Archiv für June 2010

Strahlende Maikäfer, rosenfingrige Götter

24. June 2010 | von Modeste

Kaspar Schnetzler, Das Gute

29957Die Schweiz, hört man immer wieder, sei lange nicht so langweilig, wie man landläufig glaubt. Wieso dem so sein sollte, habe ich allerdings vergessen, und wenn die Schweiz in den hundert Jahren von 1912 bis 2012, die dieser Roman des zu Recht ziemlich unbekannten Kaspar Schnetzler, eines 1942 geborenen Züricher Rentners, umfasst, auch nur annähernd zutreffend abgebildet sein sollte, hat auch in dieser Frage der Volksmund recht: Dieses Buch ist langweilig. Es ist aber nicht nur fade. Es ist auch unfassbar schlecht.

Gegenstand der selbst in der Taschenbuchausgabe 552 Seiten fetten Chronik der Züricher Familien Gerber und Frauenlob sind vier Generationen, die nicht unähnlich der Vorgehensweise in didaktisch sehr bemühten Kinderbüchern alles erleben, was der Autor für charakteristisch für die jeweiige Epoche in der Schweiz hält: Die Begeisterung für den deutschen Kaiser. Der Schweizer Nationalstolz und die besondere Beziehung zu den Schweizer Selbstverteidigungsorganen. Die Spanische Grippe. Ein gewisses Sektierertum in Freikirchen (hier der Christian Science), der soziale, wenn auch überschaubare Aufstieg aus dem Kleinbürgertum und die Auswanderung einzelner Familienteile in die USA und Deutschland. Irgendwann wird auch ein Familienmitglied in politische Unruhen verwickelt, verfällt den Drogen, man wird wunderlich, gebiert und stirbt, und ja: Das ist exakt so frei von jeglicher Überraschung, wie es sich anhört.

Was aber das Urteil eines Herrn Jürg Altwegg in der FAZ – derzufolge hier ein Meisterwerk auf geneigte Entdecker wartet – besonders unverständlich macht, sind die vielfachen, teils nur schwer erträglichen sprachlichen Schnitzer. Aufgeschlagen an beliebiger Stelle heißt es beispielsweise zu den Erlebnissen eines Familienmitglieds in Wien:

“Und wie war Max dem Charme und Anblick der feschen Führerin erlegen, die er jetzt, zwei Wochen nach dem Museumsbesuch, saisongerecht wie ein Maikäfer strahlend, an der Hand durch die zartgrünen Weinberge des Kahlenbergs hinab nach Grinzing zum Heurigen führte -”

Der strahlende Maikäfer aber steht nicht allein. Eine Generation früher verlassen zwei Freunde, künftige Schwager, Zürich, die Schnetzler charakterisiert:

“Er liebte das Leben und dessen Unwägbarkeit, Geradlinigkeit war nicht seine Sache. Insofern war er das exakte Gegenteil von Walter Frauenlob, der das Leben sehr ernst nahm und dessen kulinarischem Anspruch Steaketfrites vollauf genügte, weil es ihm schmeckte.”

Die Gradlinigkeit der Freunde gebratenen Fleisches ist ohnehin sozusagen ein geschätztes Erbstück der Familie, von der es heißt:

“Böse Absicht war es nicht, das war eine in der Familie Frauenlob unbekannte Regung.”

Entsprechend gerät Max, der als nicht mehr strahlender Maikäfer nach seinen Studien aus Wien nach Zürich heimkehrt, als ein unschuldiger Tor in die politischen Wirren der späten Sechziger und

“konnte sehen, wie sich die Virtuosen am Megaphon in die Startposition für ihre ganz private Politkarriere schoben, indem sie die Masse mit Gutmensch-Parolen – wer wollte gegenwärtig nicht ein Gutmensch sein – für sich vereinnahmten, um dafür einmal ihre Stimme zu erhalten, wenn sich die Revolution in parteipolitischen Bahnen verlaufen haben würde.”

Verführt von solcherlei schlechten Menschen, stirbt Max folgerichtig einige hundert Seiten auf der Straße. Seine Schwester Regula wird dagegen alt und wunderlich und stirbt an Diabetes, und nur der erstgeborene Bruder Felix bringt es nach einer Journalistenkarriere zu einem glücklichen Leben als Hopfenbauer in Bayern. Seine Tochter Johanna erzählt die letzten Seiten.

Wer aber bis hierhin gekommen ist, wer – unglaublich, aber wahr – in einem 2008 erschienen Buch in offenkundig ernsthaftem Gestus die Worte lesen darf

“Eos, die rosenfingrige Göttin, hatte den Nebel gelichtet”

hat einen Fehler begangen: Nehmen Sie Abstand vom Kauf. Wenn Sie das Buch schon erworben haben, werfen Sie es weg. Und wenn Sie Herrn Schnetzler irgendwo treffen, geben Sie ihm Geld, damit er aufhört zu schreiben. Bei manchen Straßenmusikanten hilft das ja auch.

Britisch-indisch Barock

17. June 2010 | von Kaltmamsell

Salman Rushdie, The Satanic Verses

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The Satanic Verses (1988) von Salman Rushdie ist eines der bekanntesten Werke zeitgenössischer Literatur – und gleichzeitig ein selten gelesenes. Wahrscheinlich ist der Grund für Ersteres auch der Grund für Letzteres: Der Roman brachte Rushdie die Fatwa des Ayatollah Khomeini ein, die Muslime aufforderte, ihn umzubringen. Verleger und Übersetzer wurden nicht nur mit Ermordung bedroht, sondern auch getötet (laut Wikipedia gibt es 38 mit dem Roman verbundene Todesopfer, unter anderem den japanischen Übersetzer) . Daraus schließt der Großteil der zur Unterhaltung lesenden Öffentlichkeit, dass es sich um ein komplett unspaßiges Pamphlet gegen den Islam handeln muss – und wer will das schon lesen?

Gehen Sie hin und lesen es: Der Roman ist hochgradig komisch, zudem quietschbunt, völlig wahnwitzig und sehr unterhaltsam. Vielleicht mögen Sie sich diese Folge der britischen Quiz-Show Have I got News for you? aus dem Jahr 1994 ansehen? Zum einen haben Sie dann eine geniale Show gesehen (wenn auch bei YouTube in miserabler Bildqualität), zum anderen ist einer der beiden Rategäste überraschend Salman Rushdie. Wenn sie erlebt haben, wie witzig und schlagfertig der Mann ist, glauben Sie mir vielleicht, was ich Ihnen über seinen berühmtesten Roman erzähle.

Doch erst mal ein paar Schläge zurückgerudert: Einfach wegzulesen ist The Satanic Verses nicht. Die Dichte der Geschichte, die barocke Vielzahl an Erzählsträngen, die vergnügte Verwurstung von ein paar Jahrhunderten Kulturgeschichte vertragen sich auch schlecht mit scheibchenweisem Lesen in immer nur wenigen Seiten vor dem Einschlafen. Der Roman ist in meiner Definition ein idealer Reise- oder Urlaubsschmöker: Gut 600 Seiten pralles Erzählen mit einem Ideenreichtum, aus dem andere fünf Bücher gebaut hätten. Wer den Irrsinn der ersten ca. sechs Seiten überstanden hat, wird mit einem einmaligen Leseerlebnis belohnt.

Der rote Faden der Geschichte schlingt sich um zwei muslimische Männer aus Indien: Den zum Britentum konvertierten Saladin Chamcha und den Bollywood-Star Gibreel Farishta. Gleich zu Beginn des Romans stürzen sie aus einem Flugzeug, das, wie wir später erfahren, von Terroristen in die Luft gesprengt wurde. Nachdem sie unverletzt an der englischen Küste landen, stellt der eine fest, dass ihm Teufelshörner und Bocksfüße wachsen, der andere muss damit fertigwerden, dass er einen Heiligenschein trägt. Diesen surrealen Elemente folgen noch viele weitere, wie ich sie aus allen Romanen Salman Rushdies kenne. Doch im Gegensatz zum magic realism der lateinamerikanischen Literatur setzt Rushdie sie nie beliebig oder als deus ex machina ein; sie machen die Geschichten und Figuren lediglich runder.

Weitere Erzählstränge drehen sich um die Erinnerungen einer alten Engländerin an ihre Jugend in Südamerika, um die Extrembergsteigerin Allie Cone und ihre jüdische Familie, um Träume, in denen der Prophet Muhammad und sein Leben eine Hauptrolle spielen, um das indische Bauernmädchen Ayesha und ihre religiösen Visionen, um einen unbenannten fundamentalislamischen Imam im Exil, um eine indische Emigrantenfamilie in London. In Nebenrollen ein toter schottischer Bergsteiger und ein stotternder indischer Filmproduzent. Unter anderem. Das meiste davon hängt zusammen. Schauplätze sind hauptsächlich London und Bombay. An einigen wenigen Stellen mischt sich ein heftig auktorialier Ich-Erzähler ein und äußert Überlegungen zum Fortgang der Handlung.

Als ich das Buch nach über 15 Jahren zum zweiten Mal las, hatte ich ebenso viel Vergnügen wie bei der ersten Runde, sah einige Bezüge zu Romanen, die ich seither gelesen habe (unter anderem zu John Irvings Son of the Circus und zum genialen White Teeth von Zadie Smith). Zudem erschienen mir viele Passagen prophetisch. Und ich war überrascht, wie wenige der popkulturellen Anspielungen sich überholt hatten. Ein epochales Kunstwerk.

Lesen oder nicht lesen

7. June 2010 | von engl

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, Pierre Bayard

wie_man_ueber_buecher_sprichtJeder kennt das. Lesen oder nicht lesen, das ist häufig die Frage. Denn Lesezeit ist Lebenszeit. Und Lesen braucht viel Zeit, mitunter. Besonders, wenn man lesen muss. Aber muss man? Wirklich?

Pierre Bayard bringt es kurz und knapp auf den Punkt. Nein, man muss nicht. Lesen ist keine Pflicht, nur keine Sorge. Doch es kommt auf das Berufsfeld an, in dem man tätig ist. So ist Lesen trotzdem vielfach kein Spaß, keine Freude, kein freiwilliges Freizeitvergnügen. Überhaupt ist es oft kein Vergnügen,  Lesen kann eine Verpflichtung sein. Das gilt für Dozenten und Professoren, insbesondere, wenn sie im Literatischen unterwegs sind. Das gilt ebenso für Studenten auf diesem oder naheliegenden Gebieten. Die Listen mit den Pflichtlektüren scheinen mitunter endlos.

Schlimmer noch: man muss nicht nur lesen, man muss anschließend auch darüber reden, was man gelesen hat. Und am schlimmsten vielleicht: manchmal muss man darüber schreiben. Wie ich jetzt hier. Obwohl: eigentlich muss ich natürlich nicht. Ich mache das freiwillig. So freiwillig, wie ich dieses Buch gelesen habe. Zumindest zum Teil, soweit ich mich erinnere.

Das ist das Grundkonzept des Buches. Niemand kann alles das lesen, was man so gelesen haben sollte. Soviel Lebenszeit gibt es gar nicht, schließlich hat man hin und wieder auch noch anderes zu tun.  Also teilt der Autor seine Lektüre ein in unbekannte Bücher, quergelesene Bücher, erwähnte Bücher und vergessene Bücher. Und scheut nicht davor, diesen jederzeit ziemlich klare Wertungen zuzuordnen. Ja, er geht sogar so weit, dass er jedes seiner Kapitel auf eines jener Bücher stützt, die er im Grunde gar nicht kennt. Oder kennt er sie doch? Ist es möglich, sinnvoll über Bücher zu reden, die man nie auch nur geöffnet hat?

Natürlich geht das. Jeder kennt das und jeder tut es. Oder etwa nicht? Im Gesellschaftsleben, einem Lehrer gegenüber, dem Schriftsteller gegenüber oder der oder dem Liebsten gegenüber. So die Kapitelüberschriften des zweiten Buchteils, in dem es eben darum geht. Im letzten Teil gibt es dann Empfehlungen zur Haltung in solchen unvermeidbaren Gesprächen, die da lauten: sich nicht schämen, sich durchsetzen, Bücher erfinden und vor allem von sich sprechen. Sagt das nicht alles? Muss man da noch weiterlesen?

Nicht ganz unerwartet endet dieses Buch mit dem weisen Rat, doch besser selber zu schreiben als seine Lebenszeit sinnlos mit Lesen zu verschwenden. Aber wer soll das dann alles lesen?

Kann man mehr über dieses Buch sagen? Sicher. Muss man dieses Buch lesen? Keine Ahnung. Habe ich es gelesen? Aber natürlich!

Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China

2. June 2010 | von Isa

RammstedtKaiserDer Roman beginnt so:
Dass mein Großvater zu dem Zeitpunkt, als mich seine vorletzte Postkarte erreichte, bereits tot war, konnte ich nicht wissen. Ich hatte sie ungelesen beiseite gelegt, so wie ich auch die vorangegangenen Postkarten beiseitegelegt hatte. Gemeinsam mit den Rechnungen und Wurfsendungen, zwischen denen sie fast täglich lauerten, bildeten sie unter dem Schreibtisch einen immer waghalsigeren Stapel, den ich mit einer alten Zeitung abdeckte, auch wenn das wenig half, ich wusste schließlich, was sich darunter verbrarg.

Hurra! Was für ein sensationell beknacktes Buch! Bisher war alles, was ich von Tilman Rammstedt gelesen habe – nämlich alle Bücher, die er sonst noch veröffentlicht hat: Erledigungen vor der Feier und Wir bleiben in der Nähe – wahnsinnig klug und so, dass man am liebsten dauernd alles zitiert hätte. Und immer lag irgendwo unten drunter so ein grandioser Humor, der nie dumme Witze machte, sondern nur hier und da aufschien und eine Art Humus für all die klugen Gedanken bildete. Und jetzt kommt ebendieser Tilman Rammstedt daher und ist einfach mal hemmungslos albern. Ohne in blöden Schenkelklopferhumor zu verfallen, natürlich.
Keith Stapperpfennig hat ein paar Probleme. Er und seine vier Geschwister sind bei ihrem Großvater aufgewachsen, der den Kindern andauernd neue, immer jüngere Großmütter vorstellt. Bis Keith als junger Erwachsener seinem Großvater eine dieser Freundinnen, Franziska, ausspannt (Problem Nummer eins).
Etwa zur selben Zeit hat der Großvater einen runden Geburtstag, und die Kinder schenken ihm gemeinsam eine Reise an ein Ziel seiner Wahl. Der Großvater sucht sich China aus, und sein Lieblingsenkel Keith muss mit. Der allerdings hält die Idee für vollkommen bescheuert und versteckt sich am Ende unterm Schreibtisch (Problem zwei), während sein Großvater tot in einem Kühlfach im Westerwald liegt (Problem drei) und die Geschwister glauben, die beiden wären gemeinsam in China (Problem vier). Um diese Illusion aufrecht zu erhalten, schreibt Keith “Briefe aus China”, die immer länger und blumiger werden. Als Leser lernt man dabei die erstaunlichsten Dinge über China. Man weiß ja beispielsweise, dass schon die alten Chinesen viele Dinge kannten, die bei uns erst sehr viel später auftauchten; aber dass auch der Pullunder eins dieser Dinge ist, war mir dann doch neu.
Nach zwei wirklich klugen, sehr literarischen und von der Kritik gefeierten Büchern einfach so eine Albernheit rauszuhauen (die natürlich auch klug und literarisch ist, aber eben auch wunderbar unernst): das muss man sich erst mal trauen. Lieber Tilman Rammstedt, wenn ich nicht ohnehin schon ehrfürchtig vor Dir im Staub läge, dann spätestens jetzt. Meine Verehrung.

Rammstedt steht im Regal zwischen François Rabelais und Fabrizia Ramondino.

PS: Katy Derbyshire hat es auch gelesen und gemocht.
Und Tilman Rammstedt hat Max Frisch gelesen und nicht gemocht. Hihi.