Archiv für July 2010

So ein Schmarrn

17. July 2010 | von Kaltmamsell

Philip Roth, The Humbling

Paul Auster und Philip Roth kriege ich ständig durcheinander, tut mir leid. Mit beiden machte ich erste Bekanntschaft in einer Amerikanistikübung zu zeitgenössischer Literatur bei Prof. Zapf. Wir trafen uns dazu abends in einem Biergarten, der mittlerweile einer Umgehungsstraße gewichen ist, in jeder Sitzung wurde ein Roman besprochen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil in Literaturseminaren an deutschen Universitäten drei bis vier Romane pro Semester als die Obergrenze dessen gelten, was einem Studenten zuzumuten ist (don‘t get me started) – es handelte sich also um eine Streberveranstaltung (für die es nicht mal einen Schein gab). Die Werke der beiden Herren besprachen wir in aufeinander folgenden Sitzungen, und seither kriege ich sie durcheinander. Ich wusste nur, dass mir der eine Roman gefallen hatte (recht abgefahrene Erzähltechnik) und der andere nicht (irgendwas über einen alten Mann mit Potenzproblemen). Meine Leseumgebung der vergangenen Jahre vermittelte mir, dass Paul Auster doof sei und Philip Roth bemerkenswert, also glich ich meine Erinnerungen an. Sie werden jetzt natürlich fragen, warum ich nicht einfach ins Regal gegriffen habe, um das zu verifizieren. Was soll ich sagen – es hat sich halt nicht ergeben.

Nachdem ich jetzt The Humbling von Philip Roth gelesen habe, werde ich die beiden nie wieder verwechseln. Denn es war Philip Roth mit The Counterlife, in dem über viele Seiten wehleidig über das männliche Altern gejammert wurde (das Bayrische bietet für diesen Tonfall das schöne „wuislat“), wie vorher schon in Zuckerman unbound, und dann ist der Protagonist auch noch Schriftsteller. Dazwischen viel Erotik.

In The Humbling ist der alternde Mann zur Abwechslung Schauspieler, außerdem ist das sehr luftig gesetzte Buch nur 140 Seiten dick. Wir kriegen also dasselbe im Zeitraffer: Schauspieler im Rentenalter verliert Fähigkeit schauzuspielen, wird depressiv, von Frau verlassen, beginnt heiße Affäre mit junger bis dahin Lesbe, das klappt aber nicht, bringt sich um (ups, jetzt habe ich das Ende verraten). Dazwischen viel Erotik. Beim abschließenden Zuklappen des Romans ging mir einzig das Resumee durch den Kopf, das ich als Überschrift verwendet habe.

Während ich in meiner Ausgabe von The Counterlife wenigstens noch ein paar Anstreichungen zu literaturtheoretisch relevanten Passagen gefunden habe, bietet The Humbling nicht mal das. Zumindest macht es sprachlich nichts falsch, Herr Roth kann Handwerk (und muss schließlich die Miete reinkriegen; für die Veröffentlichung eines Romans ein besserer Grund als viele andere).

Und weil in Konsequenz der andere das Buch geschrieben haben muss, das mir 1993 im Seminar gefiel, gehe ich jetzt hin und lese nochmal Paul Austers New York Trilogy.

Chris Killen: Das Vogelzimmer

8. July 2010 | von Isa

Auf diesen kleinen Roman bin ich wegen einer hymnischen Rezension gestoßen. Die war so toll, dass ich mir sogar einen Teil notiert habe, da schrieb nämlich Stefan Beuse im Titel-Magazin (leider nicht mehr online):

Wenn das also alles ist, geht’s darum auch in Chris Killens wundervoll spleeniger, herzzerreißend neurotischer und abgrundtief trauriger, schräg-schöner Liebesgeschichte Das Vogelzimmer. Aber auf diesen gerade mal 170 Seiten stehen Sätze, die den Himmel aufreißen lassen, die einen schluchzen machen können vor Glück.
Dieser Sprachkosmos ist durchweht von einem ganz eigenen Zauber, der einen so packt, dass die Liebesgeschichte auch auf „technischer“ Ebene funktioniert: Man kann sich als Leser ganz und gar in dieses Buch verknallen, und spätestens an dieser Stelle muss Henning Ahrens für seine Übersetzung gedankt werden, die so unglaublich gut ist, dass man froh ist, nicht den Originaltext daneben zu haben – einfach aus Angst, er könne nicht dieses magische Fluidum aufweisen, diesen sehr speziellen untergründigen Humor, diese Lebensklugheit und Größe.

Erstens kann mich eine solche Übersetzerhuldigung natürlich sowieso schon dazu bringen, ein Buch zu lesen, zweitens kenne ich den Herrn Beuse und habe seine Empfehlungen bisher gern gelesen.

Äh, Stefan? Was ist denn da passiert? Wo sind die Sätze mit dem magischen Fluidum, die den Himmel aufreißen lassen? Wo ist der Sprachkosmos? Ich sehe nur Sätze, die aus Subjekt, Prädikat, Objekt bestehen und nichts weiter. Fast ausschließlich solche Sätze, 170 Seiten lang, das erträgt doch kein Mensch.
Und sich in das Buch verknallen, nun ja, Geschmäcker sind ja verschieden, ich war jedenfalls zunehmend genervt. Die Figuren waren mir auch völlig egal, und wenn ich mich weder in die Figuren verknallen kann noch in die Sprache, dann bleibt nicht viel. Die Vögel vielleicht, aber die kommen ja nur auf den ersten paar Seiten vor, und dann ist unvermittelt Schluss mit Vögeln. Pun intended.

Der Roman beginnt so:
Gemälde kleiner Vögel. Zaunkönige, Rotkehlchen, Wellensittiche (ziemlich viele Wellensittiche). Alle leuchtend gelb, rot, braun, grün, ausgenommen die Taube. Die Taube ist grau.
Ich sitze auf dem Sofa. Sie sitzt neben mir. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen. Zwischen uns ist ungefähr so          viel Platz. Will kocht uns in der Küche einen Tee. Die beiden sind sich hier zum ersten Mal begegnet. Die Idee stammt von mir.

Der Künstler Will (der mit den Vögeln) lernt also Alice kennen, und „ich“, Alices Freund, ist eifersüchtig. „Ich“ heißt zufällig ebenfalls Will. Und dann gibt es noch Helen, die früher Clair hieß. Alles klar? Ich-Will und Alice gehören zusammen, Künstler-Will und Helen gehören noch lange nicht zusammen, aber das soll noch werden, oder auch nicht. Erstmal lernen Künstler-Will und Alice sich kennen und Ich-Will platzt vor Eifersucht. Und am Ende gibt es, wie der Klappentext verspricht, eine überraschende Wendung, die genau die ist, mit der man die ganze Zeit rechnet, die aber trotzdem irgendwie wirr und nicht wirklich verständlich ist.

Es sind ein paar schöne Ideen drin, ja. Aber mir sind die Figuren alle zu krank. Ich will nichts über Paranoiker lesen, das ist mir irgendwie zu simpel, es ist so überzeichnet, dass ich die Figuren nicht ernst nehmen kann. Vor allem dann, wenn nicht eine, sondern sämtliche Figuren Psychopathen sind und niemand auch nur ansatzweise “normal”. Wer ein wirklich tolles Buch über rasende Eifersucht lesen möchte, dem empfehle ich Der Ursprung der Welt von Jorge Edwards. Das ist große Eifersuchtskunst. (Und außerdem eins der schönsten Buchcover aller Zeiten.)

Beuse begann seine Rezension mit einem Hinweis auf das in der Tat schnarchlangweilige Buch „Dshamilja“ von Tschingis Aitmatov, von dem Luis Aragon (und seither jeder Vermarkter) behauptet: „Ich schwöre, das ist die schönste Liebesgeschichte der Welt“. Und er schloss mit dem Satz:
Bevor Rückseitentextverfasser das nächste Mal leichtfertig etwas schwören, sollen sie bitte dieses Buch lesen.
Also, das Vogelzimmer jetzt.
Ich hingegen räume das Vogelzimmer mit demselben Gefühl ins Regal, mit dem ich auch vor Ewigkeiten Dshamilja weggeräumt habe, nämlich: äh, was war das denn? Ich habe außerdem gar keine Liebesgeschichte gelesen, sondern eine Pychopathengeschichte. So gesehen ist die sprachliche Fürchterlichkeit auch wieder passend, das wollen wir dem Buch mal zugestehen. Im übrigen glaube ich, dass Henning Ahrens’ Übersetzung wirklich sehr gut ist. Die Fürchterlichkeit muss vom Autor stammen.
Chris Killen steht im Regal zwischen Irmgard Keun und Esther Kinsky.

Paukenschlag statt Flöte

5. July 2010 | von Modeste

Wolf Jobst Siedler, Ein Leben wird besichtigt, 2000

IMG_0154

Vielfach liest man, mit dem Bürgertum gehe es demnächst zu Ende. Die deutsche Sprache sterbe aus, sogar die Frau des Bundespräsidenten sei abstoßend tätowiert, niemand könne mehr vernünftig Latein, und unter Bildung missverstünden die Deutschen eine unverstandene Faktensammlung, die höchstens zu Quizsendungen im Privatfernsehen tauge. Gleichzeitig genießt das Bürgerliche ein Ansehen, das zumindest ein wenig naiv anmutet, als sei vor hundert Jahren jedes Gymnasium eine kleine Gelehrtenrepublik gewesen und nicht die protofaschistische, kinderquälende Anstalt, wie sie sich in den damals vermutlich nicht von ungefähr beliebten Schülerromanen der Kaiser- und Zwischenkriegszeit spiegelt. Auch hätten sich früher Familien zu sorgsam komponierten Mahlzeiten zusammengefunden, statt hektisch vor dem Fernseher erwärmte Tiefkühlgerichte zu verzehren, weder Damen noch Herren wären in missgestalteten, bunten Plastiksäcken auf die Straße gegangen, und Ehen hätten lebenslänglich gehalten. Früher sei mithin nicht alles, aber ziemlich viel besser gewesen, und selbst wenn es nicht besser gewesen sei, dann habe es zumindest besser ausgesehen.

Zu den – wenigen – besseren Apologeten einer solcherart verklärt schöneren Vergangenheit zählt die Republik den Westberliner Publizisten und Verleger Wolf Jobst Siedler, und es mag vielleicht im Bezug zu Berlin begründet liegen, wieso Geburtstag um Geburtstag, Besuch für Besuch mehr der erstaunlich zahlreichen Werke dieses Herrn in den Haushalt spült, den der geschätzte Gefährte und ich unterhalten, unterbrochen bisweilen durch Teile des ebenfalls üppig ins Kraut geschossenen Gesamtwerks Joachim C. Fests. Möglicherweise hält man den J. und mich aber auch in an sich nahe stehenden Kreisen für konservativer als wir sind, und so seien an dieser Stelle diejenige der sehr verehrten Leserinnen und Leser, die auch körperlich zu meinen Gästen zählen, gebeten, sich künftig etwas Neues zu überlegen, denn der Unterhaltungswert Siedlers generell, wie speziell dieses ersten Teiles seiner Autobiographie ist diesseits der Grenze, die die Apokalyptiker des Bürgertums vom Rest der Welt trennt, vorhanden, aber durchaus begrenzt.

An Siedlers Leben selbst liegt dieses Missbehagen dabei nicht. Der 1926 in Berlin geborene Verleger blickt auf ein vom Reichtum wie von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zerklüftetes Leben zurück. Im Westberliner Bezirk Dahlem geboren, war Siedler einige Jahre Schüler einer der bis heute gut beleumdeten Hermann-Lietz-Schulen, wurde wegen kritischer Äußerungen über Hitler und die Erfolgsaussichten des Krieges gemeinsam mit einem der Söhne Ernst Jüngers inhaftiert, verurteilt und kam sodann an die italienische Front. Nach einigen Jahren der Kriegsgefangenschaft in Afrika gelangte Siedler zurück in das zerstörte Berlin. Hier endet der erste Band der Lebenserinnerungen; das Studium an der sich neu formierenden FU und der Aufstieg als Journalist und später als Verleger reißt Siedler nur an und erzählt diesen Abschnitt seines Lebens, wie es scheint, in einem oder mehreren weiteren Werke weiter.

Immer wieder ist das auch durchaus angenehm zu lesen. Die Haftzeit etwa als radikale Erfahrung von Kontrollverlust, die Gefühlsschwankungen, die feinen Abstufungen des Verhaltens der Wärter und Richtenden, ebenso wie alltägliche und anekdotische Beobachtungen im vorkrieglichen Berlin. Sobald sich Siedler aber von der Subjektivität des Erlebens löst, hinterlässt er den Leser halbwegs ratlos: Gern gesteht man Siedler Stolz auf seine teils illustren Vorfahren zu, zu denen an prominentester Stelle der Bildhauer Schadow gehört. Wer wäre man auch, es Siedler nicht durchgehen zu lassen, über seine Familie, deren Verbindungen und Herkommen mit einem gewissen Selbstbewusstsein zu berichten, das in mehr oder weniger expliziter Form jede Familie pflegen dürfte. Sich auf seine Familie etwas einzubilden, ist gerade dann verständlich, wenn diese Familie auch einiges zu bieten hat an Kaufhauskönigen und Generälen, Diplomaten und Professoren. Muss aber – so fragt man sich nach einer kleinen Weile – Siedler immerzu und alle paar Seiten von seiner Familie sprechen? Geht es auch etwas weniger lautstark? Anders als man in Kreisen konservativer Publizistik annimmt, halte ich Bescheidenheit nicht gerade für eine Tugend, die das Bürgertum vor anderen Teilen der Gesellschaft auszeichnet, das ganze 19. Jahrhundert ist, wie man sagt, nur durch bürgerliche Geltungssucht zu erklären, ich habe auch nichts gegen Repräsentation, aber über weite Teile des Buches überschreitet Siedler die Grenze zwischen berechtigtem Stolz und purer Eitelkeit doch etwas zu häufig, um noch Freude zu bereiten. Wir wissen’s, sagt sich der Leser seufzend und blättert halb konzentriert weiter.

Ähnlich steht es mit Siedlers Freunden und Bekannten. Streckenweise liest sich das Buch wie mancher Bericht der Klatschpresse über eine Premiere oder eine königliche Hochzeit als eine Aufzählung von Namen, Namen und wiederum Namen. Von Carl Schmitt über Dacia Maraini, von Thomas Mann, Heinrich Böll, Alexander Solschenizyn bis Hans Wallenberg und immer wieder Joachim Fest und taucht jeder auf, von dem man in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sprach. Gesehen wurde auch …., denkt man sich, wartet auf eine prägnante Anekdote, etwas Charakteristisches, Interessantes, aber Siedler ist oft längst woanders. Ihm reicht wie manchem kleinen Mädchen am roten Teppich der Berlinale das Auftauchen der Berühmtheit. Dies ist einigermaßen sonderbar: Siedler ist schließlich nicht irgendwer. Dass der Verleger des Propyläen-Verlags, später des Siedler Verlags, ein Fixpunkt des insgesamt überschaubaren Kulturlebens der Bonner Republik, alles und jeden kannte, der eine Schreibmaschine zu bedienen wusste, erwartet man nicht anders. Die schiere Renommiersucht kann es damit eigentlich nicht sein, die Siedler zu diesen Aufzählungen treibt, allerdings ist ein anderer Antrieb vielfach schlechthin nicht erkennbar.

Die Zitiersucht dagegen sei Siedler nachgesehen. Es zeugt von einigem Selbstbewusstsein, um es vorsichtig auszudrücken, als ersten Satz seiner Erinnerungen zu Thomas Manns berühmter Eröffnung des Josephsromans zu greifen, doch mag es für einen Mann, der sein Leben zwischen Büchern verbracht hat, nur natürlich anmuten, entlang von Büchern zu erinnern und zu empfinden. Das Bewusstsein, als bürgerliches Fossil zwischen Plebejern zu wandeln, durchzieht die Autobiographie dabei indes nicht nur als ausdrückliche und stetig wiederholte, bisweilen durchaus ein wenig selbstgefällige Aussage. Man mag darüber streiten, ob diese Annahme überhaupt zutrifft, Siedler jedenfalls hat dieser Glaube an den abgesunkenen Bildungsstand seiner Leser zu einer etwas sonderbaren Vorgehensweise bewogen: Er erklärt annähernd jedes Zitat in der ängstlichen Annahme, der Leser könne vielleicht andernfalls annehmen, die Herzogin von Guermantes sei keine Schöpfung von Proust, sondern vielleicht von Courths-Mahler, und wenn er das berühmte Bild des nächtlichen Albs heraufbeschwört, vergisst er nicht hinzuzufügen, jenes sei von Füssli.

Auf den letzten Seiten wird Siedler kokett. Er werde sich hüten, schließt er, das Buch mit einem Finis zu beenden, erst recht aber schließe er nicht mit Fortsetzung folgt, und man klappt das mit einer Abbildung des Autors in jungen Jahren geschmückte Geschenk zum vorletzten Geburtstag kopfschüttelnd zu. Ich habe die Fortsetzung nicht gelesen. Mir schwant, ich habe nichts verpasst.

Der Tod und das Mädchen*

3. July 2010 | von Kaltmamsell

Markus Zusak, The Book Thief

Book_Thief

Wenn ein Buch seit Jahren als Weltbestseller gelistet ist – braucht diese Welt dann überhaupt eine weitere Besprechung, noch dazu von einer gewöhnlichen Leserin? Sehr wahrscheinlich nicht. Aber, hey!, das hier ist Bloggen.

Eine Freundin des Mitbewohners hatte den Roman empfohlen: Ein australischer Autor schreibt eine Geschichte, die in den frühen 40ern im nahegelegenen Fürstenfeldbruck spielt – hörte sich attraktiv abgefahren an. Und stellte sich als ausgezeichnet gebaute und sehr gut erzählte Geschichte heraus.

Fürstenfeldbruck wird in The Book Thief zu Molching. In Deutschland scheint das bereits jeder zu wissen, ich nehme an, es steht auf der Übersetzung (die mich ohnehin sehr interessiert). Doch erst mal lernen wir im Prolog einen höchst auktorialen Ich-Erzähler kennen: den Tod. Er stellt sich vor, korrigiert ein paar Vorurteile über sich, gibt den scheinbar leichten und humorvollen Plauderton der Geschichte vor, und er führt ein typografisches Feature ein, dass sich durch das ganze Buch zieht: fett gedruckte, kurze erklärende Einschübe mit Überschrift, zum Beispiel

HERE IS A SMALL FACT
You are going to die

Sie werden später für Nebengedanken genutzt, Lexikonerklärungen, Fußnoten.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht – neben dem dem Tod – Liesel, die 1939 im Alter von neun Jahren von ihrer Mutter bei Pflegeeltern in Molching abgegeben wird. Sie ist ein verstörter und traumatisierter Mensch mit ungeheurer innerer Kraft. Der Roman erzählt ihre Geschichte hauptsächlich bis zu einer entsetzlichen Bombennacht 1943. Dabei lernen wir unter anderem ihre Arbeiter-Pflegeeltern kennen, die ruppige Rosa Hubermann und den sanften und zugewandten Maler Hans Hubermann, zudem den gleichaltrigen Nachbarsbuben Rudy Steiner, der auf den ersten Blick ihr bester und treuester Freund wird, den jungen jüdischen Mann Max, im Keller der Hubermanns versteckt, die eigenartig abwesende Frau des Bürgermeisters, die sich auf sehr besondere Weise Liesels Bücherhungers annimmt. Denn den hat Liesel, noch bevor sie richtig lesen kann, und er macht sie zur titelgebenden Bücherdiebin.

Schon mit dem Titel muss die deutsche Übersetzung mehr verraten als das Original: das Geschlecht der Hauptfigur. Die Geschichte ist durchzogen mit deutschen und bayrischen Wörtern, die immer wieder auch in Einschüben übersetzt und erklärt werden, die erwachsenen Figuren heißen alle Herr oder Frau statt Mr und Mrs.

Markus Zusak nimmt uns in eine Zeit und eine Gegend mit, die ich seit meiner Kindheit aus den Erzählungen alter Leute kenne: Hunger und Armut gehören zum Alltag, jugendliche Diebesbanden plündern Obstgärten, der Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Schichten ist hart und deutlich, der moralische Code rigide und unmenschlich. Und weil wir in Fürstenfeldbruck sind, sehen wir immer wieder Gruppen von jüdischen Gefangenen auf ihrem Fußmarsch nach Dachau.

Was mich besonders begeisterte: Endlich eine Heldin nach meinem Geschmack. Wir sehen einer 9- bis 14jährigen zu, die Fußball spielt, liest, hinguckt, ihre Freiräume genauso verteidigt wie ihre Lieben – notfalls mit Fäusten, die mal hilflos ist und mal entschlossen, mit schrecklichen Alpträumen ebenso fertig wird wie mit eigenartigen Erwachsenen.

Anfangs irritierte mich der zeitweilige Kinderbuchtonfall des Buches. Doch er funktioniert inhaltlich, vor allem wenn damit innere menschlichen Konflikte erklärt werden, zum Beispiel die Gewissenskonflikte von manchen Erwachsenen im 3. Reich. Wenn schon telling statt showing, dann lieber so deutlich markiert. Überhaupt gibt es fast keine personale Innensicht der Personen, fast alles wird durch Handlung gezeigt oder vom Erzähler erklärt. In dieser leicht märchenhaften Erzählweise (die an ein paar Stellen ziemlich dick aufgetragen ist) bereitet uns der Tod auch auf schreckliche Ereignisse vor; dass Rudy das Erwachsenenenalter nicht erreichen wird, erfahren wir zum Beispiel bereits kurz nach seiner Vorstellung, ebenso, dass die Bombardierungen durch die Alliierten die Szenerie der Geschichte zerstören werden.

Diese Mischung von Erzählweise aus dem 19. Jahrhundert (inklusive chirurgisch präzisem Druck auf die Tränendrüsen) und moderner Charakterisierung erinnerte mich sehr an John Irving; und vermutlich werde ich bei Schilderungen von verheerenden Bombennächten in Deutschland immer an Kurt Vonneguts Slaughterhouse Five denken.

Ob jetzt wohl ein Literaturtourismus nach Fürstenfeldbruck beginnt?

* Ich kenne die Presseberichterstattung über das Buch nicht, nehme aber an, dass jeder zweite Schreiber zu dieser Überschrift gegriffen hat.

Rodolphe Töpffer: Die Abenteuer des Herrn Cryptogam

1. July 2010 | von Isa

ToepfferCryptogam
Rodolphe Töpffer lebte von 1799-1846, war Schriftsteller und Zeichner und zu seiner Zeit sehr beliebt. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Dieser – wie nennt man das? sagen wir: diese Bildergeschichte beginnt so.

Herr Cryptogam ist 37 Jahre alt und ein begeisterter Naturfreund. Wenn er einen Schmetterling fängt, spießt er ihn mit einer Nadel an seinen Hut. Abends nimmt er ihn herunter und ordnet ihn in seine Sammlung ein. Sodann begibt er sich ins Bett. Er träumt genießerisch von Gegenden, die mit aufgespießten Schmetterlingen gepflastert sind.
Während Herr Cryptogam in Schmetterlingsträumen schwelgt, träumt Elvira, 38 Jahre alt, genießerisch von einer baldigen Ehe mit dem Auserwählten ihres Herzens.

Der Auserwählte ihres Herzens ist natürlich Herr Cryptogam, und der ist zwar irgendwie mit Elvira verlobt, interessiert sich aber leider überhaupt nicht für sie und versucht dauernd, vor ihr davonzulaufen. Nach Marseille, dann auf ein Schiff, auf dem sie auch auftaucht, dann wird das Schiff von Seeräubern gekapert, es passiert der hanebüchenste Unfug, zwischendurch landet Herr Cryptogam sogar … aber das erzähle ich nicht. Es ist jedenfalls alles sehr grotesk, im besten Sinne des Wortes. Und immer wieder erwischt Elvira ihn doch, mal zufällig, mal absichtlich, und Herr Cryptogam will immer nur weg von ihr, kann ihr das aber nicht sagen. Zu jedem Satz gibt es ein Bild, das stilistisch sehr an Wilhelm Busch erinnert, und es ist wirklich, wirklich lustig. 200 Seiten, die hat man in einer halben Stunde durch und hat dabei sehr gelacht.

ToepfferCryptogam2ToepfferCryptogam3

(Errötend fordert Elvira, dass ein Tag bestimmt werde. Herr Cryptogam bestimmt den Dienstag und fragt, was denn an diesem Tag geschehen solle. Das führt fast zu einer Krise.)

Kostet leider 29,80, aber es ist auch wirklich großartig. Und in Leinen gebunden. Und mit 200 Bildern.
Tipp: Klappentext bzw. Rückseite nicht lesen, denn da wird das Ende ausgeplaudert.

Ich weiß noch nicht, ob Töpffer ins nach Größe oder sowas sortierte Comicregal kommt oder zwischen Willem van Toorn und Friedrich Torberg.