Archiv für die Rubrik ‘Kunstbücher’

das leben als album

6. February 2012 | von Casino

Nicolaus Schmidt: facebook:friends, Kerber-Verlag 2012

letzte woche war ich auf einer finissage und habe mich dort im vorgestellten buch festgelesen. ich habe keines, weil ich mich nicht getraut habe, den autoren (friend of mine) um eines zu bitten, außerdem soll man ja grade die bücher von freunden unbedingt kaufen, aber das war mir dann zu komplex als interaktion. nicolaus schmidt hat für sein neues buch die profilbilder seiner facebookfreunde durchgesehen und eine auswahl davon als buntes und überraschendes kaleidoskop veröffentlicht, es sind dabei alben der unterschiedlichsten personen zusammengekommen. er hat einige dieser freunde auch über deren fb-nutzung ausgefragt, in den texten werden die möglichen umgangsarten mit dem monsternetzwerk nochmal gespiegelt, es geht von “weil alle es machen” bis zu “facebook ist mein leben”.
ich hab in der auswahl von nicolaus einen hauptunterschied zwischen älteren und jüngeren nutzern gesehen: das leben der jüngeren findet direkt auf facebook statt, es passiert dort, jetzt grade, es wird nicht mehr erzählt wie von uns, den eher traditionelleren vernetzten. wir leben außerhalb von facebook, nehme ich mal an, dort landen spuren von veranstaltungen, reisen, filmen oder büchern/texten, an denen wir teilgenommen haben, ganz klar mit einem chronologischen aspekt, postkarten von der reise durchs soziale leben, höchstens noch marketinghilfe für events jeder art, mit diesen einladungen und dem ewigen kommst du? kommst du?- gefrage wie bei kindergeburtstagen.

die anderen, die fb-natives sind auch mit leichter hand ausgewählt, die bilder total anders, es sind behauptungen, kostümierungen, fließende bunte einzelteile, die wenig von der welt zeigen, sie sind alle teil eines selbstentwurfs, denn man muss/darf, whatever, sich ja inzwischen selber entwerfen, designen. ob es diese person im realen leben wirklich gibt, ist nicht mehr interessant, die bilder zeigen alles wesentliche, sie sind ein lautes ich bin. die inszenierung ist nicht mehr nur maske, sie scheint weit unter die haut gerutscht und soll mit dem kern identisch werden, mit dem armen kleinen ego, das bei uns allen irgendwo unter der schale sitzt. wie christoph meckel es einmal so trefflich beschrieben hat: “Ich seh dich /schön verwandelt in den Traum von dir –/ aber du, in der Zeit, verletzlich, verführbar/ zitternd vor Verlangen, angstvoll, sprachlos”.

die erste zeile des zitierten gedichts, aus “Souterrain” passt genauso, zur gegenwart und zu dieser alben-auswahl im buch, sie lautet: “Immer mehr Verlangen nach facilité“, da kann man ja nur jaja brüllen, laut.

zurück zum buch: wenn ich mir diese ausgewählten fotos der natives anschaue, dann brauche ich keine fragen mehr stellen, es ist alles gesagt, die wirklichen personen dahinter sind nicht relevant, es sind alles wysiwyg-figuren. sie haben eine ganz eigene konsistenz, bisschen dorian gray, bisschen kunstwerk, oder ist das jetzt zu psycho? well, maybe. ich finde den gedanken total faszinierend, ich bin einfach noch nicht drauf gekommen: was, wenn es tatsächlich genügt, sich ein anderes leben einfach zu entwerfen? wenn man es gar nicht wirklich leben muss? das ist doch schon verlockend.

facebook : friends zeigt jedenfalls viel mehr, als ich dachte, als ich zuerst davon gelesen habe – natürlich in einer facebook-einladung. es ist ein schönes kaffetisch-buch für alle leute, die sonst nicht immer im netz hängen, aber wissen wollen, wie das alles so ist. oder für die, die wünschen, das etwas bleiben möge von all dem gewirbel.