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Kinderquälen als gesamtgesellschaftliches Phänomen

14. April 2010 | von Anselm Neft

414GCMCW7FL__SL500_AA300_Hans-Georg Behr: Fast eine Kindheit  (Eichborn, 2002)

Der Titel ist mehrdeutig. „Fast eine Kindheit“ legt zum einen nahe, dass wir es mit einer Autobiographie zu tun haben, die sich mit einer Kindheit, wenn auch nicht in ihrer chronologischen Gesamtheit befasst. Das „fast“ kann aber auch auf den autobiographischen Gehalt bezogen werden. Nicht nur, weil Erinnerungen unzuverlässig sind, sondern auch, weil Behr nicht durchweg im Sinn gehabt haben mag, eigene Erlebnisse exakt aufzuschreiben. Schließlich kann auch noch eine pädagogische Behauptung aus dem Titel heraus gelesen werden: Das, was das Kind hier erlebt, ist so von autoritärem Zwang und Traumata geprägt, dass von einer Kindheit, wie sie sein sollte, nicht gesprochen werden kann.

Behrs kindlicher Erzähler ist kein „Ich“ sondern ein „Man“. Die großbürgerliche Familie hat dem 1937 geborenen Jungen das „Ich-Sagen“ frühzeitig abtrainiert. Geschildert wird das Leben auf einem Gutshof in Österreich, die hierarchische Struktur von Familie und Arbeitswelt, die Bindung des Kindes an eine überforderte Mutter, die um die Reste ihrer musikalischen Karriere kämpft und nebenbei das Fehlen des Vaters, eines NS-Offiziers, durch Härte ausgleichen will. Geschildert werden auch die „antiklerikalen“ und „antifaschistischen“, aber gleichfalls prügelnden Großeltern, die bei aller Faszination unzugänglich und fern bleiben, sowie das vielfältige Personal der spätfeudalen Struktur. Wir lernen aus den Augen des Kindes Nazigrößen wie „Onkel Hermann“, „Onkel Josef“ und „Onkel Heinrich“ und die Hautevolee der damaligen Salzburger Musikwelt (Wagner, Furtwängler, Strauss)  kennen, erleben Bombenangriffe, Russenbesatzung und die scheinbare politische Kehrtwende nach der Kapitulation Nazideutschlands im Mai 1945, der Zeit, ab der das Kind beginnt zu stottern.

Das letzte Drittel des 360 Seiten langen Buches befasst sich vorwiegend mit der bedrückenden und durch und durch missbräuchlichen Atmosphäre, der das Kind in einem katholischen Internat ausgeliefert ist. Die Verquickung von Gehorsam, unterdrückter Sexualität, Sprachlosigkeit, Spitzeltum und alles durchdringender Verlogenheit wird auf manchen Seiten so greifbar, dass es dem Lesenden die Luft nimmt. Die Stärke der Schilderung liegt auch hier in der schlichten und vorurteilslosen Perspektive des Kindes, die Sprechweisen entlarvt, resistent ist gegen Pathos und intellektuelle Mätzchen und die für keine Ideologie oder Schwarz-weiß-Moral Partei ergreift, sondern nur für die unschuldigen Bedürfnisse eines Individuums.

Durch diese teilweise überaus unterhaltsame Distanz zwischen Kind und Umwelt, die natürlich der narrative Trick eines Erwachsenen ist, ergeben sich gerade bei radikal subjektiver Erzählhaltung Einsichten in überindividuelle Zusammenhänge.

Wer die Autobiographie von Thomas Bernhard liebt und mit Interesse einen Film wie Michael Hanekes „Das weiße Band“ gesehen hat, sollte unbedingt einen Blick in „Fast eine Kindheit“ werfen, auch wenn Behr in erster Linie Journalist und stilistisch mit Bernhard nicht zu messen ist.

Zum Schluss möchte ich drei Passagen des Buches wiedergeben, um dessen Stil zu illustrieren:

„Ein nur etwas geringerer Schrecken war das Krokodil. Bei seinem ersten Auftreten hatte es dieselbe Aufgabe wie der Schürzengeist, da es aber nur mit seinem langen Schnabel klapperte, fehlte ihm die letzte Gewalt, und man konnte es hassen. Es war auch wirklich sehr lästig. Oft tauchte es nämlich unvorhergesehen am Horizont des Kindes auf, auf der anderen Seite der Tischkante, und entriss ihm das Spielzeug, das gerade Seele angenommen hatte. Dann war meist wiederum Essenszeit, doch das Kind wollte nicht mehr essen. Das Krokodil wurde ein Feind erster Ordnung – ein Wort, das dem Kind aus dem Radio ins Hirn gefallen war – (…) nun war dem Krokodil der Krieg erklärt, und der musste bis zum Endsieg durchgekämpft werden.“

„Onkel Hermann grinste über das ganze Gesicht, das sehr viel war, und gab der Mutter einen sehr aufwendigen Handkuss (. . .). Dann näherte er sich dem Kind, fasste sein Kinn, drückte es ganz fest und zog ihm die Lefzen so hoch, dass es nur noch „Au!“ sagen konnte.“

 „Einmal hatte man vom Suderer einen fürchterlichen Anschiss und einen Pinsch bekommen, weil man auf die Frage, was Gott denn so tue, „er sitzt im Himmel und spielt“ geantwortet hatte. Er hätte doch seinen eigenen Sohn auf die Erde geschickt, damit ihn die Juden umbringen, und er hätte ihn als Juden auf die Erde geschickt, damit sie ihn umbrächten, und dann habe er die Juden verdammt, weil er gewusst hatte, dass sie es tun würden, weil er auch noch allwissend ist. So war es richtig, und es war so widerlich, dass der Junge am liebsten nicht an Gott dachte.“