Archiv für die Rubrik ‘vor 1970’

Die Leiden des jungen Werktätigen

27. June 2011 | von Anselm Neft

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces  (Penguin Books 1983)

Er ist über dreißig und wohnt bei seiner Mutter. Sein Zimmer ist ein Schweinestall, sein Körperumfang und seine Fresslust eine überambitionierte Hommage an Thomas von Aquin. Er donnert in wallenden Flanellhosen und mit einer grünen Jägermütze durch das New Orleans der 60er Jahre und er hasst die Moderne, wobei er den Begriff „Moderne“ weit fast: Mindestens bis in die Renaissance. Er verachtet Protestanten, die Psychoanalyse, Lohnarbeit, Homosexuelle, fremde Völker, Heterosexuelle, das eigene Volk, das Kino, das Fernsehen, die Werbung und sowieso beinahe alles und jeden. Sein von deftiger, hekatombenweise vertilgter Speise strapazierter Pylorus verschließt sich periodisch, seiner Diagnose zufolge als Antwort auf einen entsetzlichen Mangel an „proper geometry and theology in the modern world“, nur um sich dann als Schleuse für gewaltige Winde zu öffnen: Ignatius J. Reilly  – eine Ein-Mann-Armee gegen alles, was sein gottgegebenes Recht auf Ruhe, Müßiggang, Feingeistertum, Kauzigkeit und Völlerei streitig macht.

Wer einen solchen Typen einfach nur doof, langweilig und ekelhaft findet, wird an dem Anfang der 1960er Jahre vollendeten Buch vermutlich wenig Freude haben. Auch sollen bitte solche Literaturfachleute ihre Finger von dem Roman lassen, die U und E so trefflich zu scheiden wissen und Humor für ein Kennzeichen des Trivialen halten, zumal wenn er sich nicht darauf beschränkt „so fein- wie hintersinnig“ zum „Schmunzeln einzuladen aber zugleich nachdenklich zu stimmen“.

Alle anderen sollten zugreifen: Einen derart saftigen Protagonisten in einer derart hanebüchenen und lebensprallen Story bekommt man nur ganz selten geboten. Ignaz J. Reilly verhält sich zu Anti-Helden wie dem Herrn Lehmann oder den Ich-Erzählern der geschätzten Herren Strunk und Schamoni wie eine den Klimawandel herbei flatulierende Büffelherde zu den lauen Lüftchen aus dem Gesäß eines farblosen Molches.

Der Ärger für Ignaz beginnt, als seine besoffene Mutter ihr Auto gegen eine Veranda fährt: 1020 Dollar Schaden. Die Witwenrente reicht nicht: Ignatius muss – trotz fulminanter Proteste – arbeiten gehen. Er verdingt sich als Angestellter bei „Hosen-Levy“, zettelt aus purem Eigennutz einen Aufstand der schwarzen Arbeiter an, findet sich als Würstchenverkäufer im Piratenkostüm wieder,  versucht eine subversive Schwulenpartei für seine Zwecke zu nutzen und landet über den Handel mit pornografischen Bildern im Rotlichtmilieu, wo ihn der winidge Wachmann Angelo Mancuso belauert. Nebenbei versucht er ein Standardwerk über „Die Leiden der jungen Werktätigen“ zu verfassen, liest in den fünf Büchern „de consolatione philosophicae“ seines geschätzten Boethius’ – jenem spätantiken römischen Philosophen und zu Unrecht in einer korrupten römischen Zivilisation verurteilten Christen – und schreibt sich pompöse Briefe mit einer ehemaligen Kommilitonin. Myrna Minkoff (er nennt sie meist „the minx“) scheint das genaue Gegenteil von Ignaz: weltoffen, liberal, feministisch und Beatnik in New York City. Sie konfrontiert ihn mit psychoanalytischen Interpretationen seiner ödipalen Sexualneurose, er bezichtigt sie der Blasphemie und einer dem Zeitgeist geschuldeten Verblödung. Es ist jedoch nicht zu überlesen, dass die beiden sich gegenseitig in ihren Briefen zu beeindrucken und gerade durch das Mittel der Provokation näher kennen zu lernen versuchen. Ihr tatsächliches Wiedersehen ist zugleich komischer und tragischer Höhepunkt dieser menippeischen Satire.  

Neben dem wundervollen Protagonisten und seinen aberwitzigen Konflikten mit Mutter, Minx und Markt liegt der völlig eigenständige Zauber dieses Romans in den vielen durchaus überzeichneten, aber liebevoll und bis in den Dialekt hinein facettenreich dargestellten Charakteren sowie in einer intensiven und detailreichen literarischen Begehung von New Orleans in den Swinging Sixties.

Toole schrieb zwei Bücher in seinem Leben: The Neon Bible im Alter von 16, A Confederacy of Dunces im Alter von 26. Jahrelang wollte kein Verlag die Geschichte um den wilden Ignaz veröffentlichen. Toole erkrankte an Depressionen und Paranoia. Im Alter von 31 Jahren reiste er zum Haus der verstorbenen Autorin Flannery O’ Connor, deren Southern Gothic Fiction er sehr verehrte. Danach tötete er sich durch Autoabgase.

1980 gelang es Thelma Toole, seiner Mutter, das Buch durch Walker Percy in dem kleinen Wissenschaftsverlag Lousiana State University Press veröffentlichen zu lassen. Ein Jahr später gewann es den Pulitzer Preis und wurde ein in 18 Sprachen übersetzter Millionen-Erfolg.

Die Erfindung des Tuntentums

2. November 2010 | von Kaltmamsell

Quentin Crisp, The Naked Civil Servant.

Aber sicher kennen Sie alle Quentin Crisp: Das ist der alte Herr, der im Video zu Stings „Englishman in New York“ fast häufiger im Bild zu sehen ist als Herr Sting selbst.

Quentin Crisp wurde 1908 in Südengland geboren und war eine schrille Gestalt (möglicherweise wurde diese Bezeichnung eigens für ihn erfunden). 1968 veröffentlichte er seine Autobiografie The Naked Civil Servant. Darin beschreibt er, wie er als junger Bursche seine Homosexualität entdeckte, sich bis ins Mark dafür schämte und in einer unwiderstehlichen Purzelbaum-Logik beschloss, sich fortan so zu verhalten und herauszuputzen, dass absolut niemand Zweifel an ihr haben konnte. Womit ich diese Umstände allerdings erheblich schlüssiger zusammengefasst habe als Crisp selbst sie beschreibt. Denn: Zu den vielen Dingen, die dieser bezaubernde Mensch nicht wirklich gut kann, gehört das Schreiben – wie er selbst auch nicht müde wird zu versichern und damit zu belegen, wie oft er vergeblich versucht habe, Selbstgeschriebenes zu veröffentlichen. Aber das macht überhaupt nichts: Crisp ist ein Meister der Bonmots; sein Lebensrückblick dient in erster Linie dazu möglichst viele wundervoll elaborierte Formulierungen unterzubringen. Kein Wunder, dass dieses Büchlein in unserem Haushalt landete, weil der Mitbewohner Quentin Crisp aus seinem Penguin Book of Modern Humorous Quotations kannte.

Crisp gibt freimütig zu, dass er nichts so richtig kann, nicht mal in einem Maß, das ihm einen Gelderwerb sichern würde. Seine Begabung, so stellt er schon in jungen Jahren fest, lag nicht in doing, sondern in being, doch es dauerte sehr lange, bis er davon leben konnte.

Er führt uns durch das halbseidene London der 20er und 30er, durch Schwulencafés und Boheme-Spelunken, durch die damals prosperierenden Werbeagenturen, die ihm hin und wieder Arbeit gaben. Und Crisp teilt mit uns den Spaß, den ihm der Ausbruch des 2. Weltkriegs bereitete.

Viele seiner Beobachtungen sind klarsichtig, viele allerdings himmelschreiender Blödsinn – Hauptsache sie klingen gut. Schließlich war Crisp nach eigener Beschreibung „a shallow and horribly articulate personality“. Einige Beispiele:

Mit Mitte 30 findet Crisp sich zu seiner großen Überraschung mal wieder in echtem Lohn und Brot, und zwar in einem Verlag:

Finding it impossible to take any further interest in myself because I had exhausted all the potentialities of my character, I decided, since I was suddenly surrounded by new people in a new setting, that I would try to devote some attention to them. It wasn’t easy.

Im Vorbeigehen merkt er an anderer Stelle an:

I never understood music. It all seemed to me to be the maximum amount of noise conveying the minimum amount of information.

Crisp interessiert sich sehr für Kinofilme. Doch die Diven der 50er enttäuschen den Verehrer von Brigitte Helm, Greta Garbo und Marlene Dietrich:

…there had to be a mechanical doll whose only recommendation was her infinite availability. The woman who came to embody this ideal to the full was Marilyn Monroe. Her directors persuaded her to flaunt her astonishing sexual equipment before us with the touching defencelessness of a retarded child. She was what the modern young man most desires in life – a mistress who could be won without being wooed. She was the football pool of love.
This was no kind of diet for anyone brought up on Rider Haggard.

The Naked Civil Servant ist ein ungelenkes, exzentrisches Buch. Es hat mir sehr gut gefallen.

Die Einsamkeit der Träumenden

22. September 2010 | von Anselm Neft

Richard Yates: Revolutionary Road (Vintage Books 2009)

Ach herrlich. Endlich hat einmal alles geklappt: Mir wurde ein Buch empfohlen und ich habe es in Wochenfrist gekauft und dann tatsächlich auch gelesen, ganz, und obendrein so toll gefunden, dass ich dem Empfehlenden schon bald mehrere enthusiastische Mails schreiben musste – und wann passiert so etwas schon einmal?

Das 1961 erschienene „Revolutionary Road“ ist ein echter Knaller. Ein Buch, nach dessen Lektüre ich mich fragte, ob ich tatsächlich weiterschreiben oder den bei anhaltender Erfolglosigkeit auf 40 angesetzten Selbstmord auf dieses Jahr vorziehen soll. Menschen, die nicht selbst schreiben, kann das Buch ebenfalls in Richtung Selbstmord oder zumindest Scheidung bzw. Trennung motivieren. Kurzum: ein großartiges Buch.

Die Geschichte spielt 1955 in einem Vorort von Conneticut, und trotz des Zeit- und Lokalkolorits, haftet dem Geschehen nichts Antiquiertes oder Fernes an. Franklin und April Wheeler sind Anfang 30, haben einen Jungen und ein Mädchen, ein Haus, eine gute Gesundheit und durchaus etwas in der Rübe. Frank arbeitet in New York in einem drögen Bürojob, der ihn weder herausfordert noch ausfüllt. In Phantasien oder Gesprächen mit seinem alkoholkranken Kollegen erhebt er sich Tag für Tag über den Stumpfsinn der Tätigkeit und der Kollegen. April hat sich nur scheinbar in die ihr zugedachte Rolle als repräsentative Gattin, Hausfrau und Mutter gefügt. Sie trauert ihrer abgebrochenen Schauspielerkarriere nach und wagt sogar einen kleinen Neustart in einer lokalen Laienspielgruppe. Mit der Premiere des Stückes „The Petrified Forest“ beginnt der Roman, und es ist kein Zufall, dass wir gleich im ersten Kapitel einer Theateraufführung beiwohnen, die, zumindest was April angeht, vielversprechend beginnt und dann immer bemühter wird. Schließlich gleicht auch das Ehe- und Familienleben der Wheelers zunehmend einer hölzernen Inszenierung. Mit dem peinlichen Theaterabend und den Versuchen Franks seine Frau aufzuheitern, beginnt eine Ehekrise, die erst dann beigelegt scheint, als April einen kühnen Plan präsentiert: Raus aus der „spießigen“ Vorstadt, in der die Familien große Schilder wie „The Millers“ vor ihr Anwesen pflanzen, ab nach Paris. Weg von der oberflächlichen amerikanischen Konsumkultur, hinein ins alte, kultivierte Europa. Sie wird dort aufgrund ihrer Sprachkenntnisse als Sekretärin arbeiten, er soll dort seine wahre Berufung finden. Denn dass er zu Höherem geschaffen ist, daran besteht zumindest bei ihm kein bewusster Zweifel. Frank und April geht es gut, als sie sich ausmalen, wie sie ihrer Maklerin Mrs. Givings und dem befreundeten Paar Campbell eine Nase drehen und endlich sich und anderen beweisen, dass sie etwas Besseres sind. Wie der aus Konformität geborene Kampf gegen die Konformität endet, sei hier nicht verraten, auch wenn ich vermute, dass einige bereits die Verfilmung „Zeiten des Aufruhrs“ von 2008 kennen, die ich allerdings nicht gesehen habe.

Dieser aus heutiger Sicht nicht herausragend originell klingende Plot lebt von der absoluten Glaubwürdigkeit der Protagonisten, ihrer Motive, Dialoge und Handlungen. Die Charaktere werden seziert, aber nicht verraten. Yates’ Blick auf seine Figuren ist kühl, aber nicht lieblos, auch wenn er offenbar die meisten Sympathien für den in einem Irrenhaus untergebrachten Sohn der Maklerin zu haben scheint. Die Sprache des Romans ist zwingend, einfach, nie prätentiös und erzählt scheinbar mühelos etwas Trauriges und Wahres über das Leben zweier spezieller Menschen und der Menschheit allgemein. Der Handlungsaufbau ist makellos und mitreißend. Es gibt, anders als bei vielen „großen“ (männlichen) Autoren, keine Spur von Sexismus, Selbstgefälligkeit oder Geschwätzigkeit.

Richard Yates, der „Revolutionary Road“ im Alter von 35 Jahren nach seiner ersten Ehescheidung als sein Romandebut veröffentlichte, wurde früh ein Liebling der Kritiker- und Autorenschaft, verkaufte von den Hardcoverausgaben seiner Bücher aber nie mehr als 12.000 Stück. Schon vor seinem Tod geriet er zunehmend in Vergessenheit, ist aber heute bekannter als je zuvor, nicht zuletzt wegen eines leidenschaftlichen Aufsatzes von  Stewart O’Nan, der 1999 in der Boston Review erschien.

Nachtrag: Da ich das Buch sofort nach der Empfehlung haben wollte, habe ich das öde ummantelte “Buch zum Film” gekauft, und muss mir nun die Beschimpfung “Buch-zum-Film-Leser” gefallen lassen.