Deutsche Nachkriegsgeschichte, bevor Guido Knopp sie erfand

16. March 2011 | von

Hans Scholz, Am grünen Strand der Spree

(Antiquarisches Buch in 50er-Arrangement, der Geflügelsalat wird explizit erwähnt.)

Auf Am grünen Strand der Spree brachte mich ein SZ-Artikel zum 100. Geburtstag von Hans Scholz: Nachkriegsberlin als Ort eines Episodenromans von 1955 klang interessant. Und nun verzeichne ich einen neunen Meilenstein in meiner persönlichen Lesegeschichte.

(Warnung: Der Wikipedia-Eintrag gleichen Titels bespricht die Fernsehverfilmung von 1960 und verrät alles.)

Der Rahmen der Handlung ist ein Treffen alter Freunde in einer westberliner Bar der früheren 50er. Der Erzähler ist ein Hans Schott, der den Auftrag hat, den aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Hans-Joachim Lepsius aufzumuntern – muss dieser doch nach den Grauen der vorhergegangenen Jahre auch noch das Scheitern seiner Ehe verarbeiten.

In dieser Bar, dem Jockey-Club (unbedingt deutsch auszusprechen), ist die Stimmung zunächst ein wenig steif. Aber schon in dieser Phase erinnerte mich die Art der sprachlichen Launigkeit sehr an Walter Kempowskis Tadellöser & Wolff; im weiteren Verlauf des Romans erklingt dann auch „immerhinque!“. Die Herren haben sich als Programm vorgenommen, einander Geschichten zu erzählen. Lepsius hat die Aufzeichnungen des gemeinsamen Freundes Jürgen Wilms dabei, den er in russischer Gefangenschaft zurücklassen musste. Er liest sie vor: Polnische Naturidylle Ende der 30er wechselt sich mit der Schilderung von Grausamkeiten gegen die örtlichen Juden ab, mit derselben Detailgenauigkeit und Empathie. Unterbrochen werden diese Beschreibungen durch die Briefe der gänzlich dummen und albernen Verlobten von Wilms, die damals gerade in Italien mehrmonatige Ferien mir ihren Eltern machte.

So bitter und ernst aber ist keine der nachfolgenden Geschichten mehr. Immer wieder kehren wir in den Jockey-Club zurück, zu weiteren „Lagen“ White Lady, Henkell trocken, Canadian, Weinbrand. Mit der Stimmung werden auch die Erzählungen heiterer. Fühlte ich mich zunächst an Platons Gastmahl erinnert, entwickelt sich der Abend mehr und mehr zum Dekameron und zu den Canterbury Tales. Wir hören unter anderem von einem deutschen General stationiert in Norwegen an der Grenze zu Finnland (Offizierskasino-Rituale, Freiheitskämpfer, Jagdszenen, väterliche Toleranz), von einer schönen, klugen Frau mit aufregender internationaler Geschichte und ihrer unglücklichen jugendlichen Liebe, vom Besuch des Erzählers beim gemeinsamen Freund Koslowski in der Ostzone wenige Jahre nach dem Krieg, Historisches von den Vorfahren der schönen klugen Frau im 18. Jahrhundert, von der Suche nach einem Gefallenengrab in Kowslowskis Wohnort, und zuletzt – in den frühen Morgenstunden, als die Gesellschaft bereits bei Prärieaustern angekommen ist – eine wilde und platterotische Schelmengeschichte aus einer italienischen Pension.

Die Erzähltechniken unterscheiden sich deutlich, schließlich handelt es sich mal um handschriftliche Aufzeichnungen eines Frontsoldaten, mal um ein Drehbuch-Exposé, mal um Erinnerungen, mal um Fiktion. Die Szenen im Jockey-Club selbst sind meist reine Dialoge, aus denen sich die Handlung indirekt erschließt. Gerade diese Passagen nahmen mich mit in eine vergangene, aber sehr lebendige Welt: Nach Westberlin zwischen Kriegsende und Mauerbau. Die Menschen sind vom Krieg gezeichnet, manche körperlich (Koslowski hat ein Bein verloren, der vorbeischneiende Pianist ein Auge), jeder aber seelisch. Das Wirtschaftswunder ist eindeutig bereits ausgebrochen, doch daran partizipieren beileibe nicht alle.

Am fremdesten und gleichzeitig lebendigsten aber ist die Sprache: Hier spricht eine Generation im ihr ureigenen Jargon – und den bringt niemand zurück, auch nicht ein Guido Knopp, dessen Interviewpartner nur durch den Filter vieler Jahrzehnte erzählen können. Regelmäßig fallen lateinische Zitate, mit fortschreitender Alkoholisierung werden es immer häufiger altgriechische. Sprüche und Ansichten aus der Kaiserzeit werden durch den Kakao gezogen, in den Barszenen schlagen links und rechts One-Liner ein. Ein paar davon habe ich während der Lektüre live getwittert.

Am grünen Strand der Spree ist der einzige Roman, den der emsige Kunsthistoriker und Feuilletonist Hans Scholz veröffentlicht hat. Wie meinte der SZ-Laudator sinngemäß: Damit hatte er wohl alles gesagt, was er dazu zu sagen hatte.

Wiedergelesen: Hermann Hesses “Demian”

2. March 2011 | von

Als ich „Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend“ zum ersten Mal las, muss ich siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen sein. Das Buch gefiel mir. Eingestandenermaßen fand ich mich in dem überlegenen, non-konformistischen Außen- seiter Demian wieder. Unein- gestandenermaßen in dem verklemmten, naiven Bürgersohn Emil. Mir gefiel das okkulte Geraune, die Suche nach dem eigenen Wesenskern und die Idee, dass Licht und Finsternis zu einer Ganzheit versöhnt werden wollen. Trotzdem erschien mir auch irgendetwas an der Novelle zwielichtig, ohne dass ich genau hätte sagen können, was.

Vor ein paar Wochen habe ich den Demian noch einmal gelesen. Vermutlich ging es mir darum, das Hesse-Bashing in meinem Umfeld nicht einfach nach zu plappern, sondern mir anhand zumindest eines Werkes eine eigene Meinung zu bilden. Um das nicht gerade spannende und der eigenen, insgeheim angestrebten Profilierung (Ha, Hesse ist besser als alle sagen, und ich hab’s rausgefunden!) wenig dienliche Ergebnis vorweg zu nehmen: Hesse schreibt wirklich schlecht. Ich habe mich während der Lektüre mehrfach intensiv geschämt: Für Hesse, für mich, für Erwachsene, die Hesse als Lieblingsautor nennen.

Hesse hat „Demian“ im Herbst 1917 als Vierzigjähriger innerhalb von drei Wochen geschrieben. Er benutzte das Pseudonym Emil Sinclair, unter anderem, da er den jugendlichen Stoff unter einem frischen Namen präsentieren wollte. Hermann Hesse galt schon als etabliert.

Im Sinne der vedantisch-hinduistischen Verkündigung ”tat tvam asi” (Hesse neigt hier vermutlich am ehesten der Vishihtadvaita-Interpretation zu) sind alle Personen denen der Icherzähler begegnet zugleich Teile seines Selbst. Die Einzelseele ist die Weltseele, und nur in der Verblendung existiert eine Trennung, vergleichbar mit derjenigen von Eiswürfeln in einem Glas mit Wasser, die ihrer Substanz nach auch nichts als Wasser sind. Trifft Emil also den skrupellosen Kleinkriminellen Kromer, dann trifft er zugleich das „Böse“ in sich. Trifft er auf Demian, so trifft er seinen eigenen inneren Führer. Trifft er auf dessen Mutter Eva, so hat ihn seine jungsche Anima am Wickel.

Um das Ganze noch etwas zu verkomplizieren, gibt es auch noch eine Proto-Anima namens Beatrice (Dante winkt erhaben aus der Ferne) und einen zweiten Psychopompos namens Pistorius. Und am Ende wird es dann vollends mystisch und zugleich multi-erotisch , wenn der im ersten Weltkrieg sterbende Demian dem Ich-Erzähler einen Kuss von Eva aufdrückt.

Wer nun vermutet, dass alle Charaktere außer Emil eindimensional und ohne Entwicklung präsentiert werden, liegt ebenso richtig, wie diejenige, die mutmaßt, dass sich die Novelle konstruiert und obendrein unangenehm autobiographisch liest. Zu diesen erzählerischen Schwächen gesellt sich eine Sprache, die oft Großes und Tiefes behauptet und selten etwas wirklich zeigt und nachvollziehbar macht. Hesses Stil ist geschwätzig, pastoral und neigt zum Sentimentalen. Eine typische Passage: „Ich sah Heimat und Elternhaus, Vater und Mutter, Schwestern und Garten, ich sah mein stilles, heimatliches Schlafzimmer, sah die Schule und den Marktplatz, sah Demian und die Konfirmationsstunden – und alles dies war licht, alles war von Glanz umflossen, alles war wunderbar, göttlich und rein, und alles, alles das hatte – so wusste ich jetzt – noch gestern, noch vor Stunden, mir gehört, auf mich gewartet und war jetzt, erst jetzt in dieser Stunde, versunken und verflucht, gehörte mir nicht mehr, stieß mich aus, sah mit Ekel auf mich! Alles Liebe und Innige, was ich je bis in fernste, goldenste Kindheitsgärten zurück von meinen Eltern erfahren hatte, jeder Kuß der Mutter, jede Weihnacht, jeder fromme, helle Sonntagmorgen daheim, jede Blume im Garten – alles war verwüstet, alles hatte ich mit Füßen getreten!“

Ob ein solcher Stil schon damals wie das Reden eines engagierten, aber nicht sonderlich schlauen Gemeindepfarrers wirkte, oder erst durch die spätere Aneignung eben solcher Gemeindepfarrer in jenen Ruf gekommen ist, weiß ich nicht zu entwirren, möchte aber darauf verweisen, dass Thomas Mann den Demian als Buch von „elektrisierender Wirkung“ lobte, das „mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf“. Es kann vermutet werden, dass „Demian“ in Thema, Erzählstruktur und Stil in seiner Zeit frischer, vielleicht sogar experimentell wirkte.

Trotz der genannten Unerfreulichkeiten kommen Hesse mit Demian auch Verdienste zu: Es wird der Zeitgeist einer Sinnsuche eingefangen: Die Selbsterforschungen der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie als neue Heilsversprechen, importierte Versatzstücke aus Buddhismus und Hinduismus, Ausflüge in eine nur halb verstandene Gnosis, probeweises Aussteigertum am Monte Verità, die Ahnung einer großen Umwälzung, der Vorabend des ersten Weltkriegs, die Götterdämmerung des Bürgertums.

Auch werden existenzielle Fragen behandelt. In welchem Verhältnis stehen Konvention und Moral? Moral und Glück? Glück und Selbstverwirklichung? Wie soll sich der Mensch zum Problem des Bösen positionieren? Auf welche verschlungenen Pfade der Erkenntnis oder Verirrung führt uns unsere Sexualität, die beim Menschen immer mehr ist, als reiner Trieb, nämlich auch ein Schlachtfeld zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und den Bedürfnissen des Individuums? Und was ist überhaupt ein Individuum? Gibt es ein wahres, authentisches Selbst, oder handelt es sich dabei um ein ständig in der Konstruktion befindliches Gebilde aus Worten, Gedanken, Taten, Fremd- und Selbstzuschreibungen? Und wenn es dieses wahre Selbst gibt, das schließlich alle Gegensätze in sich vereint, was ist daran noch individuell? Ist es dann nicht längst zu einem Nicht-Ich geworden, zu Wasser, in dem nur die unerlösten, verblendeten Egos noch markant und unterscheidbar als Eiswürfel prangen?

Das sind interessante Fragen, und Hesse erscheint als aufrichtig Suchender, der eigene Erfahrungen verarbeitet. Das Problem sind die Antworten. Sie kommen zu schnell, zu oberflächlich, zu absolut. Sie klingen zu harmoniebedürftig, zu sehr nach Wunschdenken und Esoterik-Workshop. In der Pubertät und ihren Nachwehen mag einem Hesses Demian das Gefühl geben, verstanden zu werden: Die Zerrissenheit, die Suche nach einer dauerhaft tragfähigen Identität, das Misstrauen gegen das Althergebrachte, die Hoffnung auf eine Überwindung aller Gegensätze, gerade im Gebiet der verwirrenden und von Ambivalenzen durchzogenen Sexualität. So ist es zumindest mir gegangen, und Abraxas – der Gott, der gut und böse ist – blieb mir als durchaus sympathische Wesenheit in Erinnerung. In meiner heutigen Sicht hingegen erscheint mir Hesse mit seinem Demian in einer solchen Pubertät weitgehend steckengeblieben.

Wie das Leben weitergeht

27. February 2011 | von

Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden, Bernice Eisenstein

Es gibt Themen im Leben, die immer wiederkehren. Jeder Mensch hat sie, ob heimlich oder offiziell. Es gibt diese Knackpunkte, auf die trifft man in regelmäßigen Abständen und kaut aufs Neue darauf herum. Eines meiner Themen ist die Frage danach, wie Kinder durch das Leben ihrer Eltern beeinflusst werden.  Das ist nicht besonders originell, damit beschäftigen sich Wissenschaftszweige der unterschiedlichsten Art und die Literatur sowieso.

Familiengeschichten also. Eine ganz außergewöhnliche hat die Kanadierin Bernice Eisenstein geschrieben und gezeichnet. 2007 erschien sie auf Deutsch, inzwischen ist sie auch als Taschenbuch erhältlich, wie ich neulich festgestellt habe. Höchste Zeit, hier endlich einmal etwas dazu zu schreiben.

Was wissen wir in Deutschland noch von jüdischem Leben, von jüdischer Kultur, die hier vor ein paar Jahrzehnten so gnadenlos, so nachhaltig vernichtet wurde? Was wissen wir von dem Davor? Und vor allem, was wissen wir von dem, was danach kam? Überleben hört nicht auf am Tag der Befreiung. Überleben zieht sich durch die Jahre, durch die Leben, es greift durch die Generationen hindurch. Wer darüber lesen will, nehme dieses Buch zu Hand. Denn Lesen hilft verstehen.

Wie die Autorin selber schreibt:

Ich lese, um als Kind von Eltern, die unvorstellbares Leid erlitten haben, alles zu fühlen. Ich lese, um tapfer zu sein und um zu lernen, meinen Weg in einer sich ständig verändernden Welt zu finden.

Und ein bisschen Jiddisch lernen ist auch noch drin. Mehr mag ich gar nicht sagen.

Lob der Faulheit

27. January 2011 | von

Anleitung zum Müßiggang, Tom Hodgkinson

Diese elende Welt ist eingeteilt in Leistungsträger und Minderleister, in Sieger und Versager also, in Schwätzer und Schweiger nicht zuletzt. So zumindest scheint es mir in letzter Zeit. Zudem verkommt das Buchstabengepixel im Internet, genau wie auch Edelgedrucktes auf Papier, mehr und mehr zu einer doch recht armseligen Meinungsverkündigung. ICHICHICH, in enge Schleifen gelegt, schließlich muss alles nicht nur einmal, sondern am besten gleich hundertfach irgendwo verewigt sein. Und zwar einzig und allein, weil man es angeblich jetzt endlich wieder darf. Was auch immer damit gemeint sein mag.

Ich bin ratlos, was solcherlei Eifer angeht. Ich bin hilflos, immer wenn es ums Rennen und Siegen geht. Erste sein, vermutlich bin ich dazu zu alt. Eigentlich war ich aber schon immer so. Oberflächlichkeit liegt mir nicht, das haben nicht zuletzt die Bücher mir ausgetrieben. Obwohl Buch noch lange nicht Buch ist, wie wir alle im letzten Jahr schmerzlich lernen durften. Zumindest, was den Sachbuchbereich angeht.

Kein Wunder, dass ein erfolgreiches Buch über Faulheit und Trödelei, über Pausen und andere Zwischenzustände nicht in Deutschland geschrieben werden konnte. Sondern selbstverständlich in England, dem Land der Sonderlinge. Da, wo das Anderseins offensichtlich noch Substanz hat und nicht gleich unbesehen auf den Müll geschaufelt wird.

Tom Hodgkinson ist bekennender Müßiggänger, distanziert sich von jeglicher Beschäftigung der sinnlosen Art, kümmert sich dafür aber intensiv um den Bestand seiner freien, langsamen Stunden. So ist das Buch dann auch in 24 Kapitel eingeteilt, eines für jede Stunde des Tages. Angefangen mit der Qual des Aufwachens geht es im dritten Kapitel bereits um das Liegen bleiben und zur Mittagszeit um die Pflege des am Tag zuvor erworbenen Katers. Später dreht es sich noch um Essen und Trinken, Rauchen und Angeln und um alle nur denkbaren Formen von Schlaf. Hodgkinson rühmt das Denken und Träumen, er schraubt Zitate, eigene Gedanken und historische Gegebenheit in absurder Weise zusammen. Manchmal treibt er das Spiel ein bisschen weit, ein wenig eindimensional auch. So stellt die Erfindung der Glühbirne für ihn einen der größten symbolischen Siege in der Schlacht zwischen Fleiß und Nichtstun dar. (Also eigentlich eher eine Niederlage, fällt mir gerade auf. Das ist dann doch wieder amüsant. ;-)

Des Pudels Kern ist leicht ausgemacht: Hodgkinsons stiller aber stetiger Kampf gilt der Fremdvernichtung seiner Zeit durch sinnfreie Tätigkeit, vor allem natürlich durch Arbeit, die ihm keineswegs natürlich erscheint. Das verstehe ich gut, ich gebe es zu. Ich bin nicht faul, aber eigenwillig. Und ein eigener Wille reicht mitunter, um als Misserfolg gedeutet zu werden. In dieser elenden Welt zählt eben nur, was zählbar ist. Das gilt jedoch in beide Richtungen. Leider verliert der Autor gerne die Existenz einer real existierenden Armut aus den Augen. Seine Ausführungen dazu kommen ein wenig dürftig, beinah bläuäugig daher. Das Credo, man könne immer auch von weniger leben, findet schließlich schnell seine natürliche untere Grenze. Zumindest, was die persönliche Freiheit angeht. Aber sonst? Ein feines englisches Gegenstück zu preußischen Tugenden aller Art.

Hodgkinson ist inzwischen ein gemachter Müßiggänger im Süden Englands, wo dies nicht allzu schwer fällt. Es gibt mehrere Bestseller und ein eigenes Magazin. Das heißt natürlich The Idler und die Schnecke ist Kult, soweit ich weiß.

Am Schnürchen

27. December 2010 | von

Martin Mosebach, Was davor geschah

Es existiert eine merkwürdige literarische Konvention, menschliche Erlebnisse nur dann für erzählenswert zu halten, wenn sie Personen zustoßen, die sich am äußersten, gefährdeten Rande der Gesellschaft bewegen. Eine Liebesgeschichte zwischen Obdachlosen etwa, ein wenig Sozialrealismus aus dem Arbeitsamt, ungelüftete Zimmer und die Polizei, ganz als würde der lesende Bürger sich und seiner Welt weder Komödie noch Drama zutrauen. Es mag (aber vielleicht irre ich mich) auch ein wenig einfacher sein, über Menschen zu schreiben, die der durchschnittliche Leser, wie man ihn bei Buchhandlungslesungen oder im Theater antrifft, nicht recht kennt. Man merkt dann nicht gleich, wenn die Abbildung der Gegenwart nicht so arg gelungen sein sollte

Spielt eine Liebesgeschichte – nein: deren Vorgeschichte – also einmal unter Menschen, die, ohne direkt gleich im engeren Sinne reich zu sein, wenig finanzielle Sorgen haben, ein offenes Haus im Taunus führen, Gäste in diesem Hause sind, Geschäfte machen und etwas gelangweilt, aber höflich miteinander verheiratet sind, ist man daher angenehm überrascht. Das bürgerliche Liebesleben kommt ja ansonsten immer etwas schlecht weg, so als sei der Spitzensteuersatz zwingend mit erotischer Unerlöstheit verbunden, so dass man schon fast dankbar ist, wenn abseits der ganz trivialen Sphären auch einmal ein Minister a. D. auftritt, ein Unsympath letztlich, aber auch wiederum nicht so verzeichnet, dass er nur noch als Karikatur daherkäme. Auch die Kindergeneration, Leute also zwischen 20 und 30, tauchen auf, die träge, stets etwas benommene Silvi, verheiratet mit dem hoffnungslosen Sohn Hans-Jörg des ehemaligen Ministers, der levantinische Geschäftsmann Salam, das Ehepaar Hopsten und seine Kinder und Gäste, unter ihnen auch der Ich-Erzähler, ein junger Bankangestellter, neu in Frankfurt am Main, und Frau Helga Stolzier, die als eine Art Stilberaterin der Frau Hopsten auftritt, schließlich diejenige Frau einführt, die am Ende den Bankangestellten fragen wird, was denn nun wirklich geschah, bevor man zusammengekommen ist. Viele Zufälle, unspektakulär für sich genommen, kleine, amüsante, sommerliche Geschichten reihen sich wie die Perlen einer Kette aneinander, bis am Ende das Paar sich trifft.

Nahtlos gefügt wie an unsichtbaren Schnüren wechseln die Szenen in angenehm plätscherndem Parlando. Man verliebt sich nicht über Gebühr heftig, man lädt sich ein, man betrügt sich nicht ganz ohne Drama, ein anonym böser Brief trifft ins Schwarze. Am Ende trennen sich zwei Paare, damit sich eins findet, und wenn der Roman endet, hat die Nachtigall gesungen, ein Kakadu hat sich geputzt, ein Baum wurde gefällt, und ganz bar der schrillen Töne fällt der Vorhang unter verdientem Applaus.

Im Herzen des Schreckens

19. December 2010 | von

Thomas Ligotti:  Teatro Grotesco (Virgin Books 2008)

Hätten mich alle Geschichten des hier zu besprechenden Buches so fasziniert wie die erste („Purity“) und die letzte („The Shadow, the Darkness“) – ich hätte keine Rezension dazu veröffentlicht. Das, was für mich auf eine eng mit meiner Person verwobene Weise großartig ist, möchte ich nur mit den Wenigsten teilen. Vielleicht ist das egoistisch, vor allem aber  verbirgt sich dahinter die Sorge, dass unter den Augen Anderer die Magie geschwächt wird.

Ligotti wollte nach eigener Aussage stets nur ein Insider-Autor sein, und wenn man sieht, dass sein nicht mehr verlegtes Frühwerk hei Amazon für bis zu 200 € gehandelt wird, kann man vermuten: Es ist ihm gelungen.

Wie bei H.P. Lovecraft haben Ligottis Horrorerzählungen einen pessimistischen Überbau. Das Entsetzen ist nicht allein Reaktion auf singuläre Phänomene, sondern in letzter Konsequenz auf die Existenz selbst. Wer dieser “dunklen Gnosis” einmal teilhaftig geworden ist, kann, wenn überhaupt, nur noch durch ein Eingeständnis der Sinnlosigkeit und vielleicht eine zunehmende Identifikation mit dem Gräßlichen in der Monstrosität des Daseins ausharren. Hierzu ein Zitat aus den Erzählfragmenten „Sideshow and other stories“:

“I wanted to believe that this artist had escaped the dreams and demons of all sentiment in order to explore the foul and crummy delights of a universe where everything had been reduced to three stark principles: first, that there was nowhere for you to go; second, that there was nothing for you to do; and third, that there was no one for you to know. Of course, I knew that this view was an illusion like any other, but it was also one that had sustained me so long and so well — as long and as well as any other illusion and perhaps longer, perhaps better.”

In der Titelgeschichte heißt es: “It has always seemed to me that my existence consisted purely and exclusively of nothing but the most outrageous nonsense.”

Ähnlich wie Edgar Allan Poe nähert sich Ligotti der zersetzenden Einsicht in den Widersinn der eigenen Identität und die Widerwärtigkeit des Universums oft mit nüchterner Beobachtung und scheinbarer Rationalität. Auch der größte Irrwitz (wie z.B. die Fabrik in „The Red Tower“) wird mit einer gewissen Gelassenheit dargestellt: Vor dem Unausweichlichen erscheint jede Hysterie unangebracht.

Im Genre des Horrors gehört Ligotti zu den großen Stilisten. In seinen Mitteln limitierter als Poe, übertrifft er sprachlich Lovecraft mit Leichtigkeit. Dennoch neigt auch Ligotti in manchen Passagen zu einem lovecraftschen „Zuviel“. Zwar weiß er sich bei dem Gebrauch von Adjektiven auf das Nötige zu beschränken, aber beizeiten wiederholt er Gedankengänge und leicht variierte Beschreibungen recht häufig, ohne dass jedes Mal die vermutlich angestrebte Sogwirkung (im Sinne eines Thomas Bernhard, der neben Nabokov, Poe und Kafka zu Ligottis Vorbildern zählt) erreicht würde. Obendrein philosophieren die Ich-Erzähler (z.B. in der größtenteils fesselnden Geschichte „The Gas Station Carnivals“) hin und wieder etwas zu ungezügelt vor sich hin und schwächen damit leider die Wirkung der meist atmosphärisch äußerst dichten Erzählungen.

Neben seinem stilistischen Anspruch sowie seinem konsequenten und unbestechlichen Pessimismus, liegt eine weitere Stärke Ligottis darin, dass er moderne Arbeitsbedingungen thematisiert. Texte wie „My Case for Retributive Action” oder „Our Temporary Supervisor“ könnten mit dem Sub-Genre-Etikett “Corporate Horror” versehen werden. Auch die wiederkehrenden Darstellungen von Zirkeln erfolgloser Künsterlerinnen und Künstler bergen einen subtilen schwarzen Humor, der zusammen mit der gotischen Eleganz der ligottischen Phantasmagorien, deren inhaltliche Finsternis erträglich macht. Oder, um es mit Ligotti selbst zu sagen: „We may hide from horror only in the heart of horror.”

P.S.: Die Übersetzungen ins Deutsche sollen nicht besonders gelungen sein.

Misanthropie und Romantik

17. November 2010 | von

Sibylle Berg, Der Mann schläft

Die Misanthropin, die als Erzählerin im Zentrum von Sibylle Bergs Der Mann schläft von 2010 steht, hat mich meist an Else Buschheuer erinnerte, manchmal auch an Frau Modeste, hin und wieder an Frau Gaga. So sehr war noch keine meiner Buchlektüren von Blogleserei beeinflusst. Else Buchheuer äußert ihre Unbehagen den Menschen gegenüber inzwischen hauptsächlich bei Twitter (z.B. „merke: auf die einleitungsfrage‚ darf ich offen zu Ihnen sein?‘ stets frenetisch den kopf schütteln!“). Frau Modeste ist den Menschen erheblich zugetaner, leidet aber doch hin und wieder an den Durchschnittsexemplaren der Gattung. Gaga wiederum hat kürzlich einige anerzogene Hemmung fallengelassen und zugegeben, wie sehr sie oft menschliche Kontakte als Belästigung empfindet.

Die Erzählerin ist eine nicht mehr junge Frau, die bis in ihr Innerstes am liebsten für sich ist. Die Grundtriebe nötigen sie dazu, ihre Wohnung hin und wieder zu verlassen und mit Menschen in Kontakt zu treten, doch selbst diese Interaktionen kosten sie immer mehr Energie. Das macht die Fassungslosigkeit nachvollziehbar, mit der diese Frau eines Tages vor der Entdeckung steht, dass es einen Menschen gibt, der sie überhaupt nicht stört, in dessen Anwesenheit sie sich sogar wohler fühlt als in dessen Abwesenheit, um den sie sich sorgt, den sie auch ohne erotisches Begehren physisch herbeisehnt.

Die Geschichte hat zwei Handlungsstränge, die einander kapitelweise abwechseln: Der eine beginnt vor vier Jahren und erzählt die Zeit, in der die Ich diesen Mann kennenlernte und ein Leben mit ihm begann. Der zweite spielt in der Gegenwart auf einer Insel vor Hongkong, auf der sich die Frau jetzt ohne den Mann befindet. Die Vergangenheit erzählt sie bis heran an die Gegenwart, in den letzten Kapiteln decken sich die Stränge. Im Zentrum stehen die Liebe und der unerträgliche Schmerz der Erzählerin, erzeugt durch die Lücke, die die Abwesenheit des Mannes hinterlassen hat.

Wieder wünschte ich, ich hätte den Klappentext nicht gelesen: Er nimmt als Tatsache vorweg, was der Roman zumindest im ersten Drittel lediglich als Möglichkeit durchscheinen lässt, nämlich was mit dem titelgebenden Mann, der schläft, los ist. Kann sich eine Autorin dagegen nicht wehren? Hat man ihr erklärt, das Buch werde sich nicht verkaufen, wenn dem Klappentext diese Schlüsselinformation fehlt? Zum wiederholten Mal nehme ich mir vor, Klappentexte erst nach der Lektüre eines Romans zu lesen.

Die Erzählerin drückt sich ausgesprochen manieriert aus – sie scheint nicht nur der Menschen, sondern auch ihrer heimeligsten Wörter überdrüssig. Manchmal treibt sie das bis hart an die Grenze des Hinnehmbaren, zum Beispiel wenn sie einen fehlgeschlagenen Morgengruß mit „versuche ich ihr die Tageszeit zuzuraunen“ ausdrückt.

Fast keine der Personen hat einen Namen, sie sind „der Mann“, „der Masseur“, „die schwierige Bekannte“, „der unsichtbare Herr“, „die Prostituierte“. Ausnahmen sind ein Mädchen namens Kim und ein Cafébesitzer Jack. Die Geschichte all dieser Menschen sind Teil des Romans, mal mehr, mal weniger konventionell erzählt.

Eigentümlich ist der Roman, doch ist er surreal oder bloß nicht-realistisch? Viele Details sind bizarr, zum Beispiel spielen selbst gebaute Archen / Raumschiffe und Ritualmorde eine Rolle. Und die Wahrnehmung der Erzählerin entzieht sich gerne mal normaler Überprüfbarkeit – wenn sie zum Beispiel beiläufig berichtet, dass sie durch ein Fenster einen aus der Schule heimkehrenden Buben beobachtet, der seine Großmutter umarmt und ihr dann ein Beil in den Kopf schlägt. Andere Details wieder widersetzen sich einfach den Erwartungen an realistisches Erzählen: Geld kommt im ganzen Roman nicht vor, nie wird etwas bezahlt, und die materielle Grundlage für einen monatelangen Aufenthalt auf einer asiatischen Ferieninsel ist kein Thema.

Dann wiederum liefert die Geschichte die realistischste Beschreibung von Liebe, die ich je gelesen habe. So kam ich ja auch auf das Buch: über ein Interview mit Sibylle Berg. Die Klischeeliebe der Filme, der Musiktexte, der Werbung will uns nur Dinge und Dienstleitungen verkaufen, so erzählt es auch der Roman – es ist völlig hirnrissig, sich zur Sehnsucht nach dieser Klebrigkeit manipulieren zu lassen. Die Liebe in Der Mann schläft, die einfach dafür sorgt, dass es jemandem dauerhaft besser geht, kommt in der Literatur kaum vor (obwohl sie durchaus romantisch im kulturhistorischen Sinn ist und irrational).

Die Erfindung des Tuntentums

2. November 2010 | von

Quentin Crisp, The Naked Civil Servant.

Aber sicher kennen Sie alle Quentin Crisp: Das ist der alte Herr, der im Video zu Stings „Englishman in New York“ fast häufiger im Bild zu sehen ist als Herr Sting selbst.

Quentin Crisp wurde 1908 in Südengland geboren und war eine schrille Gestalt (möglicherweise wurde diese Bezeichnung eigens für ihn erfunden). 1968 veröffentlichte er seine Autobiografie The Naked Civil Servant. Darin beschreibt er, wie er als junger Bursche seine Homosexualität entdeckte, sich bis ins Mark dafür schämte und in einer unwiderstehlichen Purzelbaum-Logik beschloss, sich fortan so zu verhalten und herauszuputzen, dass absolut niemand Zweifel an ihr haben konnte. Womit ich diese Umstände allerdings erheblich schlüssiger zusammengefasst habe als Crisp selbst sie beschreibt. Denn: Zu den vielen Dingen, die dieser bezaubernde Mensch nicht wirklich gut kann, gehört das Schreiben – wie er selbst auch nicht müde wird zu versichern und damit zu belegen, wie oft er vergeblich versucht habe, Selbstgeschriebenes zu veröffentlichen. Aber das macht überhaupt nichts: Crisp ist ein Meister der Bonmots; sein Lebensrückblick dient in erster Linie dazu möglichst viele wundervoll elaborierte Formulierungen unterzubringen. Kein Wunder, dass dieses Büchlein in unserem Haushalt landete, weil der Mitbewohner Quentin Crisp aus seinem Penguin Book of Modern Humorous Quotations kannte.

Crisp gibt freimütig zu, dass er nichts so richtig kann, nicht mal in einem Maß, das ihm einen Gelderwerb sichern würde. Seine Begabung, so stellt er schon in jungen Jahren fest, lag nicht in doing, sondern in being, doch es dauerte sehr lange, bis er davon leben konnte.

Er führt uns durch das halbseidene London der 20er und 30er, durch Schwulencafés und Boheme-Spelunken, durch die damals prosperierenden Werbeagenturen, die ihm hin und wieder Arbeit gaben. Und Crisp teilt mit uns den Spaß, den ihm der Ausbruch des 2. Weltkriegs bereitete.

Viele seiner Beobachtungen sind klarsichtig, viele allerdings himmelschreiender Blödsinn – Hauptsache sie klingen gut. Schließlich war Crisp nach eigener Beschreibung „a shallow and horribly articulate personality“. Einige Beispiele:

Mit Mitte 30 findet Crisp sich zu seiner großen Überraschung mal wieder in echtem Lohn und Brot, und zwar in einem Verlag:

Finding it impossible to take any further interest in myself because I had exhausted all the potentialities of my character, I decided, since I was suddenly surrounded by new people in a new setting, that I would try to devote some attention to them. It wasn’t easy.

Im Vorbeigehen merkt er an anderer Stelle an:

I never understood music. It all seemed to me to be the maximum amount of noise conveying the minimum amount of information.

Crisp interessiert sich sehr für Kinofilme. Doch die Diven der 50er enttäuschen den Verehrer von Brigitte Helm, Greta Garbo und Marlene Dietrich:

…there had to be a mechanical doll whose only recommendation was her infinite availability. The woman who came to embody this ideal to the full was Marilyn Monroe. Her directors persuaded her to flaunt her astonishing sexual equipment before us with the touching defencelessness of a retarded child. She was what the modern young man most desires in life – a mistress who could be won without being wooed. She was the football pool of love.
This was no kind of diet for anyone brought up on Rider Haggard.

The Naked Civil Servant ist ein ungelenkes, exzentrisches Buch. Es hat mir sehr gut gefallen.

Die Einsamkeit der Träumenden

22. September 2010 | von

Richard Yates: Revolutionary Road (Vintage Books 2009)

Ach herrlich. Endlich hat einmal alles geklappt: Mir wurde ein Buch empfohlen und ich habe es in Wochenfrist gekauft und dann tatsächlich auch gelesen, ganz, und obendrein so toll gefunden, dass ich dem Empfehlenden schon bald mehrere enthusiastische Mails schreiben musste – und wann passiert so etwas schon einmal?

Das 1961 erschienene „Revolutionary Road“ ist ein echter Knaller. Ein Buch, nach dessen Lektüre ich mich fragte, ob ich tatsächlich weiterschreiben oder den bei anhaltender Erfolglosigkeit auf 40 angesetzten Selbstmord auf dieses Jahr vorziehen soll. Menschen, die nicht selbst schreiben, kann das Buch ebenfalls in Richtung Selbstmord oder zumindest Scheidung bzw. Trennung motivieren. Kurzum: ein großartiges Buch.

Die Geschichte spielt 1955 in einem Vorort von Conneticut, und trotz des Zeit- und Lokalkolorits, haftet dem Geschehen nichts Antiquiertes oder Fernes an. Franklin und April Wheeler sind Anfang 30, haben einen Jungen und ein Mädchen, ein Haus, eine gute Gesundheit und durchaus etwas in der Rübe. Frank arbeitet in New York in einem drögen Bürojob, der ihn weder herausfordert noch ausfüllt. In Phantasien oder Gesprächen mit seinem alkoholkranken Kollegen erhebt er sich Tag für Tag über den Stumpfsinn der Tätigkeit und der Kollegen. April hat sich nur scheinbar in die ihr zugedachte Rolle als repräsentative Gattin, Hausfrau und Mutter gefügt. Sie trauert ihrer abgebrochenen Schauspielerkarriere nach und wagt sogar einen kleinen Neustart in einer lokalen Laienspielgruppe. Mit der Premiere des Stückes „The Petrified Forest“ beginnt der Roman, und es ist kein Zufall, dass wir gleich im ersten Kapitel einer Theateraufführung beiwohnen, die, zumindest was April angeht, vielversprechend beginnt und dann immer bemühter wird. Schließlich gleicht auch das Ehe- und Familienleben der Wheelers zunehmend einer hölzernen Inszenierung. Mit dem peinlichen Theaterabend und den Versuchen Franks seine Frau aufzuheitern, beginnt eine Ehekrise, die erst dann beigelegt scheint, als April einen kühnen Plan präsentiert: Raus aus der „spießigen“ Vorstadt, in der die Familien große Schilder wie „The Millers“ vor ihr Anwesen pflanzen, ab nach Paris. Weg von der oberflächlichen amerikanischen Konsumkultur, hinein ins alte, kultivierte Europa. Sie wird dort aufgrund ihrer Sprachkenntnisse als Sekretärin arbeiten, er soll dort seine wahre Berufung finden. Denn dass er zu Höherem geschaffen ist, daran besteht zumindest bei ihm kein bewusster Zweifel. Frank und April geht es gut, als sie sich ausmalen, wie sie ihrer Maklerin Mrs. Givings und dem befreundeten Paar Campbell eine Nase drehen und endlich sich und anderen beweisen, dass sie etwas Besseres sind. Wie der aus Konformität geborene Kampf gegen die Konformität endet, sei hier nicht verraten, auch wenn ich vermute, dass einige bereits die Verfilmung „Zeiten des Aufruhrs“ von 2008 kennen, die ich allerdings nicht gesehen habe.

Dieser aus heutiger Sicht nicht herausragend originell klingende Plot lebt von der absoluten Glaubwürdigkeit der Protagonisten, ihrer Motive, Dialoge und Handlungen. Die Charaktere werden seziert, aber nicht verraten. Yates’ Blick auf seine Figuren ist kühl, aber nicht lieblos, auch wenn er offenbar die meisten Sympathien für den in einem Irrenhaus untergebrachten Sohn der Maklerin zu haben scheint. Die Sprache des Romans ist zwingend, einfach, nie prätentiös und erzählt scheinbar mühelos etwas Trauriges und Wahres über das Leben zweier spezieller Menschen und der Menschheit allgemein. Der Handlungsaufbau ist makellos und mitreißend. Es gibt, anders als bei vielen „großen“ (männlichen) Autoren, keine Spur von Sexismus, Selbstgefälligkeit oder Geschwätzigkeit.

Richard Yates, der „Revolutionary Road“ im Alter von 35 Jahren nach seiner ersten Ehescheidung als sein Romandebut veröffentlichte, wurde früh ein Liebling der Kritiker- und Autorenschaft, verkaufte von den Hardcoverausgaben seiner Bücher aber nie mehr als 12.000 Stück. Schon vor seinem Tod geriet er zunehmend in Vergessenheit, ist aber heute bekannter als je zuvor, nicht zuletzt wegen eines leidenschaftlichen Aufsatzes von  Stewart O’Nan, der 1999 in der Boston Review erschien.

Nachtrag: Da ich das Buch sofort nach der Empfehlung haben wollte, habe ich das öde ummantelte “Buch zum Film” gekauft, und muss mir nun die Beschimpfung “Buch-zum-Film-Leser” gefallen lassen.

Spurensuche in Weinkellern

15. September 2010 | von

Alfred Komarek, Himmel, Polt und Hölle, erschienen 2001

Der Klappentext beginnt so:

Ein glühend heißer Sommer im Wiesbachtal. Doch wieder mal trügt die Landidylle. Einer beginnt zu zündeln, aus dummen Späßen werden handfeste Schweinereien, schließlich Sabotage und – Mord.
Simon Polt ermittelt diesmal nicht nur in Wirtshäusern und Kellergassen, sondern auch an einem Ort, den er bislang nur mit respektvoller Scheu betreten hat, dem Pfarrhaus.

Sieht aus wie ein weiterer der im vergangenen Jahrzehnt Mode gewordenen Heimatkrimis? Ist es auch. Dafür aber ein recht netter.

Vor zwei Wochen hatte ich von einer Weinverkostung in Gols aus den Mitbewohner angerufen und ihm atemlos von meinen Erlebnissen des Tages erzählt. Das komme ihm bekannt vor, meinte er, er habe da einen Krimi, der im beschriebenen Ambiente spiele. (Ich glaube: Wenn ich mir in den nächsten 20 Jahren kein einziges Buch mehr kaufte und mich nur durch des Mitbewohners Bibliothek läse, würde mir nicht langweilig.) (Wenn! Keine Angst, Frau Meyer-Clason.) Ich bat den Herrn also, mir das Buch rauszulegen.

Wir befinden uns im niederösterreichischen Weinviertel und sehen die Welt personal erzählt aus der Perspektive des Dorfkriminalers („Gendarmen“) Simon Polt. Wirklich greifbar ist er mir allerdings dennoch bis zum Ende des Buches nicht geworden. Das lag an solchen Kleinigkeiten wie der, dass Polt ganz zu Anfang als „von achtungsgebietender Leibesfülle“ geschildert wird, der weitere Text mir das aber an nichts beweist: Er passt durch jeden Mauerspalt ohne auch nur den Bauch einzuziehen, er setzt sich auf jede noch so kleine Bank, ohne dass diese ächzte, dafür fährt auch die längsten und steilsten Strecken mühelos mit dem Rad – nach und nach passte ich als Leserin mein inneres Bild von dem Herrn an, bis von Leibesfülle nicht mehr die Rede sein konnte.

Das Dorf quillt vor skurriler Gestalten mit skurrilen Lebenswegen über, im Verlauf der Handlung ergänzt durch zwei Wien-Importe, die in Erscheinung und Ausdrucksweise in ein Skurrilitätswettrennen mit der heimischen Bevölkerung geschickt werden. Das ist durchaus originell und nett ausgedacht.

Um Stereotype kommen wir leider trotzdem nicht herum: Der Lehrer sagt „Setzen!“, der Pfarrer wird mit „Hochwürden“ angesprochen und sagt „mein Sohn“, die Lehrerin ist hübsch und lässt jeden Mann, dem sie begegnet, denken, dass er bei ihr jederzeit gerne Schüler gewesen wäre.

Wirklich schön ist das Weinambiente. Es wird sich durch zahlreiche Presshäuser und Weinkeller verkostet, dabei ernst zu nehmend gefachsimpelt. Dass ausgerechnet ein Cabernet Sauvignon zum Mordinstrument wird, könnte man als Kritik an der damaligen österreichischen Mode sehen, angesagte Weinsorten aus USA anzubauen (habe mir dieses Jahr in Gols sagen lassen, man habe damit aufgehört und sich statt dessen autochthonen und regional typischen Rebsorten zugewandt).

Habe mich insgesamt nicht unter Niveau amüsiert, aber keine Lust auf weitere Romane dieser Serie bekommen.