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Vergiftet mit ihren Tränen

16. January 2010 | von Modeste

Eduard von Keyserling, Dumala, (1908)

Einsam ist man in den Weiten des Ostens, in dem das alte, feudale Europa müde in verblassten Tapisserien friert, kraftlos wie der gelähmte Baron Werland in seinem Schloss Dumala, in dem ganze Flügel leer stehen, und die Mäuse hinter der Wand dem Ende dieser Welt entgegen nagen. Mit dem Baron friert seine schöne Frau Karola, sitzt des Abends neben ihm am Feuteuil und streichelt des Barons schmerzende Beine. Langsam, quälend langsam vergeht die Zeit. Nichts dringt von außen in diese abgeschiedene Welt, die Moderne ist woanders, die weit, weit weg aufbricht, wenige Jahren und einen ersten Weltkrieg später diese mürbe Welt zu begraben.

Die unerfüllte Sinnlichkeit der Baronin stellt Keyerlingk fast greifbar in den Raum. Wie sich die farbigen Flecken der Impressionisten verbinden zu einer Vision von Duft und Wärme sehen wir der Baronin Werland zu, wie sie ein wenig, kaum spürbar, aber gerade genug für diese arme Seele mit dem Sekretär Pichwitt kokettiert und den Pastor des Ortes, Erwin Werner, aus den Selbstverständlichkeiten seines Lebens, seinem kleinen, wohlgeordneten Glück, herauswickelt, allein mit Worten, Gesten, ohne dass irgendetwas zwischen beiden geschieht. Für diese Frau wird Werner um ein Haar morden.

Lange, lange aber geschieht nicht viel. Der Pastor Werner entgleitet langsam seiner Frau, seinem Amt und sich selbst, und aus der Mitte seiner Seele schält sich eine Vitalität heraus, die der Liebe täuschend ähnlich sieht, und doch zeigt uns Keyserling nur ihre enge, kleinliche, verknotete Seite, und wir verachten den Pastor ein wenig für die fast scheinheilige Beschränkung seiner selbst. Niemals griffe er über die Grenzen der konzentrischen Kreise dieser fest gefügten Gesellschaft hinaus, und niemals erwiderte die Baronin diesen Griff. Der alte Baron wird diese Wahrheit aussprechen, an die in diesem ostpreußischen oder baltischen  Dorfe noch jeder glaubt.

Gerade, rein und hart kann Werner daher nur hassen, und so hasst er, als ein adeliger Liebhaber sich die Baronin nimmt, hasst ebenso wie der Sekretär, aber weil er stärker und aktiver ist als jener, stellt er dem anderen eine Falle auf Leben und Tod, und schreckt erst im letzten Moment zurück. Am Ende wird er im Wirtshaus sitzen mit dem Liebhaber, beide wissen beim Sekt um den beinahe vollzogenen Mord, aber für die Konsequenzen einer so ungeheuerlichen Eröffnung reicht keines Kontrahenten Vitalität noch aus, und so bleibt es bei einem leisen, höflichen, unendlich verächtlichen Händedruck.

Eines Tages aber geht die Baronin mit dem anderen auf und davon. Der alte Baron  stirbt wohlfrisiert bis zum Tode, und als zur Beerdigung die Baronin Karola zurückkommt, um allein, nach nur angedeutet unglücklichem Verlauf der Affäre, im Schloss ganz für sich zu Ende zu leben, verlassen wir den Pastor Werner im tiefen Winter, wie er am Schlosse in weitem Abstand vorbeifährt,  die Baronin grüßt, und sehen ihm nach auf dem Heimweg ins Pfarrhaus, reiben uns die vor Kälte dieses unendlich traurigem Kammerspiels schmerzenden Hände, reißen uns aus der perfekten Illusion einer perfekt komponierten, überaus feingezeichneten Welt und beneiden diesen fallenden, schwächlichen Adel ein wenig um die Güte und die Meisterschaft, die Nachsicht und die streichelnde Freundlichkeit, mit der Keyserling jene zeichnet, und die niemand später einmal aufbringen wird für unser Ende und das unserer Welt.

Fast bis auf den Mir Samir

2. January 2010 | von Modeste

Eric Newby, Ein Spaziergang im Hindukusch

Zu den charmanten Seiten von Engländern gehört der Sinn für nutzlose Dinge und Tätigkeiten. Wo die Deutschen, hat man den Eindruck, vom Reisen eine Art Ertrag erwarten, in Form von Bildung beispielsweise, in Bräune oder aber in der schwer fassbaren Münze der Spiritualität, reicht es den Briten (zumindest ihrem schreibenden Teil) offenbar, unterwegs gewesen zu sein, dort Erfahrungen gemacht zu haben, die ihnen daheim entgangen wären, und auf diesem Unterschied, nehme ich an, beruht der immense Qualitätsvorsprung der englischsprachigen Reiseliteratur vor der deutschen. Zwar gibt es auch in deutscher Sprache angenehme Ausnahmen. So hoch allerdings wie die zu recht sehr berühmte Schilderung einer Reise durch den Hindukusch von Eric Newby ragen aber auch die deutschen Spitzen selten, und dass ich nicht auf der Stelle aufgebrochen bin, gleichfalls ohne jede Kenntnis des Bergsteigens in Zentralasien den Mir Samir, einen sechstausend Meter hohen Berg, zu erklimmen, lag einzig an der derzeit etwas unruhigen Lage vor Ort und an meinem Job.

Indes ist die politische Lage in Afghanistan offenbar schon immer etwas prekärer, und auch Newby war vor seiner 1956 keineswegs berufslos. Das Telegramm an seinen Mitreisenden Hugh Carless mit dem Wortlaut „CAN YOU TRAVEL NURISTAN JUNE“ beendete vielmehr eine zehnjährige Karriere in einem Londoner Modesalon, in dem Newby als eine Art Werbefachmann tätig war, und man würde wünschen, mehr von dieser sehr, sehr amüsanten Welt zu hören, wenn nicht die anschließenden Schilderungen eines kurzen Trainings der Kunst des Bergsteigens in Wales (!) und die sodann erfolgte Abreise über Istanbul Richtung Afghanistan nicht noch kurzweiliger wäre.

Natürlich klappt nichts. Schon auf der Hinfahrt wird ein Beduine überfahren. Das Wasser ist verkeimt. Das Essen schlecht. Newby und Carless haben die ganze Zeit Durchfall, und mangels Alternativen liest Newby immer wieder “Der Hund von Baskerville”. Es ist zudem wahnsinnig kalt, die Schuhe der Reisenden erweisen sich als ziemlich ungeeignet für die extremen Gegebenheiten vor Ort, und die Bewohner des Hindukusch lieben, schildert Newby, Reisende nicht. Nicht einmal die angeheuerten Führer machen einen auch nur halbwegs vertrauenswürdigen Eindruck, und dass die beiden Reisenden heil aus dem Land wieder herausgekommen sind, wirkt eher wie ein Zufall. Dabei gibt es durchaus Abstufungen des Unangenehmen zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme vor Ort, die teilweise schon immer sehr, teilweise aber erst seit einer Generation ein bisschen muslimisch sind, aber zumindest latent gewalttätig wirken fast alle.

Einige Exkurse über die Geschichte des Landes, die verschiedenen Stämme und Sprachen sind, wenn auch weniger raumgreifend, der Vorgehensweise des ohnehin stets sehr präsenten Robert Byron ähnlich, nicht ungeschickt eingeflochten. Kaum jemals doziert Newby, stets kehrt er nach kurzen Schleifen zurück zur Reisegruppe, die eine beachtliche Strecke durchquert, wie die eingeheftete Karte ausweist. Menschen, die sich mehr als ich für die Natur in exotischen Ländern interessieren, kommen vermutlich auch auf ihre Kosten, und dass die Besteigung des Mir Samir einige hundert Meter unter dem Gipfel scheitert, bildet eine reizende Arabeske der Sinnlosigkeit, die Newby indes kaum zu erstaunen und auch nicht besonders zu enttäuschen scheint.

Zu guter Letzt: Die deutsche Übersetzung von Matthias Fienbork ist gelungen. Der Umschlag der “Anderen Bibliothek” dagegen außerordentlich lieblos und scheußlich.

Der Dunst von Indochina

14. December 2009 | von Modeste

Diese Ungeheuerlichkeit, ein Land nicht einfach zu kaufen, sondern sich zu nehmen, gleichsam aufzuessen und als eigenes Fleisch am eigenen Körper zu tragen. Kleine Beamte aus der Provinz zu Herrschern zu machen, und mit ihnen Frauen zu senden, mit den Frauen Kinder, mit den Kindern Lehrer und all das, was man vermisst, wenn man am Ende der Welt in einem viel zu großen Haus ein viel zu fremdes Land regiert.

Das Land aber lässt sich nicht verdauen, und so wird Indochina nicht ein fernes, wärmeres Frankreich, sondern etwas ganz, ganz anderes, und im Dunst über dem Mekong, in den geschäftigen, schmutzigen Straßen Saigons entsteht eine eigene, unendlich flirrende Welt, über die man uns Schlechtes erzählt, und die wir uns doch schön vorstellen, träge und elegant: Staubige Straßen, Reisfelder, Bambus, Seide und lächelnde Diener. Die Schmerzen sehen wir nicht.

Die Liebe aber bleibt sichtbar. Vielleicht gerade, weil es eine kühle, ihrer selbst kaum bewusste Liebe ist, die die alte Marguerite Duras beschreibt, denn sie, die fünfzehnjährige Tochter der verwitweten Schulleiterin von Sadec ist keine Romantikerin, und was sie mit dem viel älteren, reichen Chinesen verbindet, ist mit S*x zwar nur ungenügend beschrieben, aber Liebe, Liebe in des Wortes reiner Bedeutung ist es nicht. Ein reines Utilitätsverhältnis aber mag man die Liaison auch wiederum nicht nennen, denn mehr als Geld und Lust und Hunger nach dem, was man so Leben nennt mit 15, liegt in der warmen, feuchten Luft dieses Romans, der 1984 erschienen ist, aber in den späten Dreißigern spielt, als die Herrschaft Frankreichs über diesen Teil der Welt schon müde geworden ist, und die Risse im Gebälk tief und sichtbar.

Dass es der Duras gelingt, eine Liebesgeschichte zu schreiben, deren männlicher Protagonist nicht begehrenswert erscheint, ein kraftloser, nicht einmal schöner Sohn, ist eine Kunst und zwar keine geringe. Ganz allein um das Mädchen kreist die Erzählung, die wie zum Hohn “Der Liebhaber” heißt, als ginge es nicht allein um die Seele des Mädchens, die sich seiner schwächlichen Liebe nicht ergibt: Wie ein Baum einen prächtigen Parasiten tragen kann, eine blühende, tödliche Orchidee, die schillert und wuchert und ihm den Lebenssaft nimmt, so trägt der chinesische Bankierssohn die Liebe und das Begehren des Mädchens auf seinem schmächtigen Körper, und bisweilen erinnert – bei allen Wüsten der literarischen Distanz – dieser Bericht über Leidenschaft und Kälte der eigene Seele an Stendhal, und wie bei jenem liegt unter der gläsernen Klarheit des Wissens um die Regungen des eigenen Ich eine zweite, feine, silbrige Membran, in der sich eine zweite, schwärzere Geschichte spiegelt, die die Duras nicht aufschreibt, und die sich doch erzählt.

Der Stil freilich hält auch mit geringeren Konkurrenten nicht Schritt. Assoziativ malt die Duras Pinselstriche, Tuschezeichen, ein paar Sätze lang und bisweilen rankend ins Entlegene. Ein längeres Buch hätte an diesem Makel gelitten, doch wenn der Chinese lange Jahre später am Telephon über seine Liebe spricht, sind noch keine 200 spärlich bedruckte Seiten vorbei, und wir verlassen Madame Duras mit dem verlegenen Lächeln der Ertappten, auch wenn wir kaum wissen, warum.

Marguerite Duras
Der Liebhaber
1984

Die Liebe, die passiert

3. October 2009 | von Modeste

Ernö Szep, Die Liebe am Nachmittag

Man kennt solche Männer: Mit zwanzig sind sie unwiderstehlich (oder fühlen sich zumindest so), und was auch immer sie tun, man nimmt es ihnen nicht übel. Mit dreißig dann haben sie alles gesehen und fast alles getan, und wenn man sie mit vierzig irgendwo trifft, umweht sie eine leise Müdigkeit, ein Hauch von Ennui, eine Langeweile, die der Ahnung entspringt, dass der Kelch des Lebens von ihnen so hastig herabgestürzt wurde, dass jeder neue Wein nur schmecken kann wie längst bekannte Getränke.

Meist ist gut auszukommen mit diesen Veteranen der Nacht. Anders als manch anderer wissen sie, nichts verpasst zu haben, und dass ihnen statt einer Karriere nur viele Erinnerungen bleiben, ist den meisten kein Quell der Verbitterung, sondern ein schieres Faktum. Ein Preis, den man bezahlt. Ein bisschen staunen solche Männer manchmal, wie vollständig das Leben anderer erscheint, aber selten spürt man – trifft man sie an irgendeiner Bar, auf einem Fest morgens um vier in der Küche – Neid. Es scheint sich ausgegangen zu sein, dieses Leben, auch wenn es leicht wiegen mag gegenüber denen, die in diesen Jahren schwer beladen mit Verantwortung und Erfolgen im Wirtschaftsteil der Zeitung stehen.

Lieben aber möchte man solche Männer nicht. Nicht die schiere Zahl der Vorgängerinnen (ach, Arithmetik), die Gewöhnung vielmehr ist es, was einen zurückschrecken lässt. Nichts, meint man zu wissen, wird man den Erinnerungen und Erfahrungen solcher Männer hinzufügen können, und so nennt folgerichtig Ernö Szeps Held Mihaly seine verheiratete Geliebte nicht einmal mehr bei ihrem Namen, sondern nur bei ihrem Parfum. Cinq-Fleur.

Ein wenig zu routiniert, ein bisschen zu gleichgültig läuft diese Liebschaft durch die Seiten. Man trifft sich, man telefoniert. Man schätzt sich. Man liebt sich ganz ausgesprochen nicht. Ein bisschen erschreckend fährt diese Affäre auf allzu glatten Schienen, und am Ende – das sieht man voraus – werden sich Mihaly und Cinq-Fleur nicht trennen, sondern einfach nicht mehr sehen. Auf dem nächsten Empfang, der nächsten Premiere, werden sie sich dann zunicken, freundlich, kein Grund zu Groll, und dann ist es vorbei.

Auch Iboly wird nicht geliebt. Dass Iboly, Schauspielschülerin mit Anfang zwanzig, sich in Mihaly verliebt, weil er Dichter war und Stücke schreibt, weil er charmant ist und ihr zuhört, mag man verstehen, und ein bisschen sorgt man sich um das junge Mädchen. Noch fünf Jahre vor Beginn dieses Romans wäre Mihaly vielleicht der Grund für Tränen und Szenen und ließe sich für ein, zwei Wochen oder gar Monate hinreissen. Nun aber ist Mihaly 46, und sein Wunsch nach Ruhe überwiegt seinen Wunsch, neben einer jungen Frau zu erwachen. Als Iboly sich ihm anbietet, weicht er aus.

So gut wie nichts passiert also in diesem Roman, der erstmals 1935 in Ungarn erschienen ist. Nichts weiter, als dass ein kluger und müder Mann in einem versunkenen und doch seltsam zeitlosen Budapest altert, sich dem Alter noch ein wenig widersetzt, sein früheres Selbst gelegentlich in der offenen Hand wiegt und einen leisen Abschied feiert von sich selbst, seiner Vergangenheit und einer Zukunft, von der er weiß, dass sie nicht mehr stattfinden wird, denn irgendwann liegt alles hinter uns, was wir hätten werden können, und wenig später auch: Was wir geworden sind.