Archiv für February 2010

Out of Berlin

28. February 2010 | von engl

Und im Zweifel für dich selbst, Elisabeth Rank

rank_und_im_zweifel_fur_dich_selbst Ich tue mich ja grundsätzlich schwer mit Büchern, auf denen hinten – also außen – schon draufsteht, dass sie angeblich irgendetwas mit einer bestimmten Generation zu tun haben sollen. Zumal es sich natürlich nie um meine Generation handelt, über die wird schon lange nicht mehr geschrieben. Falls überhaupt jemals über sie geschrieben wurde. Wenn außerdem noch Schlagworte wie Zeitgeist oder Lebensgefühl hinzukommen, dann war’s das für mich. Normalerweise.

Das ist natürlich ungerecht, ich weiß. Vor allem ist es ungerecht den Autoren gegenüber, denn die können in den wenigsten Fällen etwas für den Unsinn, den ein Verlag außen auf das Buch drucken möchte. Ebenso wenig Einfluss haben sie meistens auf die Covergestaltung, die in diesem Fall* allerdings nahezu genial ist. Von Anfang an weiß ich einfach nicht, wie es richtig ist, immerzu nehme ich das Buch falsch herum zur Hand. Und das ändert sich auch während der gesamten Lesephase nicht.

Gelesen habe ich es also, von vorne bis hinten, auch wenn es nicht Liebe auf den ersten Blick war. Nicht einmal Liebe auf den zweiten Blick, der Text liest sich nicht einfach mal so eben nebenbei. Das gefällt mir ja eigentlich. Doch dass mich dann gleich auf der ersten Seite, in der zweiten Zeile ein derart schräges, nahezu fehlerhaftes Bild anzickt, vermag ich nur selten gelassen zu übergehen.

Es ist ein Glück, dass sich dieser Eindruck sehr schnell verflüchtigt. Dass sich stattdessen ein Einblick in eine ausgesprochen langsame und tiefgreifende Geschichte auftut, die zu lesen sich definitiv lohnt. Und das nicht nur, weil die möglicherweise schrägen Bilder, die leider hier und da immer wieder einmal auftauchen, von unzähligen anderen, mehr als gelungenen, treffsicheren Einsichten mehr als nur wettgemacht werden. Knappe Sätze, gut auf den Punkt gebracht, eröffnen mitunter so etwas wie Wahrheit. Das ist viel. Das ist gut. Das verstehe auch ich, die ich nicht diesem Generationending zuzurechnen bin. Immer wieder erreicht mich beim Lesen ein kleiner Schreck der Wiedererkenntnis.

Dabei ist es ein großer Schreck, der dem Buch vorausgeht. Eine Katastrophe. Tim ist tot, von einem LKW überfahren. Das allein schon eine unumstürzliche Wahrheit. Wer Berlin kennt, der erkennt auch den Ort des Geschehens. Ein (vermeintlicher) Dreh- und Angelpunkt des modernen Alltags irgendeiner Generation. Was weiß ich? Das ist unwichtig, zum Glück. Spielt im Weiteren kaum eine Rolle.  Lene, Tims Freundin, flüchtet nach der Todesnachricht verzweifelt aus der Stadt. Das Zeitgeistberlin rückt in den Hintergrund, wo es in der Gewissheit eines derart brutalen Abschieds wohl auch hingehört. Alles ist anders, nicht mehr Berlin. Nichts ist mehr dort, wo es vorher war. Und wie es war. Wie es hätte werden können, vielleicht. Plötzlich out of order. Tonia, Lenes Freundin, begleitet diese auf einer Irrfahrt durch die mecklenburgische Sommerlandschaft, bis hoch an die Ostsee. Tonia ist es auch, die auf 200 Seiten davon berichtet. Viel mehr passiert nicht.

Es ist die Wahl dieser randständigen  „Hauptfigur”, die für mich den Reiz des Buches ausmacht. Tonias Hilflosigkeit und Erschöpfung, gleich daneben ihre detaillierten Betrachtungen aus persönlicher Perspektive, außerdem die immer wiederkehrenden Irritationen in Bezug auf das eigene Leben als Zentrum der Geschichte mögen auf den ersten Blick abwegig erscheinen. Darüber hinaus ist es diese Perspektive, die die Langsamkeit des Buches ausmacht. Da ist kaum ein Boden und alle Zeit nur relativ. Was bleibt ist Tonias zähe Klarheit in einem sommerflirrenden Gewirr aus Chaos und Schmerz.

Das ist nicht jedermanns Sache, ich weiß. Muss nicht alles in dieser Generation schnell und perfekt geschnitten sein? Lebendig und pulsschlaggenau? Immer genau auf den Punkt? Keine Angst, der Text ist gut geschnitten. Immer exakt an der Stelle, wo es nötig erscheint. Der Beat schlägt und trifft. Ganz langsam, ganz tief. Das ist es, was alles zusammenhält. Und lebendig.

* Verantwortlich für den Umschlag wird eine Josefine Rank genannt, was darauf hindeutet, dass in diesem Fall sehr wohl eine ausgezeichnet genutzte Einflussnahme vorliegt.

Mehr als ein schlauer Mädchenstreich

25. February 2010 | von Anselm Neft

Helene Hegemann: Axolotl Roadkill CIMG1040 (Ullstein, Februar 2010, 2. Auflage)

Um 16 Uhr 30 wache ich orientierungslos in einen Bettbezug gewickelt auf und frage mich als erstes, ob man in so einem Zustand von sich selbst gelangweilt sein kann. Bin krank. Seit Wochen. Die Wohnung besteht aus Taschentüchern, Teebeuteln, Staubmäusen und dem gerade ausgelesenen Buch Axolotl Roadkill. Mir schwirrt der Kopf. Ich habe Gesichte.

Am Bettrand sitzt Helene und sieht mich aus kajalumränderten Augen an.

 

„Was meinst du?“, fragt sie.

„Nicht übel. Is’ schon Literatur. Oder zumindest Proto-Literatur.“

„Früher war das alles so schön pubertär hingerotzt und jetzt ist es angestrengte Literatur.“

„Es ist teilweise auch anstrengend zu lesen. Ich habe mich gefühlt, als würde ich ein paar Stunden mit einem sehr schlauen, belasteten Teenager verbringen.“

„I totally agree und frage trotzdem: Warum?”

„Sprichst du immer englisch, wenn du dich schämst?“

“Ach, I don’t care.”

“Nee, Helene, echt, is’ schon viel Interessantes dabei. Da ist also diese 16jährige Mifti, deren Mutter seit drei Jahren tot ist, Mifti, die nicht in die Schule geht, alle möglichen Drogen nimmt, viel halluziniert und reflektiert, rumlabert, vergewaltigt wird, mit ihren älteren Halbgeschwistern zusammenlebt, hin und wieder ihren aufgeblasenen Künstler-Vater anruft und in der 46 Jahre alten Alice einen erotisch aufgeladenen Mutterersatz und schließlich in der 28 also 36 Jahre alten Ophelia einen Ersatz-Ersatz sucht, was auch schief geht, Mifti, die sich zwischendurch einen symbolisch aufgeladenen Axolotl zulegt (Schwanzlurch, wird nicht erwachsen) und am Schluss noch mal Alice trifft. Mir gefällt das zum Lebensgefühl gewordene Misstrauen. Dieses gnostische Fremdsein in der Welt, in der Gesellschaft, im Körper und im eigenen Kopf.“

„Baby, was veranstaltest du denn für Scheiße hier?“

Wir schweigen eine Weile und schauen auf ein Stück Rindfleisch unter der Heizung.

„Aber ist es nicht etwas pietätlos, so zu schreiben, wenn die eigene Mutter wirklich tot ist?“, fange ich das Gespräch wieder an.

„Vater, Mutter, Kind. Warum ist dieses barbarische Familienmodell eigentlich nicht auszurotten?“, giftet Helene ohne rechten Elan.

„Du lenkst ab.“

„Alles in allem ist über mich zu sagen: Diese junge Frau spielt geschmeidig auf der Klaviatur der Elemente wie eine Gazelle mit Panzerfaust.“

„Das ist wieder so ein Satz. Halbdoof, aber auch lustig.“

„Diese sich verselbständigende Altklugheit muss ich mir dringend abtrainieren.“

“Och schade! Gerade die wirkt doch so erfrischend jugendlich. Weniger echt finde ich andere Stellen. Zum Beispiel lesen sich die Sex- und Drogenerlebnisse teilweise ein wenig…”

„Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.“

„Die Passagen sind also nicht alle von dir?“

„Nein von so nem Blogger.“

„Der Typ, der „Strobo“ geschrieben hat?“

„Airen.“

„Ist der sauer? Oder sagt er: Ich bin nicht sauer, nur enttäuscht?“

„Ich bin nicht so der Drüber-Rede-Typ.“

„Na immerhin hat der Hype um dein Buch auch seinem Buch Bekanntheit verschafft. Amazonranking 168 habe ich eben gesehen. Und Ullstein hat dem Kleinverlag SuKuLTuR ein paar Tausender rüberwachsen lassen. Das hat ja auch was Gutes.“

„Moral ist unintelligent. Sie greift zu kurz. Da ist man einfach zu schnell im Konsens. Das fällt mir jetzt spontan dazu ein.“

„Jaja, und „dein“ und „mein“ sind ohnehin nur bürgerliche Kategorien. Dabei kommt dein Text bestimmt hauptsächlich bei uns Bürgerlichen an. Es gibt ja diese Literaturgattung der „Lebensbeichte“, da können sich dann Oberstudienräte in Pforzheim durchlesen, wie das so ist auf dem Drogenstrich oder als Teilzeithure oder bei der wohlstandsverwahrlosten Jugend in Berlin. Und dann können sie den Kopf schütteln und sagen: Schlimm, schlimm, schlimm. Aber bei dir ärgern sich jetzt bestimmt ein paar Spanner, dass sie das für einen Erlebnisbericht gehalten haben. Ist das nicht ein seltsames Gefühl: Auf der einen Seite schön spießige Erwartungen durchkreuzen, auf der anderen Seite nicht über eigene Erfahrungen sondern aus zweiter Hand schreiben? 

 „Von mir selber ist überhaupt nichts, ich selbst bin schon nicht von mir.“

„Das ist von der Schauspielerin Sophie Rois, stimmt’s?“

„Keine Ahnung.“

„Trotz der Flickschusterei hast du einen eigenen Sound und klingst glaubwürdig verwirrt und angepisst. Deshalb gefällt mir das Buch, trotz aller Schwächen.“

„Ich habe mit zwölf einen ganzen Roman geschrieben, der nur aus Songtexten von Nick Cave zusammengeflickt war.“

„Immerhin Nick Cave und nicht Phil Collins.“

Helene scheint mir gar nicht zuzuhören. Sie starrt vor sich hin und schaukelt mit dem Oberkörper hin und her. Wie für sich selbst sagt sie leise: „Ich bin für den Rest meines Lebens behindert, und niemand kann was dran ändern. Für den Rest meines Lebens kann ich das Verhalten von Selbstmordattentätern nachvollziehen.“

„Tja, jetzt weiß aber keiner mehr, was Show ist und was nicht.“

„Kannst du dir vorstellen, wie megaaggressiv ich bin auf all die pseudoerfahrenen Scheißleute um mich rum, die noch nie mit irgendeiner wirklich ernsthaften Schwierigkeit konfrontiert wurden, außer vielleicht mit einer Rheumaattacke oder Trennungsschmerz?“

„Ja, aber wenn ich dich jetzt ernstnehme, zeigst du mit dem Finger auf mich und lachst mich aus. Das ist schlau, aber auch scheiße und damit schon wieder tragisch.“

„Ich lüge, weil ich eigentlich genau weiß, wonach ich mich sehne.“

„Lass uns über Sex reden.“

„Das ist krass uncool, Mann.“

„Ich habe das Gefühl, dass Sex für dich was Anziehendes und gleichzeitig Fieses ist. Auf der einen Seite sind erstaunlich viele Menschen im Buch scharf auf die zugedröhnte Mifti. Auf der anderen Seite wird Sex immer als brutal und einsam beschrieben.“

„Ich hab ein Problem mit Sex, weil Sex der bedingungslosen Liebe entgegenwirkt, die ich will, und nichts anderes ist als ein egoistischer, tierischer Trieb, der die Menschen, die ich liebe, als fremdgesteuerte Reflexbündel entlarvt.“

„Das würde Bischof Mixa freuen.“

„Dein Körper, der eigentlich nichts mit dir zu tun hat, hat dich besiegt. Manche empfinden das als absolute Erfüllung. Mir macht das aber einfach Angst.“

„Nicht nur dir. Aber vielleicht hast du in zehn Jahren normalen, gleichberechtigten, legalen, auf erfüllter Liebe basierenden Sex.“

„Sex ist ja immer ein gewalttätiger Akt.“

„Bitte Helene, lass das nicht das Schlusswort sein. Hättest du noch was anderes?“

„Wie wär’s damit: Ich persönlich würde mich wirklich freuen, wenn Sie als Publikum etwas Brauchbares finden, das über das Individuell-Psychologische der Autorin hinausgeht.“

Wir schweigen eine Weile. Vermutlich hat auch Helene das Gefühl, dass dieser Abschlusssatz zu glatt ist, zu anbiedernd. Sie steckt sich eine Zigarette an und denkt ein paar Züge lang nach.

„Ich habe dieses Jahr Höchststeuersatz“, sagt sie schließlich und lacht.

Leanne Shapton (Rebecca Casati): Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck

25. February 2010 | von Isa

ShaptonBedeutendeWas für eine Idee! Das Buch kommt daher wie ein Versteigerungskatalog: versteigert werden, wie der Titel schon sagt, persönliche Gegenstände von Lenore Doolan und Harold Morris. Kleidung, Bücher, Stehrümchen, Kulturbeutel, Fotos, Geschirr, Notizbücher, Briefe, Dinge, Kram. Säuberlich durchnummeriert, fotografiert (im Buch schwarz-weiß abgedruckt) und in knappen Worten beschrieben, inklusive der Angaben von Zustand, Größe und Preis.
Diese Gegenstände erzählen die Geschichte von Lenore und Harold. Keine besonders ausgefallene Geschichte: die beiden lernen sich auf einer Halloween-Party bei Freunden kennen, tauschen Mailadressen und fangen eine Beziehung an. Harold ist Fotograf und dauernd unterwegs, Lenore ist Kolumnistin bei der New York Times und schreibt über Kuchen, und nun werden ausgerechnet am Valentinstag all ihre Sachen versteigert, weil die Beziehung zu Ende ist.
Diese ganz alltägliche Geschichte anhand der Besitzstücke dieses Paars zu erzählen, ist eine wirklich großartige Idee. Man bekommt ein ziemlich genaues Bild von den beiden, einfach dadurch, dass all ihre Dinge abgebildet werden. Die Geschichte selbst entsteht vor allem im Kopf des Lesers. Um ihm ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, sind relativ viele ausgedruckte E-Mails unter den Sachen (Wegbeschreibungen zur Party und so was, teils aber auch Persönlichere), schriftliche Kürzestgespräche auf der Rückseite von Theaterprogrammen, tagebuchartige Kalendernotizen, und nicht abgeschickte, in Büchern vergessene Briefe. Die meisten der versteigerten Gegenstände tragen aber gar nichts zur Geschichte bei, nur zu dem Bild, das man von den beiden hat. Welche Bücher sie lesen, welche Kleidung sie tragen; es erschließt sich nicht alles, jedenfalls mir nicht, aber es hat ja auch nicht alles, was man besitzt, einen tieferen Sinn. Warum um alles in der Welt Harold zum Beispiel in seinem Kulturbeutel … aber das müsst Ihr selbst lesen. Das ist nämlich ein schönes Buch, sehr speziell und ausgefallen, auch wenn ich mir von der Geschichte doch etwas mehr erhofft hatte.

Leanne Shapton steht im Regal jetzt zwischen Zeruya Shalev und Tom Sharpe.

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht

23. February 2010 | von Isa

SchmidtStirbstDer Roman beginnt so:
Es klappert um sie herum. Als ihre Schwester heiratete, hatte die Mutter das Silberbesteck in eine Blechschüssel gelegt, auf eine Alufolie. Heißes Salzwasser darüber. Das saubere Besteck wurde nach einiger Zeit aus der Schüssel genommen und abgetrocknet: Es hatte genauso geklappert. Wer heiratet denn? Sie versucht die Augen zu öffnen. Fehlanzeige. Mehr als Augenöffnen versucht sie nicht. Ist genügsam. Sie kann aber sehr deutlich die Stimme ihrer Mutter hören. Ah, also doch das Besteck! Was sagt ihre Mutter?

In Helene Wesendahls Kopf ist ein Aneurysma geplatzt. Sie wacht im Krankenhaus auf, weiß nicht, was passiert ist, weiß nicht, wer sie ist, wer ihre Familie ist, erinnert sich nicht an ihr bisheriges Leben, kann sich nur höchst eingeschränkt bewegen. Der Buchanfang ist großartig: wie sie aus dem Koma erwacht, keine Ahnung hat, wer und wo sie ist, aber Dinge wahrnimmt, auch Erinnerungsfetzen einbaut und wieder wegnickt. Und wieder aufwacht, sich irgendwelchen Unfug zusammenreimt und wieder wegnickt. Und wieder aufwacht und wieder weiß, wie sie heißt, und dass das, was sie vorher gedacht hat, Unfug war. Das ist großartig gemacht, wie aus vollkommen wirren Gedanken langsam etwas Strukturierteres wird.
Wir begleiten Helene dann bei der Genesung: nach und nach, mit viel therapeutischer Hilfe, kann sie sich immer besser bewegen, aber es geht langsam. Auch die Sprache hat sie verloren, ihr fallen Wörter nicht ein, teilweise hat sie sie im Kopf, aber wenn sie den Mund aufmacht, kommen sie nicht heraus. Auch das wird langsam besser. Und die Erinnerungen kommen auch wieder. An ihren Mann. Die fünf Kinder. Und daran, dass die Ehe am Ende war. Und dass sie sich trennen wollte. Und warum.
Und in diesem Moment macht Kathrin Schmidt ein zweites Fass auf, das so groß ist, dass es, wie ich finde, nicht den gebührenden Raum bekommt. So ein großes Thema wird hier ein bisschen zur Nebensache. Oder nicht zur Nebensache, aber eben auch nicht zur Hauptsache. Vielleicht ist das aber auch nicht schlimm, ich weiß es nicht.
Irgendwie werde ich nicht warm mit diesem Buch. Ich finde es stellenweise etwas zäh, aber das passt eigentlich, denn so eine Genesung ist zäh und mühsam. Es ist toll geschrieben, sie hat einen ganz eigenen Stil, den ich aber eher anerkenne, als dass er mich erreichen würde. Und ich frage mich dauernd zweierlei, nämlich erstens, warum Helene nicht viel mehr hadert, warum sie nicht verzweifelt und heult und wütend ist und traurig und ihr Schicksal verflucht. Sie scheint das alles einfach so zu akzeptieren. Aber vielleicht gehört das ja zum Krankheitsbild. Und zweitens, warum sie ihren Mann so wenig fragt. Der Mann kommt sie jeden Tag besuchen, kümmert sich rührend. Selbst als ihr dann wieder eingefallen ist, warum sie ihn verlassen wollte, aber erst recht vorher, warum fragt sie ihn nicht?
Und dann weiß ich nicht: ist das der Grund, warum mich dieses Buch so sonderbar kalt lässt? Keine Ahnung, ich bin wirklich ein bisschen ratlos. Aber ich lese schon gefühlt seit Wochen daran, und habe jetzt beschlossen, es nicht zu Ende zu lesen. Obwohl das ein gutes Buch ist. Irgendwie. Oder ist es albern, die letzten achtzig Seiten nicht zu lesen? Vielleicht hätte ich dann eine richtige Meinung, statt dieses Herumgeeiers hier.

Im Regal stelle ich Kathrin Schmidt zwischen Arno Schmidt, Harald Schmidt, Jochen Schmidt und, äh, Eric Emanuel Schmitt (geschenkt bekommen, ich schwör).

Schnee

20. February 2010 | von Casino

Dieses Buch habe ich gerade zum zweiten Mal gelesen, vor allem wegen des Titels, es könnte ja sein, dass es für immer so weiter schneit.

Schnee ist ein Roman von Orhan Pamuk, übersetzt von Christoph K. Neumann. Der Leser begleitet den den türkischen Dichter Ka, der seit längerem nichts mehr geschrieben hat, auf seiner Reise in ein kleines Dorf weit im Osten der Türkei. Ka ist nach dem Putsch von 1980 für eine Weile nach Deutschland gegangen und kehrt jetzt zum ersten Mal in die Türkei zurück. Nach Kars fährt er aus vielen gleichermassen zeitgenössischen Gründen: Er möchte als Journalist über die religiös motivierten Selbstmorde einiger junger Frauen berichten, er hofft auf ein Wiedersehen mit einer früheren Geliebten und auf ein Wiedersehen mit sich selbst. Er wird nach seiner Ankunft in Kars von allen umworben, als jemand, der weggegangen ist, als jemand, der wiedergekommen ist, als Türke, Dichter und als Europäer. Und als Geliebter.

Ich hatte das Buch eigentlich nur wegen seiner Hauptfigur gekauft, nach einer Lesung von Pamuk, in der Volksbühne 2005 – besitze jetzt eine Signatur von einem Nobelpreisträger!- es gibt ja viel weniger Bücher über Dichter als über andere Autoren.
Wunderbar fand ich gleich am Büchertisch den Einstieg in den Roman, mit der Anreise von Ka, in einem dunklen Bus über dunkle verschneite Straßen, hier die ersten Sätze:

Die Stille des Schnees, dachte der Mann, der gleich hinter dem Busfahrer saß. Er hätte zu dem, was er im Inneren empfand, “die Stille des Schnees” gesagt, wenn dies der Beginn eines Gedichtes wäre.

Pamuk bringt im ersten Kapitel den Dichter, den Schnee und den Erzähler zusammen, der Schnee fällt im ganzen Buch unaufhörlich, auf jeder Seite neu, als wäre er nicht schon auf fast jeder vorangegangenen Seite erwähnt worden, er wird immer wieder beschrieben, so wie man bei echtem Schnee auch immer wieder aus dem Fenster guckt. Und in den ersten 40 Seiten, während man sich an den Schnee gewöhnt, verändert der Autor unmerklich seine Position zum Dichter Ka, er bekommt einen Abstand zu ihm, wird Kommentator, bis der auktoriale Gestus zu einer weiteren Figur verdichtet ist, einem Freund von Ka, der alles schon weiß und als Ich- Erzähler durch das Buch führt – ein gewisser Orhan. Das alles ist ziemlich meisterhaft konstruiert und kommt dabei auf ganz leisen Sohlen, sehr elegant und wirklich schön. “Schnee” hat einen Haufen sehr schöner Sätze.

Ka läuft auf den ersten Seiten mit dem Leser durchs Dorf und redet mit allen,  es wird ein Tanz auf Messers Schneide, Ka muss sich erklären und rechtfertigen, ihm werden dauernd Fragen gestellt, er erschafft beim Reden so ein Bild von sich, weil ihn in Kars niemand einschätzen kann, und weil dort die politische wie religiöse Zugehörigkeit darüber entscheidet, ob Vertrauen und Nähe möglich werden oder nicht. In Kars sind diese beiden Bereiche nichts privates, das befremdet mich, weil ich so tief in einer säkularen Demokratie verwurzelt bin, es befremdet auch die Hauptfigur Ka, der nichts falsch machen möchte und sich in die vielen geforderten Entscheidungen hineinbegibt wie unsereiner grade aufs Eis der Berliner Straßen. Immer wieder wird die Sensibilität und Intelligenz, mit der Ka seine Reise erlebt, von den Bedürfnissen der Dörfler unterlaufen und in Frage gestellt, die dabei auch vor Magie und Gewalt nicht zurückschrecken (dieser Satz gefällt mir, auch wenn er etwas unklar ist) – für den Leser wird daraus eine Art fortlaufender Horizonterweiterung.

Pamuk hat eine große Begabung für klares, analytisches Schreiben. Seine Beobachtungsgabe lässt ihn manchmal etwas kalt erscheinen, weil er die vielen Gründe für alles immer wieder zusammenführt, ohne Partei zu ergreifen, jede Überzeugung, jedes Gefühl hat eine Erklärung, das ist manchmal etwas ermüdend. Ich habe das Pathos ein bisschen vermisst, aber dafür gibt es ja den vielen Schnee in diesem Buch, als wäre das Tiefe und Geheimnisvolle menschlicher Gefühle an den Schnee delegiert worden. Der Schnee hat mich bei der Stange gehalten beim Lesen, man will beim Lesen diese Schneemetapher immer verstehen und deuten, für mich wars am Ende ein Bild für das Verschwinden der Wirklichkeit oder der Wahrheit unter den ganzen Auseinandersetzungen. Der Schnee legt sich auf all die Statements und die vielen politischen Intrigen und Streitgespräche, die man aber als Nichtfachfrau für Islam und Türkei doch mit ziemlichem Gewinn durchlesen kann. Der Dichter findet wieder zum Schreiben in dem Buch, im Schnee, seine Gedichte werden von den Karsianern mit so einem Heißhunger und einem romantischen Respekt vor der Inspiration erwartet, ich denke, weil das lyrische Sprechen für Pamuk nicht parteiisch ist, nicht festlegbar, nicht für den ideologischen Kampf zu missbrauchen, auch seine Figur Ka behält so eine Permeabilität bei all den Positionen, die er bezieht, er bleibt mimetisch, ist nicht konsistent, auch seine Entwicklung ist es nicht. Ich hätte natürlich gern noch ein paar Gedichte gehabt im Buch, wo es doch schon um einen Lyriker geht, aber Pamuk hatte wohl genug an der Backe mit dem Rest des Buches.

Grad komm ich aus dem Kino, habe Shahada gesehen, einen Berlinalefilm von Qurbani, und habe plötzlich auch meine Reserven gegenüber dem Schneebuch besser verstanden. Ich habs jetzt zum 2. Mal gelesen, beim ersten Mal bin ich leicht und schnell durchgerauscht, jetzt hänge ich schon anderthalb Monate drin fest, aber aufhören konnte ich auch nicht damit. Der Film ist sehr besonders, persönlich, sehr nah und fast zärtlich zu seinen Figuren, aber es blieb bei mir so eine innere Barriere vor dem vollen emphatischen Tauchsprung, genau wie bei “Schnee”. Ich glaube, das liegt daran, wie selbstverständlich die Glaubenskonflikte bei Pamuk und in Shahada daherkommen, sie haben für die Betroffenen eine existentielle Wucht, es gibt Tote, im Roman gibt es einen von Fundamentalisten inszenierten Putsch, den der Autor in einem Theater stattfinden lässt, einen Theaterputsch, aber mit echten Toten. Ka muss sich immer wieder rechtfertigen, die Figuren im Buch müssen sich immer wieder ihres Glaubens versichern, die Glaubensfragen scheinen in diesen Biographien wichtiger zu sein und größere Folgen zu haben als Familie oder Beruf. Gleichzeitig gibt es keine richtige oder falsche Haltung, keine Wahrheit, Pamuk weiß das, das macht den ganzen Ernst so grotesk, die Toten so tragisch lächerlich. Ich konnte nicht aufhören zu lesen, weil Pamuks Roman funktioniert, man wird hineingezogen in die Konflikte und kriegt mit, dass sie nicht lösbar sind,  aber diese Verwobenheit von Religion und Person hält mich dann wieder draussen. Darum fällt „Schnee“ in meiner persönlichen Statistik unter die eher widerspenstigen Werke.

Es ärgert mich ein bisschen, dass das hier so ein langer Text geworden ist, aber das war auch ein 500 Seiten-Wälzer! Ich kann das Buch empfehlen, weil es eine große Klarheit hat, im Beschreiben von Menschen, und so nebenbei ein Gefühl für die Konflikte in islamischen Ländern vermittelt, für die tieferen Schichten dieser Konflikte, für deren Unauflösbarkeit, auch dafür, wieviel Leben und Alltag dadrin steckt, also ein Gefühl neben dem Wissen, einen wirklich neuen Zugang.

Toon Tellegen, Axel Scheffler (Illustration), Mirjam Pressler (Übersetzung): Briefe vom Eichhorn an die Ameise

16. February 2010 | von Isa

TellegenEichhornLauter Geschichten über Briefe. Und Briefe. Briefe vom Eichhorn an die Ameise, auch wenn gleich der erste ein seltsamer Brief ist. Und vom Elefanten an die Schnecke, mit der er tanzen will, und zwar oben auf ihrem Haus. Er will sich Mühe geben, nicht durchs Dach zu brechen, aber ganz sicher kann man natürlich nie sein. Der Elefant klettert nämlich unglücklicherweise immer wieder auf Sachen, vor allem auf Bäume, und fällt dann runter. Und vom Sperling an die Krähe, die glaubt, dass es immer nur regnen wird und nie wieder aufhören. Und vom Bären an alle, denn er möchte, dass alle ihm eine Torte backen. Überhaupt wird viel Torte gegessen, vor allem vom Bären. Und vom Eichhorn an die Blattlaus, die sich immer so schrecklich schämt. Und vom Pinguin an alle, denn er ist einsam. Und vom Glühwürmchen, das nur entweder glühen oder schreiben kann, an den Nachtfalter. Und wenn jemand nicht weiß, wie man Briefe schreibt, kann er es beim Sperling lernen. Falls es Winter ist, zieht man dem Brief eine warme Jacke an und schickt ihn los. Und natürlich kann man auch seinem Tisch mal einen Brief schreiben, an den denkt man ja sonst viel zu selten.

Insgesamt sind es 26 kleine Geschichtchen, in denen Briefe quer durch die Tierwelt eine Rolle spielen. Geschichten, wie der Klappentext sagt, „von Wünschen und Hoffnungen, von Freundschaft und Fürsorge“. Meistens zwei Seiten lang, höchstens vier, und eine zauberhafter als die andere. Viele wirken wie der Anfang einer Geschichte, man möchte wissen, wie es weitergeht, aber da ist sie schon zu Ende. Und nach nur 90 Seiten ist leider das ganze Buch zu Ende, und dann möchte man erstens sofort jemandem einen Brief schreiben, nur einen kleinen, und zweitens möchte ich alle Bücher kaufen, in denen Axel Scheffler Eichhörnchen gezeichnet hat, und danach wahrscheinlich sein Gesamtwerk. Denn diese Tierzeichnungen sind wirklich, wirklich hinreißend.

Der Sperling räusperte sich und fuhr fort: „Darunter schreibt ihr: ‚Wie geht es dir?’“
Die Tiere schrieben: „Wie geht es dir?“
„Das ist so eine schöne Frage“, sagte der Sperling. „Die dürft ihr nie vergessen. In keinem einzigen Brief. Und darunter schreibt ihr …“

Bei Amazon kann man übrigens ein bisschen reinblättern. (Und dann in der netten, kleinen Buchhandlung um die Ecke kaufen.)

Im Regal stelle ich es neben das ebenfalls von Axel Scheffler illustrierte Büchlein Über das Halten von Eichhörnchen, sobald ich es nachgekauft habe. Meins habe ich nämlich verschenkt. Und das werde ich mit diesem hier sicher auch noch öfter tun.

Joseph Wechsberg, Gerda v. Uslar (Übers.),
Forelle blau und schwarze Trüffel

14. February 2010 | von Kaltmamsell

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Natürlich habe ich mich ebenso wie Sie gewundert, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Doch als es bereits in der ersten der 17 Geschichten des Buches hieß, der Professor Internist habe im „neunten Distrikt“ Wiens gewohnt, verschwand die Illusion der Originalsprache – auch Anfang des 20. Jahrhunderts, als diese Szene spielt, war Wien in Bezirke unterteilt. Die jemand auf Englisch sehr wahrscheinlich „districts“ nennt. Das ist aber zum Glück die Stelle, die am deutlichsten als Übersetzung auffällt; sonst liest sich die autobiographische Vignetten- und Anekdotensammlung des Herrn Wechsberg wie ein deutsches Original.

Er wäre heute sehr wahrscheinlich ein Foodblogger, der 1907 geborene Herr Wechsberg, noch dazu ein guter. Und so musste ich bei der Lektüre von Forelle blau und schwarze Trüffel (erschienen 1953) sehr an das hoch geschätzte Büchlein von Herrn Paulsen denken. Joseph Wechsberg beginnt bei seiner Kindheit und der großen Abneigung gegen jegliche Nahrungszufuhr, mit der er seinen Eltern damals Sorgen bereitete. Später entdeckte er das Essen zu unserem Glück als Leidenschaft. Und so nahm er mich zunächst mit zu dem sonntagsmittäglich gedeckten Tafeln der besseren Wiener Gesellschaft. Ich zwinkerte Friedrich Torberg zu – der diese Szenen allerdings erheblich derber beschreibt.

Die Speisen seiner Studienorte Prag und Paris sind eigene Kapitel wert, später einzelne Lokale oder Speisen vor allem in Frankreich – immer aufgehängt an persönlichen Erlebnissen und den damit verbundenen Menschen, immer in angenehmstem Plauderton. Joseph Wechsberg nimmt seine sinnliche Wahrnehmung ernst, nicht nur beim Schmecken. Dem entsprechend werden Personen eingeführt, zum Beispiel:

Monsieur Raymond Thuilier war ein freundlicher, schnurrbärtiger Franzose, der aussah, als habe er soeben etwas sehr Angenehmes über sich gehört.

Am besten hat mir das Kapitel über die Bouillabaisse gefallen. Darin schildert Wechsberg, wo er die beste so benannte Fischsuppe seines Lebens gegessen hat: „Auf dem Vorderdeck der ‚Azay-le-Rideau‘ (…), als sie im Mittelmeer kreuzte.“ Zubereitet hatte sie „Étienne-Marcel, der pergamentgesichtige Zimmermann an Bord der ‚Azay-le-Rideau‘.“ Wechberg verdiente sein Geld auf diesem drittklassigen Kreuzfahrtschiff als Bordmusiker. Die sonstige Besatzung bestand aus Griesgramen, die sich in Anstellungen auf Luxusschiffen etwas zuschulden hatten kommen lassen, und nun auf dieser „schwimmenden Teufelsinsel der Gesellschaft“ arbeiten mussten. In vielen Details beschreibt Wechsberg, wie Étienne-Marcel seine Bouillabaisse zubereitete, nicht nur auf dem Schiff, sondern auch in seinem Zuhause in Marseille. Ich hätte sie nach der Lektüre des Kapitels nachkochen können – stünde nicht am Anfang der Zubereitung das Gebot, nicht etwa frischen Fisch zu verwenden, sondern allerfrischesten Fisch, buchstäblich direkt aus dem Meer. München – Meer?

Am ausführlichsten schildert Joseph Wechsberg eine Reise im Südwesten Frankreichs auf der Suche nach dem idealen Trüffelgericht sowie die Reise entlang aller damaligen Drei-Michelin-Stern-Lokale Frankreichs – inklusive Zubereitungsart der Spezialitäten, Beschreibung der Küchen und Nennung der bemerkenswertesten Weine.

Forelle blau und schwarze Trüffel hat mich in eine vergangene Epoche des Reisens und Essens (und der Verwendung des Worts „vorzüglich“) mitgenommen, ich fühlte mich wie in einem amerikanischen Film gleich nach dem Krieg. Nebeneffekt: Ich habe mir ganz fest eine Fressreise durch Frankreich vorgenommen.

Proust lesen und scheitern

8. February 2010 | von engl

Combray / (1. Teil von) Du côté de chez Swann, Marcel Proust / (Neuübersetzung von) Michael Kleeberg

proust_combrayEs gibt Bücher, an denen man scheitert. Es gibt sogar solche, denen man in Vorfeld schon ansieht, dass man an ihnen scheitern wird. Diese Bücher nehme ich vorsichtshalber gar nicht erst in die Hand. Deshalb gehöre ich zu den zweifellos vielen Menschen, die Proust bislang nicht angefasst haben. Geschweige denn gelesen. Und ich werde es in diesem Leben vermutlich auch nicht mehr tun.

Weil ein solches Scheitern als Leser jedoch im Grunde nicht zu verantworten ist, erwischte ich mich vor Jahren schon dabei, wie ich zumindest die so genannte „Ouvertüre zu Prousts Jahrhundertroman“ käuflich erwarb. Combray, knapp 300 Seiten stark. Ein Klacks also.

Dennoch stand das „Büchlein” jahrelang ungelesen bei mir herum. Es wanderte vom Stapel der bald zu lesenden nahtlos hinüber auf das Regalbrett der irgendwann auf jeden Fall mal zu lesenden wichtigen Werke. Bis es schließlich sorgfältig ins Endgültigenflurregal eingeordnet wurde, wo es seither einen rechtmäßig erworbenen Platz auf einer Ebene mit Musils Mann ohne Eigenschaften und Nietzsches Gesamtwerk behauptet. Die alle tun bei mir so, als seien sie tatsächlich gelesen worden. Ein Werdegang, der bei Proust vermutlich nicht selten anzutreffen ist.

Jetzt habe ich mich doch endlich getraut. Und bin gescheitert. Natürlich. Dieses Handlungsnichts, alles ist Beschreibung und Sprache. Das ermüdet ungemein. Vor allem, weil ich es nicht kenne, dieses Zimmer, dieses Haus, den Ort und die Kirche. Ich erkenne nichts wieder, auch die Menschen nicht. Die Großeltern und Eltern, Swann und François. Der Junge selbst. Ich frage mich, ob es an mir liegt. Ob das alles nicht universell sein müsste. Universell sein sollte, auch in mir.

Es hilft nichts, ich bin auf der Suche, nach Geschehen, nach Gefühlen. Die auch da sind, immer wieder einmal. Das stimmt. Die Qual des Jungen, Nacht für Nacht. Wie er leidet und wartet. 70 Seiten lang. Nun ja. Es gibt schlimmeres, denke ich. Obwohl ich doch weiß, dass das Schlimme immer relativ ist.

Bezaubernd hingegen die aufgezeigten Mechanismen der Erinnerung. Das ist gut, das kenne ich. Wie den Geschmack dieser kleinen, länglichen Billiglutscher, zuckerummantelt, zu kaufen in durchsichtigen Plastiktüten, ein bunt gemischtes Zehnerpack, oben mit einem großen Pappschild zugetackert. Die gab es immer bei meiner Oma in Karnap. Du liebe Zeit, das ist gut 40 Jahre her. Doch jetzt, in diesem Moment, kommt es mir vor wie gestern. Was rede ich? Wie jetzt natürlich.

Das ist wohl die Erkenntnis, die ich aus diesem Buch ziehen sollte. Dass ich alt geworden bin. Alt genug, mich zu erinnern. Auf diese Art zu erinnern. Die Dinge, die Wege, das Licht. Der Geschmack, damals wie heute. Und dass ich mich nicht verändert habe, obwohl ich heute ganz anders bin. Dem Hirn ist Zeit nur eine Illusion.

Bleibt zuletzt noch die Frage, ob für das Erfassen solcher Momente nicht auch Lyrik ganz hervorragend geeignet wäre. Kurz und knapp. Und sicherlich ausreichend. Mehr kann ich zu diesem Buch nicht sagen. Selbst eine Zusammenfassung der Handlung bleibe ich schuldig, ich müsste sie anderswo abschreiben.

Der Übersetzer hingegen hat eine ganz andere Sicht gewonnen. Selbstverständlich, denn er wird Proust gelesen haben, mehr als nur das. Verinnerlicht vielleicht, verschlungen. So in etwa stelle ich mir das vor. „Wer Combray liest scheint plötzlich sehr viel mehr Augen zu haben, mehr Tastorgane, Schmeckorgane … “, sagt Michael Kleeberg. „ Proust, – das sind die Ekstasen der reinen Anschauung.“

Ja. Kann sein. Vielleicht. Ich kann es nicht sagen, ich bin gescheitert.

Antonio Muñoz Molina, Der polnische Reiter

6. February 2010 | von Kaltmamsell

Polnischer_Reiter

So lange habe ich schon lange an keinem Buch mehr gelesen.

Der polnische Reiter wurde als El jinete polaco von Antonio Muñoz Molina geschrieben und von Willi Zurbrüggen ins Deutsche übersetzt. Von Muñoz Molina hatte ich fürs Studium Beatus Ille gelesen, das hatte mir gut genug gefallen, dass ich mehr von diesem Autor lesen wollte. Bis es tatsächlich dazu kam, vergingen allerdings 15 Jahre.

Antonio Muñoz Molina, Jahrgang 1956, gilt als einer der wenigen literarischen Vergangenheitsverarbeiter Spaniens, einer Nation, die erst jetzt, in der Enkelgeneration, anfängt, sich mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur so richtig auseinander zu setzen. Ich habe mir das immer mit der Natur von Bürgerkriegen erklärt: Die Gräben verliefen 1936 bis 1939 buchstäblich durch die Familien – und das nicht unbedingt aus ideologischen Gründen: Sowohl die eine also auch die andere kriegsführende Partei zog rekrutierend übers Land. Die einen nahmen den einen Bruder mit und ließen ihn für sich schießen, die anderen den anderen. In meiner ohnehin Geschichten-armen spanischen Familie wird sowas angedeutet; geredet wurde über den Bürgerkrieg nie. Die Wunden, die der spanische Bürgerkrieg innerhalb der Gesellschaft geschlagen hatte, waren vielleicht so tief, dass die Leute nach Ende der Franco-Diktatur (die, wohlgemerkt, durch den Tod des Diktators beendet wurde, nicht etwa durch ein politisches Aufbegehren) alle Chancen im Blick nach Vorne sahen und die Vergangenheitsverdrängung der Franco-Jahre begeistert weiterführten. Denn anders als erwartet, sprangen in der neuen Demokratie Spaniens aus den Schubladen von Schriftstellern nicht etwa massenhaft geheim gehaltene, regimekritische Manuskripte – da war nichts. Es dauerte eine ganze Reihe von Jahren, bis die Kunst soweit war, sich des Themas anzunehmen.

Am polnischen Reiter (erschienen 1991) las ich zum einen deshalb so lange, weil es ein sehr dickes Buch ist: 700 Seiten, kleine Schrift, lange Kapitel. Zum anderen aber, weil die Geschichte sehr dicht ist: Sie enthält praktisch keine weitschweifigen Beschreibungen, kein Vor-sich-hin-Gebrabbel, das ich absatzweise überflöge. Der rote Faden des Romans wird geknüpft aus einem Ort und einer Person: Dem fiktiven südspanischen Mágina und Manuel, der nach dem Krieg als Sohn von Feldarbeitern in Mágina aufwächst. Der Roman beginnt mit Liebesszenen zwischen dem erwachsenen Mann Manuel und der etwa gleichaltrigen Nadia; und immer wieder ziehen sie aus einem Koffer in der Wohnung, dem Koffer des örtlichen Fotografen Ramiro Retratista, alte Fotos. In Rückblicken wird die Geschichte einiger der Personen auf diesen Fotos erzählt, doch nie linear, oft personal, oft aus der Perspektive Manuels, manchmal aus auktorialer Perspektive, oft sehr impressionistisch anhand intensiver Sinneseindrücke. Die Sätze scheinen endlos – und bewirken einen tranceartigen Zustand, der dem Versinken in Erinnerungen gleicht, inklusive Assoziationen und Gefühlen. Den Hintergrund dieses Gewebes bildet Spanien zwischen etwa 1930 und der Gegenwart des Buches.

Jede Seite des Romans fesselt mich, wahrscheinlich aus sehr persönlichen Gründen. Das beginnt mit der Sprache. Mein Spanisch ist leider bei Weitem nicht gut genug, dass ich den Roman im Original lesen könnte. Doch habe ich genug Spanien- und Spanischkenntnisse, dass das Original ständig durch die Übersetzung hindurchscheint, vor allem bei eigentlich unübersetzbaren Details. Wenn es von einem sehr alten Mann heißt, er kleckere beim Trinken nie, nicht einmal wenn er „direkt aus dem Krug“ trinke – dann weiß ich eben, dass mit „Krug“ ein porrón gemeint ist, aus dem man das Getränk ohne Berührung direkt in den Mund schüttet (aus dem ich nie anständig trinken konnte, so oft ich als Kind in den Sommerferien auch heimlich hinterm Haus meiner spanischen Yaya übte). Oder das Kohlenbecken unter dem Tisch, von dem ständig die Rede ist: Es handelt sich um einen brasero. Selbst habe ich nie einen im Einsatz erlebt – das mag daran liegen, dass ich bis vor wenigen Jahren nur im Sommer in Spanien war. Aber ich erinnere mich, dass alte Esstische etwa 20 cm über dem Boden ein Brett hatten, deutlich kleiner als die Tischoberfläche, mit einer großen runden Aussparung. Dort hinein, so erzählte man mir, kam im Winter ein metallenes Becken voll glühender Kohle. Über den Tisch wurde eine Decke gelegt, die bis zum Boden reichte; wer es warm haben wollte, setzte sich an den Tisch mit den Beinen unter der Decke. Soweit zur Ingenieurskunst in einem Land, dass durchaus bitterkalte Winter kennt.

Lange Passagen des Romans spielen in einer geradezu archaischen Welt. Die schiere Last der Existenz, die die Menschen durch ein Netz gesellschaftlicher Fesseln erklärbar machen: Armut, aus der man sich nicht zu befreien hat, entsetzlich schwere körperliche Arbeit, die Kinderknochen verbiegt und Männer noch am Abendbrottisch vor Erschöpfung einschlafen lässt. Das ermüdende Ritual des Werbens zwischen den Geschlechtern, in dem jedes Detail so strikt vorgegeben ist wie in der Liturgie einer katholischen Messe. Alle leiden darunter, doch zumindest können sie jederzeit erklären, woraus die Last des Lebens besteht. Von der Mutter Manuels heißt es:

Die Vermutung einer unwillentlich auf sich geladenen Schuld und die Furcht, ohne Erklärung bestraft zu werden, wirkten wie eine unaufhörliche Erpressung auf ihre Seele.

Das komplizierte Verhältnis der Generationen mit seiner Zerrissenheit zwischen Verpflichtung und Freiheitsdrang, Erwachsenwerden im Andalusien der 70er, Freundschaften, die lange Pausen überdauern, Abtrünnigkeit, die sich unter perfekter Stromlinienform verbirgt, die Auswirkungen von Emigration und Flucht auf persönliche Beziehungen – ich bilde mir ein, das vergangene Spanien durch diesen Roman besser zu verstehen.

Überschätzte Bücher. Heute “Rituale” von Cees Nooteboom.

2. February 2010 | von Anselm Neft

Seit Jahren gellt’s in meinen Ohren: „Den Nooteboom – den musst du lesen. Den Nooteboom, den Nooteboom!“ So griff ich vor ein paar Wochen endlich vor einer Suppenküche in eine Wühlkiste und fischte „Rituale“ (Suhrkamp, Hardcover, übersetzt von Hans Herrfurth) heraus, ein Buch, dessen Titel mir Wohlmeinende beinahe wöchentlich einflüstern und das Nooteboom selbst als sein „opus magnum“ bezeichnet. Der Autor kann nichts dafür, dass die ständigen Lobgesänge meine Skepsis hartherzig werden ließen, wohl aber kann er etwas dafür, diese Härte nicht in Milde, die Skepsis nicht in Begeisterung überführt zu haben.

Erzählt wird die Geschichte von Inni Wintrop, einem Grachten-Casanova, Spekulations-Strolch und üppig erbenden Parvenü, der sich umbringen will, weil ihn seine Zita verlassen hat. Natürlich reißt der Strick.

Erzählt wird auch die Geschichte von Arnold Taads, einem Griesgram, der nur zu seinem Hund eine Art Beziehung unterhält, sein Leben auf die Minute genau durchplant und der am Ende natürlich wundervoll metaphorisch im Eis erfriert.

Erzählt wird schließlich auch von Philip Taads, der den Weltekel ebenso kultiviert wie der Herr Papa, sich dabei aber weit deutlicher dem Selbstekel und damit dem Asiatisch-Spirituellen öffnet. In einem weißen Raum sitzt er und brütet über japanischen Teeschalen und -zeremonien. Natürlich bringt auch er sich um. Natürlich zerbricht er vorher eine sehr kostbare Teeschale.

Inni Wintrop, der all dies sieht, während ihm ein allwissender und zu scherzhaften Bemerkungen aufgelegter Erzähler über die Schulter schaut, ist am Ende natürlich ein bisschen weiser und lässt fortan die Hände vom Strick: „Es gab somit unverkennbar zwei Welten, eine, in der die beiden Taads sich aufhielten, und eine, in der sie abwesend waren, und zum Glück befand er sich noch in der letzteren.“ Potzblitz.

Der Roman will viel und bringt wenig. Er ist ein wenig ein Sittengemälde des angeschlagenen Amsterdamer Bürgertums um 1960 und 1970, er ist ein wenig eine laien-philosophische Betrachtung über die Geworfenheit des Menschen in ein undurchschaubares Sein, dem man sich nun stellen oder entziehen, das man zulassen oder durch Rituale zu kontrollieren suchen kann. Auch geht es so ein bisschen um die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, das Verlogene des Narrativen, die wacklige Konstruktion von Sinn, um Angst vor dem Altwerden, holländisches savoir-vivre, Sex als unbewusste Sinnsuche und um anderes, was sich schick in einem so richtig literarischen Buch macht,  einem Buch von dem Reich-Ranicki sagen kann „Ein poetischer Roman, in dem die Erotik im Mittelpunkt steht.“ Aber das hat er ja auch schon über das halbseidene Murakami Bändchen „Gefährliche Geliebte“ verlautbaren lassen.

Die Charaktere sind am Reißbrett entworfene Pappkameraden, die Handlung konstruiert, die Sprache so, wie sie sein muss, wenn jemand mit viel Talent Autor spielt. Es handelt sich um einen Schein-Roman von einem Schein-Autoren geschrieben für Scheinleser und Scheinleserinnen.

Zum Schluss einige Auszüge:

„Durch Männer, doch das würde er erst sehr viel später sagen können, lernt man, wie die Welt ist, durch Frauen jedoch, was sie ist.“

„Die Bar war lang und dunkel, bestimmt für Börsenjobber und Provinzler, ein schlechtes Publikum, das zu spießig war, zu den Huren zu gehen, und zu knauserig, sich eine Freundin zu halten, und statt dessen im götterdämmernden Licht der schottengemusterten Bar auf den sehr großen, weißen Busen in Lydas Ausschnitt glotzte.”

Von innen bin ich völlig grün,  sagte sie regelmäßig.“

„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will…Ein Gedicht von Bloem hatte er auch noch gelesen, aber welches, das wusste er nicht mehr. Der Hund, dieses eigenwillige Tier, versagte in dieser Hinsicht völlig.“

Tiere sind straight. Tiere haben keine Slogans.“

Wem diese Auszüge gefallen, wer sogar einen tiefen Sinn darin erahnt, dem empfehle ich dieses Buch. Denn: Spaß macht es schon, wenn etwas nicht einfach schlecht ist, sondern eine gar nicht üble Imitation des Guten. Aber eben nur eine Imitation, in der jedoch, um es mit Cees Nooteboom oder Xavier Naidoo zu sagen, wie in jedem Schein ein Sein aufleuchten kann.