sie erlebt haben, wie witzig und schlagfertig der Mann ist, glauben Sie mir vielleicht, was ich Ihnen über seinen berühmtesten Roman erzähle.

Doch erst mal ein paar Schläge zurückgerudert: Einfach wegzulesen ist The Satanic Verses nicht. Die Dichte der Geschichte, die barocke Vielzahl an Erzählsträngen, die vergnügte Verwurstung von ein paar Jahrhunderten Kulturgeschichte vertragen sich auch schlecht mit scheibchenweisem Lesen in immer nur wenigen Seiten vor dem Einschlafen. Der Roman ist in meiner Definition ein idealer Reise- oder Urlaubsschmöker: Gut 600 Seiten pralles Erzählen mit einem Ideenreichtum, aus dem andere fünf Bücher gebaut hätten. Wer den Irrsinn der ersten ca. sechs Seiten überstanden hat, wird mit einem einmaligen Leseerlebnis belohnt.

Der rote Faden der Geschichte schlingt sich um zwei muslimische Männer aus Indien: Den zum Britentum konvertierten Saladin Chamcha und den Bollywood-Star Gibreel Farishta. Gleich zu Beginn des Romans stürzen sie aus einem Flugzeug, das, wie wir später erfahren, von Terroristen in die Luft gesprengt wurde. Nachdem sie unverletzt an der englischen Küste landen, stellt der eine fest, dass ihm Teufelshörner und Bocksfüße wachsen, der andere muss damit fertigwerden, dass er einen Heiligenschein trägt. Diesen surrealen Elemente folgen noch viele weitere, wie ich sie aus allen Romanen Salman Rushdies kenne. Doch im Gegensatz zum magic realism der lateinamerikanischen Literatur setzt Rushdie sie nie beliebig oder als deus ex machina ein; sie machen die Geschichten und Figuren lediglich runder.

Weitere Erzählstränge drehen sich um die Erinnerungen einer alten Engländerin an ihre Jugend in Südamerika, um die Extrembergsteigerin Allie Cone und ihre jüdische Familie, um Träume, in denen der Prophet Muhammad und sein Leben eine Hauptrolle spielen, um das indische Bauernmädchen Ayesha und ihre religiösen Visionen, um einen unbenannten fundamentalislamischen Imam im Exil, um eine indische Emigrantenfamilie in London. In Nebenrollen ein toter schottischer Bergsteiger und ein stotternder indischer Filmproduzent. Unter anderem. Das meiste davon hängt zusammen. Schauplätze sind hauptsächlich London und Bombay. An einigen wenigen Stellen mischt sich ein heftig auktorialier Ich-Erzähler ein und äußert Überlegungen zum Fortgang der Handlung.

Als ich das Buch nach über 15 Jahren zum zweiten Mal las, hatte ich ebenso viel Vergnügen wie bei der ersten Runde, sah einige Bezüge zu Romanen, die ich seither gelesen habe (unter anderem zu John Irvings Son of the Circus und zum genialen White Teeth von Zadie Smith). Zudem erschienen mir viele Passagen prophetisch. Und ich war überrascht, wie wenige der popkulturellen Anspielungen sich überholt hatten. Ein epochales Kunstwerk.

Warum wir welche Geschichten gerne lesen

18. May 2010 | von Kaltmamsell

Angela Leinen, Wie man den Bachmannpreis gewinnt

Leinen_Bachmannpreis Es gibt Leute, die die Klagenfurter „Tage der deutschsprachigen Literatur“, vulgo den Bachmannpreis, leben und feiern wie andere Leute (viel, viel mehr Leute) die Fußballweltmeisterschaft – ein mir ausgesprochen sympathisches Spinnertum. Seit 2004 gehört auch Angela Leinen dazu, die ich als Autorin des Blogs Sopranisse kenne. Aus ihrem Blog weiß ich unter anderem, dass sie ganz besonders gerne und viel liest und dass es in ihrer jugendlichen Vergangenheit Walter Kempowski gab.

Das Ergebnis dieser beiden Interessen, Bachmannpreis und Lesen, ist ein Buch: Wie man den Bachmannpreis gewinnt. Angela Leinen hat eine Art Poetik geschrieben, aus der Perspektive einer Leserin und erfahrenen Bachmannpreisbesucherin. Und zwar in einem Tonfall, der gerade durch Leichtigkeit und Ironie verrät, mit wie viel Leidenschaft sie für diese Themen brennt.

Zwar richten ihre Tipps sich tatsächlich vor allem an dem Ziel aus, den Bachmannpreis zu gewinnen, doch formuliert sie durchaus allgemeine Handreichungen, wie und worüber sich gute Geschichten schreiben lassen. Hilmar Klute hat das Buch im Aufmacher der jüngsten Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung (leider nicht online) als Beispiel für die Umtriebe der Nichtexperten als Rezensenten genannt: „An der Entzauberung der Kunst wird also nicht allein im Internet gearbeitet.“ Was lediglich belegt, dass Herr Klute das Buch nicht gelesen hat: Es geht nicht um Entzauberung, sondern um Reflexion. Die Autorin bezieht sich dabei auf eine ganze Reihe namhafter Werke, die sich über das Entstehen von Geschichten Gedanken machen. Andererseits steht Hilmar Klute mit seiner Anmerkung in der guten deutschen Tradition des romantischen Geniekults: Sobald Kunst Können erkennen lässt, ist sie keine Kunst mehr. Und wenn ich an so manche ungelenke Inhaltsangabe denke, die die Süddeutsche Zeitung als Buchrezensionen verkauft, ist mir eine Angela Leinen mit ihrer ungeheuren Belesenheit und Analysefertigkeit deutlich lieber.

Angela Leinen schreibt über geeignete Stoffe für Bachmannpreisgeschichten, von A für „Arbeit, gute ehrliche“ über E für „Ex, Abrechnung mit der/dem“ und K für „Krankheit und Siechtum“ bis X für „XY ungelöst“ – zählt Folgen der und Beispiele für die Behandlung dieser Themen auf und schließt dies jeweils mit Stichpunkten zu Reizen und Risiken der Sujets ab. Sie lässt sich ebenso aus über die Perspektiven beim Erzählen und deren Auswirkungen, über Schauplätze, Motive und die Sorgfaltspflicht von Autoren. Dazwischen stehen Gastbeiträge von Menschen aus dem Literaturbetrieb, die also beruflich Kriterien für die Beurteilung von Geschichten haben, nicht nur als Leser. Kathrin Passig hat das Vorwort geschrieben und macht sich darin Gedanken über die Messbarkeit literarischer Qualität und die besondere Rolle, die dabei der Bachmannpreis spielt. (Wenn allein schon der Versuch einer Objektivierung von Beurteilungskriterien Entzauberung ist, dann hat Hilmar Klute allerdings doch recht. Aber dann ist die gesamte Literaturwissenschaft eine einzige Entzauberung.)

Ich hatte mich sehr auf das Buch gefreut und las es mit Genuss und Belehrung. Sehr schön fand ich unter anderem das Kapitel über Schauplätze (Venedig geht nur noch mit wirklich originellem Twist) und das kluge Nachdenken darüber, warum welche Sexszenen funktionieren und andere nicht. Manchmal passten die Überlegungen allerdings nicht ganz zum Buchtitel – vielleicht wäre das Buch runder geworden, wenn es die Gedanken zum Geschichtenschreiben völlig unabhängig vom Bachmannpreis formulieren hätte können.

Nebenher tauchen die ganzen 190 Seiten über als positive Beispiele ständig Bücher auf, die ich noch nicht kannte und umgehend lesen wollte. Seien Sie also gewarnt: Wenn Sie auf Angela Leinens Sicht anspringen, beenden Sie die Lektüre des Buches nicht nur mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, sondern auch mit einer ziemlich langen Wunschliste.

De puta madre

23. March 2010 | von Kaltmamsell

Junot Díaz, The Brief Wondrous Life of Oscar Wao

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Auf Seite 2 von The Brief Wondrous Life of Oscar Wao macht Junot Díaz klar, dass man sich nicht auf irgendein Buch eingelassen hat: Gleich nach dem ersten Umblättern gibt es die erste Fußnote – die die Hälfte der Seite einnimmt. Und gegenüber steht gleich noch eine. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Menge Leser das Buch an dieser Stelle augenrollend weglegen. Was ein Fehler wäre.

Ihnen entginge die Sprache, in der dieser 2008 veröffentlichte Roman erzählt wird: Eine Mischung aus Nordamerikanisch und dominikanischem Spanisch (ca. 97 zu 3), ausgesprochen mündlich (ab der Hälfte glaubte ich, den Text geradezu zu hören), ganz organisch. Leser, die überhaupt kein Spanisch können, haben mir übrigens versichert, dass sie das ebenso empfunden haben.

In umgekehrt chronologischen Kapiteln entsteht eine Familiengeschichte, die auf der Dominikanischen Republik beginnt und in New Jersey endet. Die zentralen Figuren sind Oscar Wao, der unglückliche und lebensunfähige Ultra-Nerd (der auch noch den Anschluss an das Nerdtum verliert, als Rollenspiele von Magic-Karten abgelöst werden), seine harte, und doch fürsorgliche Schwester Linda, seine furchteinflößende Mutter Beli und der Erzähler.

Junot Díaz lässt einen Erzähler präsent werden, der sich beim Schildern des Lebens von Oscar Wao und seiner Vorfahren aller Bildungseinflüsse bedient, die den handelsüblichen Nerd der 80er und 90er geformt haben: Popkultur (allem voran Lord of the Rings), Science Fiction in Pulp und Film, Mainstream-Comics von Marvel und DC, sonstige Grafic Novels (1). Aber auch griechische Mythologie taucht auf (der immer wieder auftauchende dominikanische Fluch Fukú wird zum Beispiel und durchaus nachvollziebar auf eine Stufe mit dem Fluch der Atriden gestellt), selbst ein wenig Latein. Diese Mischung ist unglaublich lebendig und wirkte auf mich kein bisschen aufgesetzt. Straßenslang auf der Basis unzähliger Anspielungen auf Popkultur kann erheblich besser sein als selbstgefälliger pubertärer Schwachsinn.

Ein Bonus sind die Fußnoten. Sie dienen keineswegs konstruierter Erzähltechnik, sondern fungieren als echte Anmerkungen: Sie erklären – in der Sprache des Romans und immer an passendem Anlass aufgehängt – die letzten 100 Jahre Geschichte der Dominikanischen Republik, vor allem die Trujillo-Diktatur. Der Roman funktioniert auch ohne diese Hintergründe, doch sie sind zu fesselnd erzählt, also dass man sie weglassen möchte. Auch wenn es vermutlich töricht wäre, sie als belastbare Geschichtsschreibung zu lesen.

Die besondere Sprachmischung von Junot Díaz (spricht man seinen Vornamen spanisch, also „Chunott“ aus?) kann man derzeit an einer seiner Geschichten nachlesen, die im New Yorker veröffentlicht ist.

(1) Nein, ich halte es nicht für Allgemeinbildung, diese Genres zu kennen oder auch nur zu erahnen, worauf sich die Anspielungen beziehen: 13 Jahre Zusammenleben mit einem fast ebenso waschechten, allerdings sozial kompatiblen Nerd haben bei mir tiefe Spuren hinterlassen.

Frühlings Erwachen im Bürgerkrieg

20. March 2010 | von Kaltmamsell

Ana Maria Matute, Doris Deinhard (Übers.), Erste Erinnerung

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Der Empfehlung unter meinen Gedanken zum Polnischen Reiter folgend habe ich mir Ana Maria Matutes Roman Erste Erinnerung von 1956 besorgt. Die deutsche Übersetzung (Doris Deinhard) ist seit Jahrzehnten vergriffen, so kam ich an ein schönes ausgemustertes Bücherei-Exemplar, Deutsche Verlagsanstalt 1965 (ein Hoch auf das Internet – noch vor 15 Jahren hätte ich mir gut überlegt, wie wichtig mir das Buch ist und sehr vielleicht eine Suche im Börsenblatt des Buchhandels aufgegeben, wahrscheinlich aber auf die Lektüre des Buches verzichtet).

Es ist die mittägliche Sommerhitze, die sich mir am stärksten eingebrannt hat. Matute findet immer neue Vergleiche und Metaphern für die lautlose Gewalt, mit der die spanische Sonne auf die Tage eindrischt. Erste Erinnerung erzählt aus der Ich-Perspektive der 14-jährigen Matia einige Monate aus der Zeit des spanischen Bürgerkrieges. Sie lebt in der Villa ihrer feinen und landbesitzenden Großmutter, Mutter tot, Vater ist wegen irgendwas mit dem Krieg nicht da. Die Geschichte setzt ein, nachdem Matia aus einem feinen katholischen (natürlich) Internat geflogen ist, wegen Widerborstigkeit. Am meisten erzählt Matia von ihrem etwa gleich alten Vetter Borja, dessen Name nicht zufällig an das Geschlecht der Borgia erinnert – er ist ein verschlagenes Biest, von dem sich Matia dennoch angezogen fühlt.

Der Roman erzählt von den Tagen, die mit ein wenig Privatunterricht und vielen Ermahnungen unterbrochen werden, von Ausflügen an den Strand, von geheimnisvollen Palastbewohnern und den Geschichten, die man sich über sie erzählt, von angestrengten Bandenkriegen, die Mädchen natürlich ausschließen, von Landarbeitern, die einfach verschwinden und als zerschlagene Leichen unter Felswändern wieder auftauchen. Die Geschichte mäandert und entsteht erst aus den vielen Versatzstücken von Matias Wahrnehmung – die meisten Zusammenhänge sind ihr selbst nicht klar. Gerade politische oder militärische Vorgänge bleiben völlig im Vagen – wie es eben ist, wenn der Erzähler weder involviert ist noch eine Vogelperspektive einnehmen kann.

Meisterlich gezeichnet ist vor allem die Innenwelt eines Teenagers, der zwar seine Regungen und Impulse registriert, sie aber überhaupt nicht einordnen oder kanalisieren kann und sich dadurch als hilfloses Opfer seiner Affekte fühlen muss. Matia weiß bis zum verheerenden Ende schlicht nicht, wie ihr geschieht.

Erste Erinnerung ist der erste Teil von Matutes Trilogie Die Krämer. Den zweiten Teil, Nachts weinen die Soldaten, habe ich umgehend bestellt. Wieder im Internet-Antiquariat.

Dörfliches Elend

6. March 2010 | von Kaltmamsell

Patrick Findeis, Kein schöner Land

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Sein Text hatte mir von allen Bachmann-Kandidaten 2008 am besten gefallen: Allein schon der Schauplatz heutiges Dorf, und dann die schlichte Sprache. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ich endlich den ganzen Roman lesen würde, dem er entnommen war.

Die Langstrecke hielt, was der Ausschnitt versprochen hatte: Dichtheit und Unverblümtheit, die weder tümeln noch romantisieren noch lamentieren. Ich hatte dieses süddeutsche Dorf sofort vor Augen, in dem fast keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, in dem aus jeder stillosen Fassade, aus jedem ungenutzten Schuppen, aus jeder angemoosten Eternitplatte, aus jeder handrenovierten Kapelle Leere und Sinnlosigkeit sprechen. Diese Details brauchte Findeis gar nicht zu erwähnen – ich dachte sie mir automatisch dazu, ebenso wie die Läufer im PVC-ausgelegten Korridor und das Eichengestell der Deckenlampe im Jugendzimmer.

Findeis zoomt sich aus einer Ferne heran: Im ersten Kapitel tauchen noch spanische Ortsnamen auf, jemand dort findet zwei Telefonnummern aus dem Dorf in seinem Adressbuch. Die zweite Ferne ist eine Stadt, von der aus ein zweiter Jemand sich auf den Weg zum Dorf macht. Mit ihm treffen auch wir ein.

Zunächst wirkt die Umgebung, in der erzählt wird, nur etwas langweilig – Land ohne Landleben halt. Dann kommen die Figuren immer näher, die jetzigen Enddreißiger werden ab ihrer frühen Kindheit, wenn auch nicht durchgehend chronologisch erzählt. Vier Männer aus diesem Dorf bilden das Gerüst der Handlung, nur einer hat in der Gegenwart der Erzählung noch regelmäßig Kontakt dazu. Die Geschichte entfaltet sie und ihre Fluchtversuche, webt das Netz der menschlichen Verbindungen: Die Dorfbewohner, die erst nach dem Krieg als Flüchtlinge hierher gekommen sind und nie ganz akzeptiert wurden; der Kleinunternehmersohn, der aufs Gymnasium durfte und seinen Grundschulfreund dadurch einsam zurückließ. Alle Figuren des Romans sind verlassen, ihre schlichten Versuche, sich Aussichten und Zukunft zu schaffen, scheitern wieder und wieder, bis sie mürbe von Unglück sind. Auf ganz banale Weise.

(Allerdings interessiert mich sehr, wie jemand das Buch liest, der keine süddeutschen Dörfer samt ihrer Jugend kennt.)

Joseph Wechsberg, Gerda v. Uslar (Übers.),
Forelle blau und schwarze Trüffel

14. February 2010 | von Kaltmamsell

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Natürlich habe ich mich ebenso wie Sie gewundert, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Doch als es bereits in der ersten der 17 Geschichten des Buches hieß, der Professor Internist habe im „neunten Distrikt“ Wiens gewohnt, verschwand die Illusion der Originalsprache – auch Anfang des 20. Jahrhunderts, als diese Szene spielt, war Wien in Bezirke unterteilt. Die jemand auf Englisch sehr wahrscheinlich „districts“ nennt. Das ist aber zum Glück die Stelle, die am deutlichsten als Übersetzung auffällt; sonst liest sich die autobiographische Vignetten- und Anekdotensammlung des Herrn Wechsberg wie ein deutsches Original.

Er wäre heute sehr wahrscheinlich ein Foodblogger, der 1907 geborene Herr Wechsberg, noch dazu ein guter. Und so musste ich bei der Lektüre von Forelle blau und schwarze Trüffel (erschienen 1953) sehr an das hoch geschätzte Büchlein von Herrn Paulsen denken. Joseph Wechsberg beginnt bei seiner Kindheit und der großen Abneigung gegen jegliche Nahrungszufuhr, mit der er seinen Eltern damals Sorgen bereitete. Später entdeckte er das Essen zu unserem Glück als Leidenschaft. Und so nahm er mich zunächst mit zu dem sonntagsmittäglich gedeckten Tafeln der besseren Wiener Gesellschaft. Ich zwinkerte Friedrich Torberg zu – der diese Szenen allerdings erheblich derber beschreibt.

Die Speisen seiner Studienorte Prag und Paris sind eigene Kapitel wert, später einzelne Lokale oder Speisen vor allem in Frankreich – immer aufgehängt an persönlichen Erlebnissen und den damit verbundenen Menschen, immer in angenehmstem Plauderton. Joseph Wechsberg nimmt seine sinnliche Wahrnehmung ernst, nicht nur beim Schmecken. Dem entsprechend werden Personen eingeführt, zum Beispiel:

Monsieur Raymond Thuilier war ein freundlicher, schnurrbärtiger Franzose, der aussah, als habe er soeben etwas sehr Angenehmes über sich gehört.

Am besten hat mir das Kapitel über die Bouillabaisse gefallen. Darin schildert Wechsberg, wo er die beste so benannte Fischsuppe seines Lebens gegessen hat: „Auf dem Vorderdeck der ‚Azay-le-Rideau‘ (…), als sie im Mittelmeer kreuzte.“ Zubereitet hatte sie „Étienne-Marcel, der pergamentgesichtige Zimmermann an Bord der ‚Azay-le-Rideau‘.“ Wechberg verdiente sein Geld auf diesem drittklassigen Kreuzfahrtschiff als Bordmusiker. Die sonstige Besatzung bestand aus Griesgramen, die sich in Anstellungen auf Luxusschiffen etwas zuschulden hatten kommen lassen, und nun auf dieser „schwimmenden Teufelsinsel der Gesellschaft“ arbeiten mussten. In vielen Details beschreibt Wechsberg, wie Étienne-Marcel seine Bouillabaisse zubereitete, nicht nur auf dem Schiff, sondern auch in seinem Zuhause in Marseille. Ich hätte sie nach der Lektüre des Kapitels nachkochen können – stünde nicht am Anfang der Zubereitung das Gebot, nicht etwa frischen Fisch zu verwenden, sondern allerfrischesten Fisch, buchstäblich direkt aus dem Meer. München – Meer?

Am ausführlichsten schildert Joseph Wechsberg eine Reise im Südwesten Frankreichs auf der Suche nach dem idealen Trüffelgericht sowie die Reise entlang aller damaligen Drei-Michelin-Stern-Lokale Frankreichs – inklusive Zubereitungsart der Spezialitäten, Beschreibung der Küchen und Nennung der bemerkenswertesten Weine.

Forelle blau und schwarze Trüffel hat mich in eine vergangene Epoche des Reisens und Essens (und der Verwendung des Worts „vorzüglich“) mitgenommen, ich fühlte mich wie in einem amerikanischen Film gleich nach dem Krieg. Nebeneffekt: Ich habe mir ganz fest eine Fressreise durch Frankreich vorgenommen.

Antonio Muñoz Molina, Der polnische Reiter

6. February 2010 | von Kaltmamsell

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So lange habe ich schon lange an keinem Buch mehr gelesen.

Der polnische Reiter wurde als El jinete polaco von Antonio Muñoz Molina geschrieben und von Willi Zurbrüggen ins Deutsche übersetzt. Von Muñoz Molina hatte ich fürs Studium Beatus Ille gelesen, das hatte mir gut genug gefallen, dass ich mehr von diesem Autor lesen wollte. Bis es tatsächlich dazu kam, vergingen allerdings 15 Jahre.

Antonio Muñoz Molina, Jahrgang 1956, gilt als einer der wenigen literarischen Vergangenheitsverarbeiter Spaniens, einer Nation, die erst jetzt, in der Enkelgeneration, anfängt, sich mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur so richtig auseinander zu setzen. Ich habe mir das immer mit der Natur von Bürgerkriegen erklärt: Die Gräben verliefen 1936 bis 1939 buchstäblich durch die Familien – und das nicht unbedingt aus ideologischen Gründen: Sowohl die eine also auch die andere kriegsführende Partei zog rekrutierend übers Land. Die einen nahmen den einen Bruder mit und ließen ihn für sich schießen, die anderen den anderen. In meiner ohnehin Geschichten-armen spanischen Familie wird sowas angedeutet; geredet wurde über den Bürgerkrieg nie. Die Wunden, die der spanische Bürgerkrieg innerhalb der Gesellschaft geschlagen hatte, waren vielleicht so tief, dass die Leute nach Ende der Franco-Diktatur (die, wohlgemerkt, durch den Tod des Diktators beendet wurde, nicht etwa durch ein politisches Aufbegehren) alle Chancen im Blick nach Vorne sahen und die Vergangenheitsverdrängung der Franco-Jahre begeistert weiterführten. Denn anders als erwartet, sprangen in der neuen Demokratie Spaniens aus den Schubladen von Schriftstellern nicht etwa massenhaft geheim gehaltene, regimekritische Manuskripte – da war nichts. Es dauerte eine ganze Reihe von Jahren, bis die Kunst soweit war, sich des Themas anzunehmen.

Am polnischen Reiter (erschienen 1991) las ich zum einen deshalb so lange, weil es ein sehr dickes Buch ist: 700 Seiten, kleine Schrift, lange Kapitel. Zum anderen aber, weil die Geschichte sehr dicht ist: Sie enthält praktisch keine weitschweifigen Beschreibungen, kein Vor-sich-hin-Gebrabbel, das ich absatzweise überflöge. Der rote Faden des Romans wird geknüpft aus einem Ort und einer Person: Dem fiktiven südspanischen Mágina und Manuel, der nach dem Krieg als Sohn von Feldarbeitern in Mágina aufwächst. Der Roman beginnt mit Liebesszenen zwischen dem erwachsenen Mann Manuel und der etwa gleichaltrigen Nadia; und immer wieder ziehen sie aus einem Koffer in der Wohnung, dem Koffer des örtlichen Fotografen Ramiro Retratista, alte Fotos. In Rückblicken wird die Geschichte einiger der Personen auf diesen Fotos erzählt, doch nie linear, oft personal, oft aus der Perspektive Manuels, manchmal aus auktorialer Perspektive, oft sehr impressionistisch anhand intensiver Sinneseindrücke. Die Sätze scheinen endlos – und bewirken einen tranceartigen Zustand, der dem Versinken in Erinnerungen gleicht, inklusive Assoziationen und Gefühlen. Den Hintergrund dieses Gewebes bildet Spanien zwischen etwa 1930 und der Gegenwart des Buches.

Jede Seite des Romans fesselt mich, wahrscheinlich aus sehr persönlichen Gründen. Das beginnt mit der Sprache. Mein Spanisch ist leider bei Weitem nicht gut genug, dass ich den Roman im Original lesen könnte. Doch habe ich genug Spanien- und Spanischkenntnisse, dass das Original ständig durch die Übersetzung hindurchscheint, vor allem bei eigentlich unübersetzbaren Details. Wenn es von einem sehr alten Mann heißt, er kleckere beim Trinken nie, nicht einmal wenn er „direkt aus dem Krug“ trinke – dann weiß ich eben, dass mit „Krug“ ein porrón gemeint ist, aus dem man das Getränk ohne Berührung direkt in den Mund schüttet (aus dem ich nie anständig trinken konnte, so oft ich als Kind in den Sommerferien auch heimlich hinterm Haus meiner spanischen Yaya übte). Oder das Kohlenbecken unter dem Tisch, von dem ständig die Rede ist: Es handelt sich um einen brasero. Selbst habe ich nie einen im Einsatz erlebt – das mag daran liegen, dass ich bis vor wenigen Jahren nur im Sommer in Spanien war. Aber ich erinnere mich, dass alte Esstische etwa 20 cm über dem Boden ein Brett hatten, deutlich kleiner als die Tischoberfläche, mit einer großen runden Aussparung. Dort hinein, so erzählte man mir, kam im Winter ein metallenes Becken voll glühender Kohle. Über den Tisch wurde eine Decke gelegt, die bis zum Boden reichte; wer es warm haben wollte, setzte sich an den Tisch mit den Beinen unter der Decke. Soweit zur Ingenieurskunst in einem Land, dass durchaus bitterkalte Winter kennt.

Lange Passagen des Romans spielen in einer geradezu archaischen Welt. Die schiere Last der Existenz, die die Menschen durch ein Netz gesellschaftlicher Fesseln erklärbar machen: Armut, aus der man sich nicht zu befreien hat, entsetzlich schwere körperliche Arbeit, die Kinderknochen verbiegt und Männer noch am Abendbrottisch vor Erschöpfung einschlafen lässt. Das ermüdende Ritual des Werbens zwischen den Geschlechtern, in dem jedes Detail so strikt vorgegeben ist wie in der Liturgie einer katholischen Messe. Alle leiden darunter, doch zumindest können sie jederzeit erklären, woraus die Last des Lebens besteht. Von der Mutter Manuels heißt es:

Die Vermutung einer unwillentlich auf sich geladenen Schuld und die Furcht, ohne Erklärung bestraft zu werden, wirkten wie eine unaufhörliche Erpressung auf ihre Seele.

Das komplizierte Verhältnis der Generationen mit seiner Zerrissenheit zwischen Verpflichtung und Freiheitsdrang, Erwachsenwerden im Andalusien der 70er, Freundschaften, die lange Pausen überdauern, Abtrünnigkeit, die sich unter perfekter Stromlinienform verbirgt, die Auswirkungen von Emigration und Flucht auf persönliche Beziehungen – ich bilde mir ein, das vergangene Spanien durch diesen Roman besser zu verstehen.

Scarlett Thomas, The End of Mr. Y

17. January 2010 | von Kaltmamsell

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Es war ein Weihnachtsgeschenk, sonst hätte ich The End of Mr. Y sehr wahrscheinlich nie gelesen: Sein Umschlag sieht zu sehr nach Fantasy, Vampiren, Steam Punk aus, als dass es mich anzöge. Doch dann hätte ich etwas verpasst (die schwarzen Seitenränder – Schwarzschnitt? – gefallen mir ohnehin sehr gut).

Die Geschichte startet mit einem Erdbeben und steigert sich von dort aus langsam. Nein, ernsthaft: Auf der ersten Seite raucht ein Ich-Erzähler gerade aus seinem Bürofenster, als der Boden unter ihm erbebt. Er flieht Hals über Kopf – es stellt sich heraus, dass das Büro Teil eines Universitätskomplexes ist, unter dem soeben ein altes Gewölbe einbricht. Wir sind im Jetzt und Heute (Derrida ist bereits gestorben); der Erzähler promoviert über ein Teilgebiet der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts und stolpert über ein Buch aus dieser Zeit, das als verschollen und verflucht gilt: The End of Mr. Y von Thomas Lumas.

Es dauerte einige viele Seiten, bis ich den Erzähler eindeutig als Frau einordnete – ein gutes Zeichen und Beweis für den Abstand zu Stereotypen: Diese Ariel ist besessen von ihren Studien, steht auf oberflächlichen Sex, kämmt sich selten, ist ganz einsamer Wolf / einsame Wölfin – mit den entsprechenden seelischen Verletzungen.

Die Geschichte dreht sich dann im Weiteren um die seltsamen Inhalte des entdeckten Buches, das ein Rezept für Telepathie enthält. Parallel geht es um die Entstehung von Wissenschaft, wie wir sie heute kennen; die Details werden gerne in Dialogform präsentiert – und das durchaus fachlich tief und sauber. Ich genoss es, an die Zusammenhänge der Relativitätstheorie erinnert zu werden, auch an die Auswirkungen der Unschärferelation auf unsere heutige Wahrnehmung. Alles ist verwoben in eine temporeiche Handlung, in der Ariel das Rezept des Buches ausprobiert, mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, amerikanischen Geheimagenten ausweichen muss, zwischen Wirklichkeitsebenen wechselt. Das macht den Roman kurzweilig, ist aber auch sein Nachteil: Insgesamt ist The End of Mr. Y deutlich zu voll (Derrida hätte verlustfrei gestrichen werden können, auch Heidegger braucht es nicht). Erzähltechnik und Sprache hinken dem intellektuellen Anspruch hinterher, der nichts weniger versucht, als eine postpostmoderne Erkenntnistheorie des 21. Jahrhunderts zu entwerfen.

Dennoch ein angenehm seltsames Buch. Und es hat mich sehr gefreut, diese Ariel Manto kennenzulernen.

David Lodge, Deaf Sentence

2. January 2010 | von Kaltmamsell

Ich bin mir ganz sicher, dass David Lodge mit diesem Titel On His Deafness für seinen Roman Deaf Sentence gespielt hat – John Miltons “On His Blindness” ist für einen Literaturwissenschaftler, wie er einer ist, die unvermeidliche Assoziation.* Doch er entschied sich für das Spiel mit dem Wort deaf, das er, im Gegensatz zur Milton-Anspielung, durch den ganzen Roman ziehen kann (z.B. deaf on arrival, deaf in the afternoon, und den Lippenlesekurs nennt er deaf row). Die Übersetzerin ins Deutsche, Renate Orth-Guttmann, wird ihre Mühe gehabt haben; der deutsche Titel Wie bitte? ist ein Indiz.

Hauptfigur des Romans ist Desmond Bates, ein Linguistikprofessor jenseits der 60 im Norden Englands. Hauptthema ist seine Schwerhörigkeit, zu Herzen gehend und in vielen Details geschildert. Sie bildet den Hintergrund für die Handlung um den frühpensionierten Desmond, seine beruflich erfolgreiche Frau Winifred, Desmonds ebenfalls schwerhörigen und langsam pflegebedürftigen Vater in London, um die zwielichtige amerikanische Doktorandin Alex. Die äußere Form ist die eines Journals, das Desmond in seinen Rechner tippt, inklusive der Schreibpausen, die sich durch überstürzende Ereignisse ergeben.

Schon mit Anfang 40 wurde Desmonds Hörkraft immer schwächer und beeinflusste jeden Bereich seines Lebens. Die Ausführlichkeit, mit der die Geschichte uns in diese Details mitnimmt, hat mir zum ersten Mal eine Ahnung davon vermittelt, was das bedeutet. Aus allem aber spricht David Lodges typischer warmer Blick für die inhärente Komik: “Deafness is comic, blindness is tragic.” Die Kundigkeit der Schilderung ist nicht nur Ergebnis von Recherche; in den “Acknowledgements” schreibt Lodge: “The narrator‘s deafness and his Dad have their sources in my own experience.”

Manchmal wird die Komik zu bitterem Lachen: Es gibt einfach fast keine Interaktion, die nicht von Desmonds Schwerhörigkeit betroffen ist. Eingangs schildert er eine Unterhaltung zwischen sich und seiner Frau in der knappen Form, die wir aus Romanen gewohnt sind. Doch dann notiert er, wie dieses Gespräch tatsächlich verlaufen ist, nämlich an jeder Stelle durchsetzt von “What?”, Verhörern, Wiederholungen. Schon da wird klar, wie anstrengend jede Art mündlicher Konversation für einen Schwerhörigen ist. Oder die Frustration, am 2. Weihnachtsfeiertag festzustellen, dass die Ersatzbatterien fürs Hörgerät die falsche Größe haben und natürlich alle Kaufmöglichkeiten geschlossen sind. Interessanterweise taucht trotz einiger Sexszenen die Auswirkung von Schwerhörigkeit auf die Details im Bett nicht auf. Diese kenne ich aus Notquitelikebeethovens Beschreibung.

Deaf Sentence ist dennoch keineswegs ein Roman über Schwerhörigkeit, sie bildet lediglich einen intensiven Hintergrund. Die Geschichte erzählt Familienverwicklungen, Universitätsalltag, das Liebesleben nicht mehr junger Menschen, viel England. Und das mit David Lodges sprachlicher Leichtigkeit, die ich schon immer sehr schätzte.

*Nachtrag: Ich hätte vielleicht erst mal “On his Deafness” gogglen sollen. Das gibt es natürlich schon, und zwar seit 1734, nämlich als Gedicht von Jonathan Swift.