Diesen Text widme ich meinem lieben J.
Für den Grill Royal sprechen insbesondere seine Gegner. Mit einer Versammlung all derjenigen, die das Essen als mittelmäßig, die Gäste als unelegant, das Interieur als abgeschabt und die Tische als zu eng gestellt tadeln, möchte man einen Abend aus verschiedenen Gründen durchaus weniger gern verleben als mit den Menschen, die ganz gern an der Weidendammbrücke essen, obwohl – aber kommt es darauf an? – der größere Teil der Kritik als eigentlich schon eher ziemlich berechtigt gelten muss. Der Service etwa ist immer charmant, aber nur, wenn man Glück hat, professionell. Teuer, zumindest für die insgesamt noch immer bescheidenen Berliner Verhältnisse, ist der Grill auch, und ein nicht ganz unerheblicher Teil der servierten Speisen ist mit der Bestellung ab und zu nicht oder nur teilweise identisch. Auch die Steaks, dies sie hinzugefügt, sind im Filetstück besser.
Der J. liebt den Grill trotzdem. Im Grill ist er glücklich. Der J. mag die roten Lampen, die sofahaft weichen Bänke und die offenen, flämisch anmutenden Kühlschränke mit dem hängenden, nein: prangenden Fleisch. Der J. mag das Holzboot an der Stirnseite des Raums, die Raucherlounge mit den Photos sehr schöner Frauen, die Frauen im Grill generell, diesen bisweilen schon ganz leicht herbstlich verschatteten Typus wie aus französischen Filmen mit Romy Schneider oder Catherine Deneuve und die ganz jungen, vor Vitalität berstenden Mädchen, die Champagner bestellen, weil sie von Wein nichts verstehen. Außerdem liebt der J. Fleisch. 300 Gramm Filet also für den J., Rosmarinkartoffeln, Bohnen, den Grill Royal Salat vorweg und für mich 180 Gramm Filet Tagliata. Ein Cygnus. Ein Drink an der Bar vorweg, denn unser Tisch ist noch nicht frei.
Der Grill ist voll. An dem Tisch, der unser Tisch werden wird, gestikuliert eine spanisch oder italienisch wirkende Frau um die vierzig in einem geschlitzten, weißen Top mit Fledermausärmeln. Neben uns an der Bar steht eine sehr, sehr schöne Russin oder Ukrainerin und bestellt einen Wodka Sour. Genießerisch, versonnend lächelnd lässt der J. seinen Blick durch den Raum schweifen, betrachtet (wie man annehmen muss) die anwesenden Frauen, begutachtet ihre Kleider und ihren Schmuck und dann dreht er sich nach dem Barkeeper um: Ein Dry Martini. Anschließend fällt sein Blick auf die Theke. Der J. runzelt die Stirn. Stucki, Uslar, Fetisch, steht auf einem in das Holz eingelassenen Messingschild. Der J. schaut ungehalten.
“Der Idiot”, röchelt der J. und verzieht das Gesicht. Ich rechne. Zehn Jahre oder mehr liegen zwischen einem Abend im Hannoveraner Schauspielhaus, dem der J. als gebürtiger und selbstbewusster Niedersachse oblag, und dem heutigen Abend, doch frisch, besorgniserregend frisch geradezu, hat sich das Missfallen des J. konserviert, der gegen den ihm bis zu diesem Abend unbekannten Moritz von Uslar damals eine heftige Abneigung gefasst hat. Ich kann mich an von Uslar kaum erinnern.
Die Bücher von Stuckrad-Barres dagegen hat der J. gern gelesen. Soloalbum, damals vor hundert Jahren, auch gern und vielfach verschenkt, die nächsten Bücher immerhin noch halb zerstreut am Strand durchblättert, und auf Anfrage stets als “ganz gut” markiert, was auf der Skala niedersächsischer Lobreden schon recht hoch zu veranschlagen ist. Die Niedersachsen loben nämlich nicht so gern. “Hat der nicht ein neues Buch …?”, überlege ich laut vor mich hin, und dann kommt der Kellner. Der Tisch ist jetzt frei. Ganz schnell (ich bin hungrig) esse ich ungefähr zwei, drei Scheiben Brot mit ziemlich viel Öl und sehe den Salzschuppen dabei zu, wie sie gemächlich im Öl zergehen.
Irgendwann kommt dann auch Essen. Wir sprechen über gemeinsame Bekannte, über ein sehr schönes Bild, das wir gern hätten und das “Nordwand” heißt, über Leute, die in Townhouses ziehen, und über Katzen. Über Bücher sprechen wir auch. Ob von Helmut Krausser noch einmal etwas Großes kommt, etwas Wuchtiges, Schwarzes, blutig wie ein englisches Steak und ungeschlacht wie Gesänge aus anderen Zeiten. Ob man gegen Elke Heidenreich nicht etwas Wirksames unternehmen kann, ob es Daniel Kehlmann gut täte, sich unsterblich, aber unglücklich zu verlieben, dass wir beide das Buch von dieser Frau Schmidt nicht gelesen haben über eine Rekonvaleszentin, das letztes Jahr den Buchpreis gewonnen hat, weil wir nur noch Bücher von schönen Menschen lesen möchten, denn das Leben ist kurz.
So ein Steak ist dann eigentlich schnell gegessen. Man trägt ab. Ich werde leider voraussichtlich noch dieses Jahr platzen, der J. aber kann sich das Nachtischessen noch leisten. Crème Brûlée soll es sein, murmelt der geschätzte Gefährte, vielleicht auch die Schokoladenvariation, genau weiß man das noch nicht, und ordert doch noch einmal in der Karte. “Deutschlandbecher.”, sagt der J. auf einmal und schaut mich traurig an. Ich nehme ihm die Karte aus der Hand. Für € 20 erhält man einen Eisbecher und das neue Buch von Benjamin v. Stuckrad Barre, das Texte enthält, die mit “Zeitgeistreportage” nicht ganz zutreffend umschrieben sind.
Literarisch sind diese Texte schon, nimmt man alles in allem, fiktional dagegen sicherlich nicht, Miniaturen der Gegenwart, sehr genaue, sehr gut ausgeleuchtete Beobachtungen von jemandem, der das Auge hat, dies alles zu sehen, und dem die Worte gehorchen, die Welt zu beschreiben. Wie ein Reisender beschreibt Stuckrad-Barre in den besseren seiner Texte die Gesellschaft, mit der sich auch das Fernsehen beschäftigen mag oder die Gala, und bisweilen gewinnen seine Sujets dabei einen sonderbaren, surrealen Reiz. Noch interessanter, dies aber mag individuellen Spleens geschuldet sein, wäre sicherlich die Lektüre, würde sich Stuckrad-Barre mit einem Ausschnitt der Gesellschaft beschäftigen, der speziell vielleicht mein Interesse in höherem Maße erregen würde als der Vorsitzende der FDP Guido Westerwelle oder der Schauspieler Til Schweiger, aber langweilig, nicht lesenswert gar, ist diese Sammlung nicht. Zumindest aber ist es Stuckrad-Barre gelungen, den J. schnell und wirksam zu deprimieren.
“Dabei ist der jünger als ich.”, lächelte der J. nach ein paar dumpf verbrüteten Minuten des Vergleichs der eigenen, insgesamt überschaubaren Lebensleistung mit dem durch einen Nachtisch in seinem Lieblingsrestaurant gefeierten Autor tapfer vor sich hin und versucht, offenbar vergeblich, sich eigener, ebenso rauschender Erfolge zu erinnern.
(Dass aber dann nicht einmal das Buch vorrätig war, nahm der J. hin wie jeder gelernte Berliner die Unregelmäßigkeiten im Dienstleistungssektor dieser Stadt aushält. Dass das Buch signiert doch eintraf, fast zwei Wochen später per Post, erfreute den J. als eine unerwartete, glückliche Fügung des Lebens, und dass der Deutschlandbecher sehr banal aus drei Eissorten bestand, die in einer Art Stielglas aufeinander geschichtet serviert wurden, war dem J. nicht einmal einen Kommentar wert, denn unabhängig vom Essen eigentlich ist der J. im Grill glücklich, und was der Grill serviert, ist dem J. recht.)
Das Buch, lässt der J. ausrichten, habe ihm gefallen.
(Benjamin v. Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern)