Autor-Archiv

Dumme Schafe

11. May 2011 | von Modeste

Katja Lange-Müller, Böse Schafe, 2007

Vielleicht liegt’s an mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch nie einen Mann retten wollte, an dem mir etwas lag, denn ich möchte für nichts und niemanden leiden, ich will Annehmlichkeiten und schöne, weiße Pelze und Sahnetorten und einen Mann, der mir morgens und abends sagt, dass ich zauberhaft sei. Vielleicht bin ich deswegen die falsche Leserin für Katja Müller-Langes Roman “Böse Schafe”, der von Soja handelt, die in den Achtzigern aus dem Osten nach Westberlin kommt und sich in den letzten Jahren vor der Grenzöffnung in Harry verliebt, einen Junkie, und dann alles für ihn tut, und er tut nichts für sie.

Mag sein, dass das für manche Leute wie Liebe aussieht. Für mich sieht das wie eine pathologische Koabhängigkeit aus, zumal Frau Müller-Lange den drogenabhängigen und HIV-infizierten Ex-Sträfling Harry mit keinem liebenswerten Zug ausstattet: Harry ist nicht nur auf einer reichlich abschüssigen Bahn ziemlich weit unten angekommen. Harry ist auch ein echter Kotzbrocken, verlogen, vulgär, kriminell wohl nicht nur aus Not, sondern auch aus Neigung, rücksichtslos gegenüber denen, die ihm helfen wollen, undankbar und unverschämt gegenüber Soja und denen, die sie dazu bringt, ihm zur Seite zu stehen. Nicht einmal ein echtes gegenseitiges Gefühl scheint Harry Soja entgegen zu bringen, denn in seinen Aufzeichnungen, die sie Jahre später nach seinem Tod an Aids liest, taucht sie nicht auf.

An keiner Stelle des Buches tut mir Harry leid, der am Ende in einem Hospiz an Aids stirbt. Wie man sich bettet, so liegt man, schießt es mir durch den Kopf, auch wenn das oft ungerecht sein mag, aber hier scheint es hinzukommen. Auch auch für Soja habe ich nichts über, die ihre Empfindung für Harry bis ans Ende der Erzählung nicht hinterfragt. Auch die Schilderung des reichlich räudigen Moabit in der Vorwendezeit mag zutreffend und detailgetreu sein, aber was soll ich mit der Schilderung einer Welt, die mich nicht interessiert. Ein bisschen angeekelt bin ich von diesem Roman, den ich nicht durchgelesen hätte, hätte ich mehr zu Lesen mitgehabt auf einer langen Zugfahrt von Bangkok Richtung Süden, denn das ist die Liebe nicht. Das ist vielleicht nur Dummheit.

Am Schnürchen

27. December 2010 | von Modeste

Martin Mosebach, Was davor geschah

Es existiert eine merkwürdige literarische Konvention, menschliche Erlebnisse nur dann für erzählenswert zu halten, wenn sie Personen zustoßen, die sich am äußersten, gefährdeten Rande der Gesellschaft bewegen. Eine Liebesgeschichte zwischen Obdachlosen etwa, ein wenig Sozialrealismus aus dem Arbeitsamt, ungelüftete Zimmer und die Polizei, ganz als würde der lesende Bürger sich und seiner Welt weder Komödie noch Drama zutrauen. Es mag (aber vielleicht irre ich mich) auch ein wenig einfacher sein, über Menschen zu schreiben, die der durchschnittliche Leser, wie man ihn bei Buchhandlungslesungen oder im Theater antrifft, nicht recht kennt. Man merkt dann nicht gleich, wenn die Abbildung der Gegenwart nicht so arg gelungen sein sollte

Spielt eine Liebesgeschichte – nein: deren Vorgeschichte – also einmal unter Menschen, die, ohne direkt gleich im engeren Sinne reich zu sein, wenig finanzielle Sorgen haben, ein offenes Haus im Taunus führen, Gäste in diesem Hause sind, Geschäfte machen und etwas gelangweilt, aber höflich miteinander verheiratet sind, ist man daher angenehm überrascht. Das bürgerliche Liebesleben kommt ja ansonsten immer etwas schlecht weg, so als sei der Spitzensteuersatz zwingend mit erotischer Unerlöstheit verbunden, so dass man schon fast dankbar ist, wenn abseits der ganz trivialen Sphären auch einmal ein Minister a. D. auftritt, ein Unsympath letztlich, aber auch wiederum nicht so verzeichnet, dass er nur noch als Karikatur daherkäme. Auch die Kindergeneration, Leute also zwischen 20 und 30, tauchen auf, die träge, stets etwas benommene Silvi, verheiratet mit dem hoffnungslosen Sohn Hans-Jörg des ehemaligen Ministers, der levantinische Geschäftsmann Salam, das Ehepaar Hopsten und seine Kinder und Gäste, unter ihnen auch der Ich-Erzähler, ein junger Bankangestellter, neu in Frankfurt am Main, und Frau Helga Stolzier, die als eine Art Stilberaterin der Frau Hopsten auftritt, schließlich diejenige Frau einführt, die am Ende den Bankangestellten fragen wird, was denn nun wirklich geschah, bevor man zusammengekommen ist. Viele Zufälle, unspektakulär für sich genommen, kleine, amüsante, sommerliche Geschichten reihen sich wie die Perlen einer Kette aneinander, bis am Ende das Paar sich trifft.

Nahtlos gefügt wie an unsichtbaren Schnüren wechseln die Szenen in angenehm plätscherndem Parlando. Man verliebt sich nicht über Gebühr heftig, man lädt sich ein, man betrügt sich nicht ganz ohne Drama, ein anonym böser Brief trifft ins Schwarze. Am Ende trennen sich zwei Paare, damit sich eins findet, und wenn der Roman endet, hat die Nachtigall gesungen, ein Kakadu hat sich geputzt, ein Baum wurde gefällt, und ganz bar der schrillen Töne fällt der Vorhang unter verdientem Applaus.

Ein jeder Mensch ist ein Abgrund

6. September 2010 | von Modeste

Ferdinand von Schirach, Schuld, 2010

Es ist eine verbreitete Vorstellung, der Mensch werde gelenkt wie eine Marionette. Irgendwo, unsichtbar, hinter den Kulissen, sitze der Puppenspieler und lasse den einen stolpern, den anderen lachen, zwei jagen einander von rechts nach links, und wenn es dem Puppenspieler gefällt, lässt er einen die Hand heben, und ein anderer liegt still auf der Bühne. Einen Moment bleibt das Publikum dann betroffen sitzen und schweigt. Im nächsten kommt schon die Polizei, es wird geschäftig, Staatsanwälte klagen an, Strafverteidiger treten auf, und schließlich fällt der Richter ein Urteil. Das Puppenspiel über ein Verbrechen mag vorbei sein in diesem Moment. Über den Puppenspieler aber haben wir nichts erfahren. Das Verbrechen, den Mord, das Böse, wenn man so will, können wir sehen. Was es ist, sehen wir nicht.

Auch aus Ferdinand von Schirachs zweitem Buch (nach dem letztjährig erschienen Erstling Verbrechen des Charlottenburger Rechtsanwalts) erfahren wir nicht, was es ist, das den einen morden lässt und den anderen nicht. Über die Motive spricht von Schirach, das sicher. Die feinen Schattierungen zwischen Schuld und Unschuld, Schicksal und Zufall, Verhängnis vielleicht. Von der über Jahre misshandelten Frau, die sich von ihrem monströsen Ehemann befreit, als dieser ankündigt, das gemeinsame Kind anzugehen. Die Kindsmörderin. Ein bizarres Durcheinander von Kriminellen in der Unterwelt von Berlin, und ein paar rätselhafte, verstörende Geschichten, von denen wir nur Fetzen erfahren wie die, von denen man manchmal träumt, um verschwitzt und mit klopfendem Herz zu erwachen.

Etwas Marionettenhaftes werden den Protagonisten aller, nach eigener Aussage des Autors verfremdet aus seiner Praxis gegriffenen Geschichten nicht los. Sei es, dass die extrem verknappten, lakonischen, wohl ebenso vom juristischen Stil wie von einer Neigung zu manchen Amerikaner, Carver vor allem und Hemingway, geprägten Erzählungen eine gewisse Distanz schaffen, die gerade dort auffällt, wo Schirach sie mit einigen literarisierenden Sätzen zu überbrücken versucht. Doch wir kommen den Figuren nicht näher. Ein Abgrund von Fremdheit klafft zwischen den handelnden Personen nicht weniger als zwischen ihnen und uns. Eine kalte, klare Luft weht durch die kurzen Geschichten.

Gut lesbar sind Schirachs kurze Erzählungen. Man gewöhnt sich schnell an die harte Oberfläche der klaren Sprache, die manchmal, in ihren besten Momenten, etwas Metallisches gewinnt, nicht ohne Eleganz, das in der deutschen Gegenwartsliteratur selten ist, weil die Deutschen seit dem Krieg einen merkwürdigen Sonderweg beschritten haben mit ihren Büchern. Sicher profitiert der Autor von unser aller Voyeurismus, einer Faszination, die der Pitaval ebenso bedient wie das Vermischte in der Zeitung ganz hinten. Vielleicht aber reizt uns auch neben dem Puppenspiel über Blut und sinistre Sensationen der Puppenspieler selbst, die Ahnung der Wahrheit über die Herkunft von Gut und Böse, und der betroffene Blick auf die eigenen Glieder, wo denn die Schnüre wohl seien, an denen jener uns lenkt.

Ein anderer Schlag des Herzens

29. August 2010 | von Modeste

Irina Liebmann, Wäre es schön? Es wäre schön, 2008

Was in der Geschichte des Kommunismus schief gelaufen ist, ist nicht nur unter Historikern vermutlich ein Gegenstand wüster Diskussionen und klaffender Meinungsverschiedenheiten, doch wie auch immer es dazu kommen, dass aus einer berauschenden Vision von Freiheit, Gerechtigkeit und Völkerliebe am Ende nichts wurde als die engherzige, bisweilen lächerliche und in jeder Hinsicht unangemessene Herrschaft einer verlogenen Bürokratie: Fest stehen dürfte, dass die Realität aus FDJ und Plattenbauten die faszinierende, romantische Seite des kommunistischen Projekts so gründlich aus dem Bewusstsein Europas gebrannt hat, dass selbst die Renegatenromane des 20. Jahrhunderts – die Koestler, Sperber et. al. – uns nichts mehr anzugehen scheinen. Der große Traum ist vorbei.

Auf die Frage, warum sich ein brillanter, junger, gut etablierter Journalist Anfang der Dreißiger Jahre, moussierend vor Ehrgeiz und Stolz, nicht nur vom Kommunismus angezogen fühlt, sondern dem Kommunismus auf dem langen Weg vom himmelblauen Traum in die schlecht gelüftete Realität treu bleibt, bietet auch Irina Liebmanns 2008 erschienene Biographie über ihren Vater Rudolf Herrnstadt keine Antwort. Es muss etwas Religiöses gewesen sein, das Liebmann wolkig umschreibt, ohne dass es fassbar würde. Herrnstadt habe die Sowjetunion nicht nur geliebt, sondern habe sich auch zurückgeliebt gefühlt, spekuliert Liebmann, ohne zu erklären, warum es einem normalen Menschen überhaupt etwas bedeuten sollte, ausgerechnet von der Sowjetunion geliebt zu werden.

Überhaupt wird viel spekuliert. Zum einen scheint die Faktenlage rund um diese wirren, blutigen Jahre des zweiten Weltkriegs was Herrnstadt betrifft, nicht die beste zu sein. Zum anderen steht es der Tochter Herrnstadts sicher mehr als anderen Leuten zu, sich einem Toten nicht nur über Archive und Zeitzeugen zu nähern, sondern nicht weniger über Erinnerungen. Hörensagen, vielleicht ein halbverschollenes Gefühl, wie es gewesen sein könnte.

Gut war es nicht. Als Herrnstadt Kommunist wird, ist Stalin schon der blutsaufende Herrscher im Kreml. Die großen Namen der Revolution gehören schon Toten, und der Apparat bestimmt mehr und mehr, ob einer ein guter Kommunist und ehrlicher Kämpfer bleibt oder ausgestoßen wird nach Regeln, die keiner kennt. In Berlin – hier arbeitet Herrnstadt als Journalist des Berliner Tageblatts – wird Hitler schon empfangen, man riecht das kommende, das frische Blut, und als dann soweit ist, emigriert Herrnstadt, gefährdet nicht nur als Kommunist, sondern auch als Jude, nach einem Intermezzo in Warschau nach Moskau.

Viel erfährt man nicht über die Verhältnisse im Moskau der Säuberungen. Wie es war in diesem fleckigen, wirren Alptraum aus Macht und Tod und Angst, zeigt Liebmann uns kaum. Vielleicht ist das nicht ihr Thema, vielleicht gehört das zu der Lebensgeschichte ihres Vaters ihrem Empfinden nach nur am Rande dazu, doch mir scheint, dass man nicht von einem kommunistischen Politiker dieser Jahre erzählen kann, und berichtet über die Beben, die den Boden dieser Welt zerrissen, nur ganz en passant. Es muss die Welt verwandelt haben, stelle ich mir vor.

Vom Nationalkomitee Freies Deutschland erzählt Liebmann, diesem erstaunlichen Versuch, Deutschland nicht nur zu besiegen und zu beherrschen, sondern sein Herz so zu gewinnen, wie es den Amerikanern dann später wirklich gelungen ist und den Russen nie. Von der Rückreise ins zerstörte Berlin, von der Berliner Zeitung und dem Neuen Deutschland, und von einem kranken, immer kränkeren Mann, der sich aus Russland die Tuberkulose mitgebracht hat.

Ihren Höhepunkt erreicht Liebmanns Erzählung rund um den 17. Juni. Die Massen lieben die Herrschaft nicht, lieben sie noch etwas weniger als andere, schweigend ertragene Herrschaft, und lehnen sich auf. Ein paar Tage hält sich die Macht in luftiger Schwebe, doch dann siegt – am Ende entscheiden die Russen – Ulbricht. Herrnstadt, der auf Ulbrichts Ablösung gedrängt hat, verliert alle Posten und wird Archivar in Merseburg. Die Führung der SED schreibt Herrnstadt und einem anderen, verstoßenen Mitglied des Politbüros die Schuld für die Ereignisse rund um den Aufstand zu und geht zur Tagesordnung über. Herrnstadt reist ab.

Etwas Verächtliches liegt in dem verordneten Posten, den Herrnstadt annimmt und ausfüllt und sogar in den Archiven forscht. Kommunist bleibt er. Kommunist zu sein scheint für Herrnstadt nicht von der Frage abzuhängen, ob die kommunistische Herrschaft gut und gerecht ist zu ihm, nicht einmal, ob der Kommunismus gut ist für andere, ob er gut ist für die Arbeiter, die der Kommunismus in seinen Sonntagsreden vergöttlicht, um sie werktäglich so herablassend zu behandeln, wie es einer bürgerlichen Demokratie nicht einfiele, und dann stirbt Rudolf Herrnstadt nicht an der Tuberkulose, sondern am Krebs, und nimmt – mit ihm eine ganze Generation toter Kommunisten – das Rätsel der Attraktion dieser Menschheitskatastrophe mit sich ins Grab.

Etwas hilflos hinterlassen uns daher auch in diesem, nicht sehr bedeutenden und sprachlich oft unzureichenden Buch die Schilderungen der vielen Opfer, der Anstrengungen und der ehrlich empfundenen Gefühle für etwas, das einmal rein gewesen sein mag, und diese Reinheit verloren hat in dem Morast des 20. Jahrhunderts aus Dreck und Blut und Lügen. Liebmann hilft uns nicht weit auf dem Weg zum nachsichtigen Verständnis dieser fremden Toten, aber vielleicht liegt das nicht an den Unzulänglichkeiten dieses Buches. Vielleicht ist es ganz und gar vorbei, und nicht nur der Traum vom Kommunismus, sondern alle Träume vom ganz anderen Leben modern irgendwo in der Erde und kommen nicht wieder, nicht einmal bei Nacht.

Paukenschlag statt Flöte

5. July 2010 | von Modeste

Wolf Jobst Siedler, Ein Leben wird besichtigt, 2000

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Vielfach liest man, mit dem Bürgertum gehe es demnächst zu Ende. Die deutsche Sprache sterbe aus, sogar die Frau des Bundespräsidenten sei abstoßend tätowiert, niemand könne mehr vernünftig Latein, und unter Bildung missverstünden die Deutschen eine unverstandene Faktensammlung, die höchstens zu Quizsendungen im Privatfernsehen tauge. Gleichzeitig genießt das Bürgerliche ein Ansehen, das zumindest ein wenig naiv anmutet, als sei vor hundert Jahren jedes Gymnasium eine kleine Gelehrtenrepublik gewesen und nicht die protofaschistische, kinderquälende Anstalt, wie sie sich in den damals vermutlich nicht von ungefähr beliebten Schülerromanen der Kaiser- und Zwischenkriegszeit spiegelt. Auch hätten sich früher Familien zu sorgsam komponierten Mahlzeiten zusammengefunden, statt hektisch vor dem Fernseher erwärmte Tiefkühlgerichte zu verzehren, weder Damen noch Herren wären in missgestalteten, bunten Plastiksäcken auf die Straße gegangen, und Ehen hätten lebenslänglich gehalten. Früher sei mithin nicht alles, aber ziemlich viel besser gewesen, und selbst wenn es nicht besser gewesen sei, dann habe es zumindest besser ausgesehen.

Zu den – wenigen – besseren Apologeten einer solcherart verklärt schöneren Vergangenheit zählt die Republik den Westberliner Publizisten und Verleger Wolf Jobst Siedler, und es mag vielleicht im Bezug zu Berlin begründet liegen, wieso Geburtstag um Geburtstag, Besuch für Besuch mehr der erstaunlich zahlreichen Werke dieses Herrn in den Haushalt spült, den der geschätzte Gefährte und ich unterhalten, unterbrochen bisweilen durch Teile des ebenfalls üppig ins Kraut geschossenen Gesamtwerks Joachim C. Fests. Möglicherweise hält man den J. und mich aber auch in an sich nahe stehenden Kreisen für konservativer als wir sind, und so seien an dieser Stelle diejenige der sehr verehrten Leserinnen und Leser, die auch körperlich zu meinen Gästen zählen, gebeten, sich künftig etwas Neues zu überlegen, denn der Unterhaltungswert Siedlers generell, wie speziell dieses ersten Teiles seiner Autobiographie ist diesseits der Grenze, die die Apokalyptiker des Bürgertums vom Rest der Welt trennt, vorhanden, aber durchaus begrenzt.

An Siedlers Leben selbst liegt dieses Missbehagen dabei nicht. Der 1926 in Berlin geborene Verleger blickt auf ein vom Reichtum wie von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zerklüftetes Leben zurück. Im Westberliner Bezirk Dahlem geboren, war Siedler einige Jahre Schüler einer der bis heute gut beleumdeten Hermann-Lietz-Schulen, wurde wegen kritischer Äußerungen über Hitler und die Erfolgsaussichten des Krieges gemeinsam mit einem der Söhne Ernst Jüngers inhaftiert, verurteilt und kam sodann an die italienische Front. Nach einigen Jahren der Kriegsgefangenschaft in Afrika gelangte Siedler zurück in das zerstörte Berlin. Hier endet der erste Band der Lebenserinnerungen; das Studium an der sich neu formierenden FU und der Aufstieg als Journalist und später als Verleger reißt Siedler nur an und erzählt diesen Abschnitt seines Lebens, wie es scheint, in einem oder mehreren weiteren Werke weiter.

Immer wieder ist das auch durchaus angenehm zu lesen. Die Haftzeit etwa als radikale Erfahrung von Kontrollverlust, die Gefühlsschwankungen, die feinen Abstufungen des Verhaltens der Wärter und Richtenden, ebenso wie alltägliche und anekdotische Beobachtungen im vorkrieglichen Berlin. Sobald sich Siedler aber von der Subjektivität des Erlebens löst, hinterlässt er den Leser halbwegs ratlos: Gern gesteht man Siedler Stolz auf seine teils illustren Vorfahren zu, zu denen an prominentester Stelle der Bildhauer Schadow gehört. Wer wäre man auch, es Siedler nicht durchgehen zu lassen, über seine Familie, deren Verbindungen und Herkommen mit einem gewissen Selbstbewusstsein zu berichten, das in mehr oder weniger expliziter Form jede Familie pflegen dürfte. Sich auf seine Familie etwas einzubilden, ist gerade dann verständlich, wenn diese Familie auch einiges zu bieten hat an Kaufhauskönigen und Generälen, Diplomaten und Professoren. Muss aber – so fragt man sich nach einer kleinen Weile – Siedler immerzu und alle paar Seiten von seiner Familie sprechen? Geht es auch etwas weniger lautstark? Anders als man in Kreisen konservativer Publizistik annimmt, halte ich Bescheidenheit nicht gerade für eine Tugend, die das Bürgertum vor anderen Teilen der Gesellschaft auszeichnet, das ganze 19. Jahrhundert ist, wie man sagt, nur durch bürgerliche Geltungssucht zu erklären, ich habe auch nichts gegen Repräsentation, aber über weite Teile des Buches überschreitet Siedler die Grenze zwischen berechtigtem Stolz und purer Eitelkeit doch etwas zu häufig, um noch Freude zu bereiten. Wir wissen’s, sagt sich der Leser seufzend und blättert halb konzentriert weiter.

Ähnlich steht es mit Siedlers Freunden und Bekannten. Streckenweise liest sich das Buch wie mancher Bericht der Klatschpresse über eine Premiere oder eine königliche Hochzeit als eine Aufzählung von Namen, Namen und wiederum Namen. Von Carl Schmitt über Dacia Maraini, von Thomas Mann, Heinrich Böll, Alexander Solschenizyn bis Hans Wallenberg und immer wieder Joachim Fest und taucht jeder auf, von dem man in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sprach. Gesehen wurde auch …., denkt man sich, wartet auf eine prägnante Anekdote, etwas Charakteristisches, Interessantes, aber Siedler ist oft längst woanders. Ihm reicht wie manchem kleinen Mädchen am roten Teppich der Berlinale das Auftauchen der Berühmtheit. Dies ist einigermaßen sonderbar: Siedler ist schließlich nicht irgendwer. Dass der Verleger des Propyläen-Verlags, später des Siedler Verlags, ein Fixpunkt des insgesamt überschaubaren Kulturlebens der Bonner Republik, alles und jeden kannte, der eine Schreibmaschine zu bedienen wusste, erwartet man nicht anders. Die schiere Renommiersucht kann es damit eigentlich nicht sein, die Siedler zu diesen Aufzählungen treibt, allerdings ist ein anderer Antrieb vielfach schlechthin nicht erkennbar.

Die Zitiersucht dagegen sei Siedler nachgesehen. Es zeugt von einigem Selbstbewusstsein, um es vorsichtig auszudrücken, als ersten Satz seiner Erinnerungen zu Thomas Manns berühmter Eröffnung des Josephsromans zu greifen, doch mag es für einen Mann, der sein Leben zwischen Büchern verbracht hat, nur natürlich anmuten, entlang von Büchern zu erinnern und zu empfinden. Das Bewusstsein, als bürgerliches Fossil zwischen Plebejern zu wandeln, durchzieht die Autobiographie dabei indes nicht nur als ausdrückliche und stetig wiederholte, bisweilen durchaus ein wenig selbstgefällige Aussage. Man mag darüber streiten, ob diese Annahme überhaupt zutrifft, Siedler jedenfalls hat dieser Glaube an den abgesunkenen Bildungsstand seiner Leser zu einer etwas sonderbaren Vorgehensweise bewogen: Er erklärt annähernd jedes Zitat in der ängstlichen Annahme, der Leser könne vielleicht andernfalls annehmen, die Herzogin von Guermantes sei keine Schöpfung von Proust, sondern vielleicht von Courths-Mahler, und wenn er das berühmte Bild des nächtlichen Albs heraufbeschwört, vergisst er nicht hinzuzufügen, jenes sei von Füssli.

Auf den letzten Seiten wird Siedler kokett. Er werde sich hüten, schließt er, das Buch mit einem Finis zu beenden, erst recht aber schließe er nicht mit Fortsetzung folgt, und man klappt das mit einer Abbildung des Autors in jungen Jahren geschmückte Geschenk zum vorletzten Geburtstag kopfschüttelnd zu. Ich habe die Fortsetzung nicht gelesen. Mir schwant, ich habe nichts verpasst.

Strahlende Maikäfer, rosenfingrige Götter

24. June 2010 | von Modeste

Kaspar Schnetzler, Das Gute

29957Die Schweiz, hört man immer wieder, sei lange nicht so langweilig, wie man landläufig glaubt. Wieso dem so sein sollte, habe ich allerdings vergessen, und wenn die Schweiz in den hundert Jahren von 1912 bis 2012, die dieser Roman des zu Recht ziemlich unbekannten Kaspar Schnetzler, eines 1942 geborenen Züricher Rentners, umfasst, auch nur annähernd zutreffend abgebildet sein sollte, hat auch in dieser Frage der Volksmund recht: Dieses Buch ist langweilig. Es ist aber nicht nur fade. Es ist auch unfassbar schlecht.

Gegenstand der selbst in der Taschenbuchausgabe 552 Seiten fetten Chronik der Züricher Familien Gerber und Frauenlob sind vier Generationen, die nicht unähnlich der Vorgehensweise in didaktisch sehr bemühten Kinderbüchern alles erleben, was der Autor für charakteristisch für die jeweiige Epoche in der Schweiz hält: Die Begeisterung für den deutschen Kaiser. Der Schweizer Nationalstolz und die besondere Beziehung zu den Schweizer Selbstverteidigungsorganen. Die Spanische Grippe. Ein gewisses Sektierertum in Freikirchen (hier der Christian Science), der soziale, wenn auch überschaubare Aufstieg aus dem Kleinbürgertum und die Auswanderung einzelner Familienteile in die USA und Deutschland. Irgendwann wird auch ein Familienmitglied in politische Unruhen verwickelt, verfällt den Drogen, man wird wunderlich, gebiert und stirbt, und ja: Das ist exakt so frei von jeglicher Überraschung, wie es sich anhört.

Was aber das Urteil eines Herrn Jürg Altwegg in der FAZ – derzufolge hier ein Meisterwerk auf geneigte Entdecker wartet – besonders unverständlich macht, sind die vielfachen, teils nur schwer erträglichen sprachlichen Schnitzer. Aufgeschlagen an beliebiger Stelle heißt es beispielsweise zu den Erlebnissen eines Familienmitglieds in Wien:

“Und wie war Max dem Charme und Anblick der feschen Führerin erlegen, die er jetzt, zwei Wochen nach dem Museumsbesuch, saisongerecht wie ein Maikäfer strahlend, an der Hand durch die zartgrünen Weinberge des Kahlenbergs hinab nach Grinzing zum Heurigen führte -”

Der strahlende Maikäfer aber steht nicht allein. Eine Generation früher verlassen zwei Freunde, künftige Schwager, Zürich, die Schnetzler charakterisiert:

“Er liebte das Leben und dessen Unwägbarkeit, Geradlinigkeit war nicht seine Sache. Insofern war er das exakte Gegenteil von Walter Frauenlob, der das Leben sehr ernst nahm und dessen kulinarischem Anspruch Steaketfrites vollauf genügte, weil es ihm schmeckte.”

Die Gradlinigkeit der Freunde gebratenen Fleisches ist ohnehin sozusagen ein geschätztes Erbstück der Familie, von der es heißt:

“Böse Absicht war es nicht, das war eine in der Familie Frauenlob unbekannte Regung.”

Entsprechend gerät Max, der als nicht mehr strahlender Maikäfer nach seinen Studien aus Wien nach Zürich heimkehrt, als ein unschuldiger Tor in die politischen Wirren der späten Sechziger und

“konnte sehen, wie sich die Virtuosen am Megaphon in die Startposition für ihre ganz private Politkarriere schoben, indem sie die Masse mit Gutmensch-Parolen – wer wollte gegenwärtig nicht ein Gutmensch sein – für sich vereinnahmten, um dafür einmal ihre Stimme zu erhalten, wenn sich die Revolution in parteipolitischen Bahnen verlaufen haben würde.”

Verführt von solcherlei schlechten Menschen, stirbt Max folgerichtig einige hundert Seiten auf der Straße. Seine Schwester Regula wird dagegen alt und wunderlich und stirbt an Diabetes, und nur der erstgeborene Bruder Felix bringt es nach einer Journalistenkarriere zu einem glücklichen Leben als Hopfenbauer in Bayern. Seine Tochter Johanna erzählt die letzten Seiten.

Wer aber bis hierhin gekommen ist, wer – unglaublich, aber wahr – in einem 2008 erschienen Buch in offenkundig ernsthaftem Gestus die Worte lesen darf

“Eos, die rosenfingrige Göttin, hatte den Nebel gelichtet”

hat einen Fehler begangen: Nehmen Sie Abstand vom Kauf. Wenn Sie das Buch schon erworben haben, werfen Sie es weg. Und wenn Sie Herrn Schnetzler irgendwo treffen, geben Sie ihm Geld, damit er aufhört zu schreiben. Bei manchen Straßenmusikanten hilft das ja auch.

Deutschlandbecher

21. May 2010 | von Modeste

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Diesen Text widme ich meinem lieben J.

Für den Grill Royal sprechen insbesondere seine Gegner. Mit einer Versammlung all derjenigen, die das Essen als mittelmäßig, die Gäste als unelegant, das Interieur als abgeschabt und die Tische als zu eng gestellt tadeln, möchte man einen Abend aus verschiedenen Gründen durchaus weniger gern verleben als mit den Menschen, die ganz gern an der Weidendammbrücke essen, obwohl – aber kommt es darauf an? – der größere Teil der Kritik als eigentlich schon eher ziemlich berechtigt gelten muss. Der Service etwa ist immer charmant, aber nur, wenn man Glück hat, professionell. Teuer, zumindest für die insgesamt noch immer bescheidenen Berliner Verhältnisse, ist der Grill auch, und ein nicht ganz unerheblicher Teil der servierten Speisen ist mit der Bestellung ab und zu nicht oder nur teilweise identisch. Auch die Steaks, dies sie hinzugefügt, sind im Filetstück besser.

Der J. liebt den Grill trotzdem. Im Grill ist er glücklich. Der J. mag die roten Lampen, die sofahaft weichen Bänke und die offenen, flämisch anmutenden Kühlschränke mit dem hängenden, nein: prangenden Fleisch. Der J. mag das Holzboot an der Stirnseite des Raums, die Raucherlounge mit den Photos sehr schöner Frauen, die Frauen im Grill generell, diesen bisweilen schon ganz leicht herbstlich verschatteten Typus wie aus französischen Filmen mit Romy Schneider oder Catherine Deneuve und die ganz jungen, vor Vitalität berstenden Mädchen, die Champagner bestellen, weil sie von Wein nichts verstehen. Außerdem liebt der J. Fleisch. 300 Gramm Filet also für den J., Rosmarinkartoffeln, Bohnen, den Grill Royal Salat vorweg und für mich 180 Gramm Filet Tagliata. Ein Cygnus. Ein Drink an der Bar vorweg, denn unser Tisch ist noch nicht frei.

Der Grill ist voll. An dem Tisch, der unser Tisch werden wird, gestikuliert eine spanisch oder italienisch wirkende Frau um die vierzig in einem geschlitzten, weißen Top mit Fledermausärmeln. Neben uns an der Bar steht eine sehr, sehr schöne Russin oder Ukrainerin und bestellt einen Wodka Sour. Genießerisch, versonnend lächelnd lässt der J. seinen Blick durch den Raum schweifen, betrachtet (wie man annehmen muss) die anwesenden Frauen, begutachtet ihre Kleider und ihren Schmuck und dann dreht er sich nach dem Barkeeper um: Ein Dry Martini. Anschließend fällt sein Blick auf die Theke. Der J. runzelt die Stirn. Stucki, Uslar, Fetisch, steht auf einem in das Holz eingelassenen Messingschild. Der J. schaut ungehalten.

“Der Idiot”, röchelt der J. und verzieht das Gesicht. Ich rechne. Zehn Jahre oder mehr liegen zwischen einem Abend im Hannoveraner Schauspielhaus, dem der J. als gebürtiger und selbstbewusster Niedersachse oblag, und dem heutigen Abend, doch frisch, besorgniserregend frisch geradezu, hat sich das Missfallen des J. konserviert, der gegen den ihm bis zu diesem Abend unbekannten Moritz von Uslar damals eine heftige Abneigung gefasst hat. Ich kann mich an von Uslar kaum erinnern.

Die Bücher von Stuckrad-Barres dagegen hat der J. gern gelesen. Soloalbum, damals vor hundert Jahren, auch gern und vielfach verschenkt, die nächsten Bücher immerhin noch halb zerstreut am Strand durchblättert, und auf Anfrage stets als “ganz gut” markiert, was auf der Skala niedersächsischer Lobreden schon recht hoch zu veranschlagen ist. Die Niedersachsen loben nämlich nicht so gern. “Hat der nicht ein neues Buch …?”, überlege ich laut vor mich hin, und dann kommt der Kellner. Der Tisch ist jetzt frei. Ganz schnell (ich bin hungrig) esse ich ungefähr zwei, drei Scheiben Brot mit ziemlich viel Öl und sehe den Salzschuppen dabei zu, wie sie gemächlich im Öl zergehen.

Irgendwann kommt dann auch Essen. Wir sprechen über gemeinsame Bekannte, über ein sehr schönes Bild, das wir gern hätten und das “Nordwand” heißt, über Leute, die in Townhouses ziehen, und über Katzen. Über Bücher sprechen wir auch. Ob von Helmut Krausser noch einmal etwas Großes kommt, etwas Wuchtiges, Schwarzes, blutig wie ein englisches Steak und ungeschlacht wie Gesänge aus anderen Zeiten. Ob man gegen Elke Heidenreich nicht etwas Wirksames unternehmen kann, ob es Daniel Kehlmann gut täte, sich unsterblich, aber unglücklich zu verlieben, dass wir beide das Buch von dieser Frau Schmidt nicht gelesen haben über eine Rekonvaleszentin, das letztes Jahr den Buchpreis gewonnen hat, weil wir nur noch Bücher von schönen Menschen lesen möchten, denn das Leben ist kurz.

So ein Steak ist dann eigentlich schnell gegessen. Man trägt ab. Ich werde leider voraussichtlich noch dieses Jahr platzen, der J. aber kann sich das Nachtischessen noch leisten. Crème Brûlée soll es sein, murmelt der geschätzte Gefährte, vielleicht auch die Schokoladenvariation, genau weiß man das noch nicht, und ordert doch noch einmal in der Karte. “Deutschlandbecher.”, sagt der J. auf einmal und schaut mich traurig an. Ich nehme ihm die Karte aus der Hand. Für € 20 erhält man einen Eisbecher und das neue Buch von Benjamin v. Stuckrad Barre, das Texte enthält, die mit “Zeitgeistreportage” nicht ganz zutreffend umschrieben sind.

Literarisch sind diese Texte schon, nimmt man alles in allem, fiktional dagegen sicherlich nicht, Miniaturen der Gegenwart, sehr genaue, sehr gut ausgeleuchtete Beobachtungen von jemandem, der das Auge hat, dies alles zu sehen, und dem die Worte gehorchen, die Welt zu beschreiben. Wie ein Reisender beschreibt Stuckrad-Barre in den besseren seiner Texte die Gesellschaft, mit der sich auch das Fernsehen beschäftigen mag oder die Gala, und bisweilen gewinnen seine Sujets dabei einen sonderbaren, surrealen Reiz. Noch interessanter, dies aber mag individuellen Spleens geschuldet sein, wäre sicherlich die Lektüre, würde sich Stuckrad-Barre mit einem Ausschnitt der Gesellschaft beschäftigen, der speziell vielleicht mein Interesse in höherem Maße erregen würde als der Vorsitzende der FDP Guido Westerwelle oder der Schauspieler Til Schweiger, aber langweilig, nicht lesenswert gar, ist diese Sammlung nicht. Zumindest aber ist es Stuckrad-Barre gelungen, den J. schnell und wirksam zu deprimieren.

“Dabei ist der jünger als ich.”, lächelte der J. nach ein paar dumpf verbrüteten Minuten des Vergleichs der eigenen, insgesamt überschaubaren Lebensleistung mit dem durch einen Nachtisch in seinem Lieblingsrestaurant gefeierten Autor tapfer vor sich hin und versucht, offenbar vergeblich, sich eigener, ebenso rauschender Erfolge zu erinnern.

(Dass aber dann nicht einmal das Buch vorrätig war, nahm der J. hin wie jeder gelernte Berliner die Unregelmäßigkeiten im Dienstleistungssektor dieser Stadt aushält. Dass das Buch signiert doch eintraf, fast zwei Wochen später per Post, erfreute den J. als eine unerwartete, glückliche Fügung des Lebens, und dass der Deutschlandbecher sehr banal aus drei Eissorten bestand, die in einer Art Stielglas aufeinander geschichtet serviert wurden, war dem J. nicht einmal einen Kommentar wert, denn unabhängig vom Essen eigentlich ist der J. im Grill glücklich, und was der Grill serviert, ist dem J. recht.)

Das Buch, lässt der J. ausrichten, habe ihm gefallen.

(Benjamin v. Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern)

Von der Liebe im Sterben

2. May 2010 | von Modeste

Feridun Zaimoglu, Liebesbrand

IMG_0055Die Liebe kommt über Zaimoglus Helden David wie ein Hieb: Verletzt liegt der deutschtürkische ehemalige Banker aus Kiel nach einem Busunglück in der Türkei auf der Straße, als eine junge, schöne Frau mit einem auffälligen Ring erste Hilfe leistet und ihn tränkt. David verliebt sich nicht: David fällt in Liebe.

Mit nichts als dem Ortskennzeichen ihres Wagens und der Erinnerung an ihr Schmuckstück fährt er – nach einigen Tagen im Krankenhaus zurückgekehrt nach Deutschland – erst nach Nienburg, wo sie wohnt, um sie dann quer durch die geschichtengetränkte Mitte Europas, Prag und Wien, zu verfolgen. Tyra aber – so heißt die fremde Frau – bleibt David gleichgültig. Mehr als eine Nacht wird David von Tyra nicht erhalten, und in ihrer sonderbar somnambulen Kühle spürt man eine Irritation, etwas Lebloses vielleicht, und selbst ihrer Bekehrung zum Katholizismus haftet etwas Verneinendes, Lebensfeindliches an. Fast bedauert man David für seine so spröde Wahl, wenn es denn eine Wahl wäre und nicht vielmehr Schicksal und Verhängnis. Für die wärmere Zuneigung der Pragerin Jarmila bleibt David unerreichbar.

Zwischen David und Tyra geht es nicht um die Liebe, die mit Glück in einem Haus am See mit Rosen im Garten endet. Zaimoglu erzählt keine Geschichte von Freundlichkeit und Helle, und die märchen-, nein, legendenhaften Einschübe, die Monstren und Sonderlinge, die Davids Weg kreuzen, sind interessant, aber nicht liebenswürdig. Es ist hier die Rede von der schwarzen, der harten und spiegelnden Seite der Liebe, deren Pfade alle in den Hades führen, so dass die ersten Worte dieses Romans wohl in einem tieferen Sinne von Wahrheit künden, wenn es heißt:

„Es wurde dunkel, es wurde hell, dann aber starb ich.“

Es stirbt sich alles in allem recht gut in diesen Zeilen.

Der schale Lauf der Dinge

18. April 2010 | von Modeste

Georg M. Oswald, Vom Geist der Gesetze, 2007

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Vor einem runden Dutzend Jahre saß ich – ein wenig gelangweilt, nehme ich an – in einem fensterlosen Hörsaal, und einige Meter vor mir lief ein älterer Herr in beuteligen Hosen hin und her und sprach über das Strafrecht, genauer gesagt: über die soziologische Komponente des Strafens und Bestraftwerdens. Was er ganz genau sagte, habe ich vergessen, aber sinngemäß und sehr ungefähr entnahm ich seinen Worten, dass wir alle Sünder seien, und die Armen, die Ungebildeten und die Ausländer säßen nur deswegen mehr im Gefängnis als andere Leute, weil sie weder am Erlass der Gesetze noch an deren Vollzug beteiligt seien.

Soweit ich mich erinnere, reagierte das Auditorium ungefähr so stumpf, wie es halt zu gehen pflegt, wenn jemand Dinge erzählt, die jeder weiß, und die Empörung des schon damals grauhaarigen Dozenten verpuffte ebenso wirkungslos in der abgestandenen Luft des Juridicums wie – zumindest nehme ich das an – sein Appell, sich stets daran zu erinnern, dass Juristen oft nicht Gerechtigkeit exekutieren, sondern die Summe der Vorurteile der herrschenden gesellschaftlichen Gruppen.

Ein paar Jahre später, ich hatte die Uni inzwischen verlassen, wurde mit diesem Dozenten eine ganze Generation emeritiert, deren stets reizbare Empörbarkeit meistens berechtigt gewesen sein mag, um sich trotzdem bisweilen schmerzhaft lächerlich zu äußern, und dass der Roman des Münchners Georg M. Oswald rein thematisch zumindest einen Hund wie mich nicht hinter dem Ofen hervorzulocken vermag, wird wohl auch damit zu tun haben, dass die Ungerechtigkeit auch in meinen Augen ein Übel darstellt, keine Frage, allerdings ein Übel, über das ich mich eher etwas seltener errege, und das öffentlich auszustellen jedenfalls kein Zweck ist, der das Mittel eines ansonsten eher etwas faden Buches zu heiligen vermag. Die Dinge – und die Anfechtbarkeit dieses Gleichmuts ist mir bewusst – sind, wie sie sind. In Oswalds Buch sind sie also folgendermaßen:

Ein junger Mann mit problematischem Elternhaus und schlechten Examen bekommt, wie es halt so zu gehen pflegt, wegen der Beziehungen seines Onkels einen guten Job bei einem renommierten, eitlen, alten Strafverteidiger. Ein Politiker von durchaus mittelmäßigen Gaben möchte hoch hinaus, fährt in einem nicht namentlich genannten, aber recht gut erkennbaren München einen erfolglosen Drehbuchautor an und befiehlt seinem Fahrer, sodann dem Opfer Geld zuzustecken, damit nichts aufkommt, und sich dann als Täter verurteilen zu lassen, damit des Politikers Weste weiß bleibt. Der eitle, alte Strafverteidiger soll den Fahrer verteidigen.

Kompliziert wird es, als der Fahrer in der mündlichen Verhandlung nicht mitspielt. Ein eifriger, wenn auch schon etwas resignierter Staatsanwalt nutzt diese Chance, dem Politiker am Zeug zu flicken, der alte Anwalt schläft mit der Freundin des Anfängers, den sich wiederum die junge Frau des Alten nimmt, es tauchen viele, viele politische und private Affären und –affärchen auf und dienen dem weiteren Fortgang der Handlung als manchmal etwas sehr zurechtgebaute Treppen und Flure zwischen den einzelnen Akten der Handlung, und dass am Ende nicht das Gute – wer auch immer das sein mag – gewinnt, weiß man auf den ersten Seiten des Buches, denn andernfalls ginge die Absicht Oswalds nicht auf, mit den Mitteln des satirischen Romans die Verdorbenheit der deutschen Gesellschaft zu demonstrieren. Ein bisschen vorhersehbar ist das alles, und ein wenig bieder dazu. Man gähnt. Ich habe zwischendurch mehrmals um ein Haar nicht weitergelesen:

Zunächst ist die Handlung nicht so besonders originell. Zugegeben, es gibt kaum etwas, das moralische Verkommenheit plakativer demonstriert als der Versuch, die Justiz zu manipulieren, aber ein Autounfall als Auslöser des Zusammenpralls sehr verschiedener Milieus in einem urbanen Biotop ist seit Tom Wolfe sicher nur noch mit Vorsicht zu aufzugreifen. Dass die angeblichen Verflechtungen zwischen den Personen über das selbst im eng vermaschten Hauptstadtbetrieb bekannte Maß doch einigermaßen deutlich hinausgehen, mag als satirische Überzeichnung noch angehen, doch das die Personen das Klischee kaum jemals überragen, verzeiht man dann auch einem flüssig und bisweilen amüsant erzählten Roman nicht. Oswald, so gewinnt man den Eindruck, interessiert sich für die einzelnen Protagonisten seines Buches kaum, die damit mehr als Prototypen denn als Individuen durch die Handlung spazieren. Entsprechend fällt es auch dem Leser nicht ganz leicht, sich für diese Leute zu interessieren. Dass der Roman sprachlich nicht so besonders ausgefeilt ist, mag dagegen auch dem Genre geschuldet sein.

Da hilft es dann auch am Ende nicht viel, dass die (sicher nicht selten zutreffenden) Klischees rund und ordentlich bedient werden. Die Personen sprechen meistens miteinander, wie echte Menschen es zu tun pflegen, und der Roman spielt – was ich meistens und auch hier sehr schätze – nicht im Niemandsland des Innenlebens irgendwelcher Freaks, sondern im realen Raum von Familien, Parteien, Berufen, Strafgerichten, Hotels, Büros und Vinotheken. Vielleicht muss das reichen. Es ist selten genug, aber ein gutes Buch, ein gutes Buch hat Georg M. Oswald nicht geschrieben.

Die kleine Schwester der großen Liebe

9. March 2010 | von Modeste

IMG_0019Irinas Buch der leichtfertigen Liebe, Tim Krohn

Manchmal sitzt man mit Freunden an einem Tisch irgendwo und spricht über die Liebe wie über eine ernsthafte Krankheit mit mal mehr, mal weniger schwerem Verlauf. Wie ein siamesischer Zwilling hängt an solchen Tagen an der Liebe das Problem, alles erscheint unglaublich problematisch, so schwer wie ein Wackerstein und so dunkel wie Schwarzbrot. Manchmal aber, seltener, wirft die Liebe alles ab, was muffig ist, tanzt in Chiffon und mit losen Locken barfuß über grünen Rasen, und verstrickt alles, was ihr in die Quere kommt, mit leichten Girlanden aus Rosen, grünen Blättern und Duft. In diesen Momenten wird es dann richtig gefährlich.

Einen Anstoß braucht es dazu kaum. Bisweilen reicht – wie in diesem charmanten Buch des mir bisher völlig unbekannten Herrn Krohn – eine falsche Faxnummer, und die Verhältnisse beginnen zu schwingen. Aus einem russischen Ehepaar in Paris, einer alten Freundin, deren Assistenzarzt, einem kleinen Kind (und einem zweiten noch viel kleineren) und einer ehemaligen Geliebten aus Schweden wird ein luftiges Ballett aus Sommer und begehrten, begehrlichen Körpern. Nichts sieht ernsthaft aus,  alles zeigt sich auf einmal von ganz anderer, appetitlicher, duftender Seite, und vor den Kulissen von Moskau und Paris und einem Seebad am Atlantik zieht der Erzähler eine kleine Geschichte auf, die so luftig erscheint wie ein Baiser. Als sei dies noch nicht genug des Unernstes, der lachend-augenzwinkernden Plauderei, bindet Krohn sein Romanpersonal in eine Rahmenhandlung ein, die wiederum eine Liebesgeschichte erzählt, mit Irina nämlich, der über die 170 schnell gelesenen Seiten die Liebe ausgemalt wird, wie wir alle sie uns bisweilen wünschen: Als ein lachender, tanzender Puck, des großen Pan kleine, spitzohrige Schwester, der man sogar ein paar sprachliche Schwächen und handfeste Klischees verzeiht wie einem hübschen Kinde Sommersprossen oder ein ganz, ganz leichtes, reizendes Lispeln.