Archiv für die Rubrik ‘ab 2000’

Bestürzt

4. September 2012 | von engl

Sturz der Tage in die Nacht, Antje Rávic Strubel

Ich saufe Bücher derzeit, wie früher nach der Schule, zwei bis drei in der Woche*. Ich komme nicht nach mit den Schreiben hier, mit dem Beschreiben des Lesens. Ich muss ja auch noch ein bisschen arbeiten, hier und da.

Manche Bücher gehen nahtlos rein, verteilen sich im Körper, im eigenen System, als seien sie dafür gemacht. Andere gehören mir nicht, gehören einfach nicht zu mir. Das muss nicht am Buch liegen, in den meisten Fällen liegt es an mir. Oder am Thema. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht bin, nicht verstehe. Und manche davon erschließen sich auch nicht durchs Lesen. Das ist weder Pech noch Glück, das ist einfach so. Ich kann lesen, wie es ist, über die Kindheit hinaus in einer Familie zu leben. Wie es ist, Menschen zu verlieren, die bislang tagtäglich da waren. Ihre Stimme, ihre Gedanken, ihre Gegenwart. Wirklich verstehen werde ich es wohl dennoch nie. Das weiß ich, und das macht nichts.

Nur wenige Bücher leben dazwischen, zwischen Einverleibung und bleibender Fremdheit. Manche Bücher laden mich ein, verführen mich mit Sprache und Geschick, aber lassen mich dennoch außen vor. Zurückgewiesen, als wäre ich es nicht wert. Sie lassen mich nicht ein, kommen aber auch nicht zu mir. Nicht freiwillig. Diese Bücher lassen mich enttäuscht über die Unmöglichkeit einer Begegnung zurück, nicht gelassen, nicht entspannt. Mit dem Gefühl, etwas Wichtiges nicht erreicht zu haben. Das ist selten, und das ist tragisch. Das sind die Bücher, die ich nicht vergesse, obwohl ich kaum etwas von ihnen weiß.

Mit Büchern von Antje Rávic Strubel habe ich vor Jahren schon diesen Kampf geführt, aussichtslos, gleich zweimal. Gnadenlos bin ich gescheitert, an Offene Blende und Unter Schnee, obwohl ich wirklich alles gegeben habe. Nichts ist geblieben, Fetzen vielleicht, und ich habe aufgegeben. Bis vor ein paar Wochen. Sturz der Tage in die Nacht war unter dieser Vorgabe ohne Zweifel ein Wagnis, das gebe ich zu. Doch es war gnädig. Und ich glücklich. Nach 50 Seiten etwa war die Gewissheit erlangt, dass ich diesmal schaffen könnte, nicht nur meine Augen unverbindlich auf die Worte zu richten, sorgfältig, auf eines nach dem anderen. Sondern mehr von mir, tiefer und weiter, zu sehen, zu wissen, zu verstehen.

Das ist hier kein Rezensionsblog, ich erzähle jetzt nicht, worum es in dem Buch geht. Wozu noch ein Klappentext? Selber lesen macht reich. Oder selber googeln.

400 Seiten sind viel, 400 solche Seiten noch mehr. 437 genau genommen. Zwischendurch laufe ich durch meine Wohnung und klappere ein wenig mit den vorhandenen Steinen, versuche mich in perkussiven Elementen von vor Jahren. Ich lache ein bisschen, besonders über die Dialoge. Ich ärgere mich auch, hier und da. Mal über mich, mal über mich störende Bilder. Was im Grunde dasselbe ist. Fremdheit und Starre, die mich doch fast wieder rauszuwerfen drohen. Es knirscht in den Kurven, Sand auf Metall. Das bin ich. Ich flüchte kopfwärts, wo es nicht angebracht ist. Doch ich spüre eine Zartheit und Intensität, mehr und mehr, die zu mir nicht gehört. Denke ich. Die mich dennoch nicht rauswirft, letztendlich. Diesmal nicht. Die in mich einwächst stattdessen. Dafür ist kein Raum in mir, eigentlich, aber da wird Raum. Vielleicht. Und ich weiß nicht mehr, was ich bin, auf einmal. Das passiert mir sonst nur bei Lyrik.

Am Ende stehe ich da mit einer Frage. Sicher nicht die zentrale Frage dieses Buches, da gibt es andere, eine besonders, das habe ich inzwischen nachgelesen. Doch es ist jetzt mein Buch, ich habe es gekauft. Ich kann damit tun, was sich will. Und die eine bekannte, die scheinbar zentrale Frage interessiert mich eher marginal. Mich dagegen treibt die Frage nach dem Zufall. Kann das wirklich sein, dass all das, diese 437 Seiten, von Anfang an auf der Spitze des Zufalls stehen? Das kann nicht sein, das würde ich mich nie trauen. Ich muss etwas überlesen haben, bei 437 Seiten ein Leichtes. Um einen Zufall zu entkräften, braucht es womöglich nur einen halben Satz. Oder nicht?

Diese offene Frage treibt mich schließlich in eine Lesung. Von Lesungen ist hier sonst nicht die Rede, das soll auch nicht sein. Hier geht es um Bücher und seine Leser, dieses höchst intime Zusammenspiel zweier Giganten. Doch in diesem Fall will ich eine Ausnahme machen, es handelt sich wohl um eine Art Schock.

Lesungen der sogenannten Hochliteratur, die in einem irgendwie postulierten, gar akademischen Rahmen stattfinden, lassen grundsätzlich Schreckliches vermuten. Ich weiß das, ich hätte gewarnt sein sollen. Aber mitunter bin ich ein freches Kerlchen und trage meine olle Fresse auch mal in eine unpassende Umgebung. Wenn es anders nicht geht.

Frontallesung mit Tisch. Gut, das war zu erwarten. Der Raum ist durch und durch beige und wird quer bespielt. Da kann man nichts machen. Ich habe schon auf Europaletten Salsa gespielt, damals, zu Bandzeiten. Die Beine der Trommeln stürzten  immer wieder in die Lücken. Aber man nimmt es, wie es kommt. Bei einer Lesung in einem kleinen Theater saß ich einmal über eine Stunde unmittelbar vor einem zirka zwei Meter hohen Eisblock. Selten habe ich so gefroren. Bis heute frage ich mich, ob das Publikum mein unkontrolliertes Zittern gesehehen haben könnte. Das kann man sich nicht aussuchen, das weiß ich. Wenn man auf die Bühne muss. Das Licht kommt an diesem Abend von oben, im ganzen Raum. Und es bleibt, die ganze Zeit. Zwei Strahler sind kaputt, zum Glück auch der über mir. Dafür bin ich dankbar. Die Sitze sind gepolsterte Freischwinger, und es gibt Teppich, natürlich. Nichts, das quietschen oder knarren könnte. So hat der Raum keinen Ton. Ich versuche, ob mein rechter Stiefel vielleicht ein kleines bisschen knatschen mag. Tut er aber nicht. Leider. Ich leide, dabei hat es noch nicht einmal angefangen. Ich schalte mein Mobiltelefon stumm und schreibe eine SMS an Madame Modeste, die mich aus beruflichen Gründen versetzt und in diesem Elend allein gelassen hat. Sie soll auch leiden. Die Luft steht, jetzt schon. Draußen wird es dunkel.

Das alles ist völlig normal, ich weiß. Dennoch bin ich beinah geneigt an dieser Stelle die Lesebühnen zu preisen, deren Gagschnapperei mir sonst doch eher unangenehm ist. Aber Klagenfurt, das ist es. Da, wo sich alles reibt, wenn auch womöglich nur an der Oberfläche. Und außerdem noch zu ganz anderen Themen als nur zu Text und Literatur. Das hat dennoch eine andere Qualität. Das ist gut, das lebt. Klagenfurt ist wirklich einzigartig, das weiß ich in diesem Moment. Dann geht es los.

Ich weiß auch nicht. Sind solche Lesungen eine Leserabtötungsmaschinerie? Soll auf die Art den Büchern der Saft entzogen werden? Die ältere Dame neben mir nickt eindeutig mehrmals ein. Der Text, den ich höre, gefällt mir. Sowieso, den kenne ich ja schon. Aber da ist auch Klang, da ist eine ruhige Kraft. Nichts anderes als das, zumindest nicht in dem, was ich an diesem Abend höre. Trotzdem drückt irgendetwas die Stimmung. Ist es wirklich der Raum? Sind es die Zuhörer, die Veranstalter? Bin ich es? Die „Diskussion“ am Ende bestürzt mich, schlagartig verliere ich die Fassung. Da ist kein Leben mehr, kein Moment, kein Humor. Vorgefertigte Fragen, vom Blatt gelesen, artige Antworten. Doch ja, Frau Strubel müht sich. Vermutlich. Aber wozu? Ich selbst bin augenblicklich eingestaubt. Oder war ich das vorher schon? Mein Hirn ist leer, alle Leselust verloschen. Was war das noch für ein Buch? Ich hatte mich doch hineingelesen, vor nicht allzu langer Zeit. Die Frage nach dem Zufall fällt mir nicht einmal mehr ein. Ich hätte wohl auch nur eine Staubwolke in die Luft gepustet, an diesem stimmlosen, raumlosen Ort. Dann plötzlich Blümchen, Ende, Aus. Kein Wort mehr, kein Satz. Keine Frage. Keine einzige Pause, keine Luft für ein paar Gedanken. Wo doch Literatur auch und vor allem in ihren Leerstellen wohnt, in den Auslassungen und Atempausen.

Diese Lieblosigkeit. Das hat weder dieses Buch, noch die Literatur verdient. Ich hätte da noch eine Frage. Eigentlich. Irgendwo.

Die meisten Zuhörer verschwinden schnell zu den SektWeingläsern. Ich sitze noch da, schreibe eine SMS. Ich will bemitleidet werden, immerhin wurde ich in Literatur erwürgt. In guter Literatur noch dazu, was für eine Verschwendung. Oder wurde in mir die Literatur erwürgt? Ich hoffe nicht. Da beginnen hinter mir zwei Männer, die womöglich zum Haus gehören, ein Fachgespräch. Das erste des Abends, das erste echte, jenseits der schlechten Show. Schreiben kann sie ja, höre ich, aber… In dem Moment höre ich weg, ich mache aus, alles. Das will ich nicht wissen. Ich will Bücher. Ich greife meinen Helm wie zum Schutz und flüchte, so schnell es geht.

Denn Bücher leben. Beim Schreiben, wie ich selber weiß. Und beim Lesen, das ist den meisten Lesern sicher nicht unbekannt. Aber selten in (solchen) Lesungen, fürchte ich. Die machen nur stumm und taub.

So bleibt mir die Frage nach dem Zufall. Offen. Was auch okay ist, denke ich.

* Okay, das war in dieser einen Woche, ich geb’s ja zu. Und das abgebildete Buch gehörte selbstverständlich nicht dazu, das waren kleinere. ;)

anders. bleiben.

29. July 2012 | von engl

Wie wir begehren, Carolin Emcke

Manchmal werden Bücher persönlich. Das heißt, eigentlich werde sie das bei mir immer, irgendwie, aber nicht immer muss ich etwas dazu sagen. Das wäre zu persönlich, das gehört nur mir. Doch diesmal geht es nicht anders. Ich bitte um Verzeihung.

Dieses Buch geht mich an. In seiner glasklaren Sprache, seiner Tiefe und Komplexität, mit seiner Zartheit und Wucht.  Und das mit der Homosexualität, ja sicher, das auch. Aber mehr noch das Werden und Wachsen überhaupt, die Suche nach dem Selbst, der Quelle hinter allem. Treibend, wie das Begehren selbst. Ebenso das Anderssein, grundsätzlich, das Randständige. Das Wissen und das Schweigen darüber. Was immer es sein mag, worüber geschwiegen wird. Das Selbst? Oder das Begehren? Und die Illusion, in all dem niemals wahrgenommen zu werden. Das ist ein Fehler.

Die erste unverschämte Nähe beim Lesen erkenne ich in den Dingen und in einzelnen Worten. Das mit den Dingen erklärt sich leicht, es sind die Dinge meiner Zeit. Schallplatten, die man ständig umdrehen muss, um die besten Songs zu spielen. Der Dualplattenspieler, den hatte ich auch. Den habe ich heute noch. Die BRAVO als einzige Quelle für was auch immer. Benannt wird es nicht, es ist innen. Und es bleibt dort, wie es sich gehört.  Das mit den Worten ist anders, es kommt schleichend. Ich kenne das, irgendwie. Ich nutze es nicht mehr, aber es klingt. Dann: Anziehsachen. Das ist mir vertraut, vertrauter als es sein sollte. Ich begreife, dass ich womöglich nebenan gelebt habe, damals. Nicht weit entfernt, nur eine Stadt. Was im Ruhrpott wenig Bedeutung hat, die Städte liegen eine an die andere geschmiegt. Nur wenige Jahre älter bin ich. Das ist meine Welt. Und sie ist es auch nicht.

Coming of Age, davon habe ich recht viel zu hören bekommen in letzter Zeit. Keine Ahnung, warum. Nichts davon hat mich interessiert, zu flach, zu weit, zu lange her. Nicht mehr meins. Dieses Buch ist anders, es schlägt mich von den Beinen. Nach ein paar Seiten schon, obwohl ich anders bin, anders war, anderswo vor allem. Das Werden und Wachsen, das so intensiv nachgezeichnet wird, ist mir fremd. Und vertraut zugleich. Es ist mir unerreichbar, in jeglicher Hinsicht. Und doch verstehe ich, jedes Wort. Ich weiß das, alles. Die Macht und die Zerbrechlichkeit erotischen Werdens, diese plötzliche Klarheit mitunter. In all dem Chaos. Ich weiß um den Wert dieser Dinge, dieser Zeit

Doch ich bin die, mit der man nicht spricht. Ich bin Daniel, nur dass ich noch lebe. Ich bin die leere Stelle. Und ich bin die aus der Realschule, das macht einen Unterschied. Auch so eine Stelle. Obwohl  Carolin Emcke durchaus recht tut, es zu erwähnen. Die vom Gymnasium traf man nicht, nur in der Straßenbahn manchmal. Und man sprach nicht mit ihnen. Was auch? Unwichtig, was wir gedacht haben mögen übereinander. Welche Spielchen wir gespielt haben. Ich weiß es nicht mehr. Doch da waren leere Räume zwischen uns, unüberbrückbar. In meinem Werden gab es keine Musik, keine Konzerte, kein Theater. Auch die Bücher musste ich mir selber suchen. Und mich dafür auslachen lassen. Denkst wohl? Bist wohl was Besseres? Warte nur ab! Mein Selbst ist an diesen Stellen durchlöchert, zerschossen. Es ist leer. Ich bin eine Inselständige. Es gab keine Möglichkeit, für mich, dem zu entkommen. Keine Möglichkeit, mir selbst zu entkommen.

Einen Kinderwald allerdings, den hat es gegeben. Drei oder vier Bäume nur, am Rand der Neubausiedlung mit den Sozialwohnungen. Da, wo ich eigentlich gar nicht hindurfte. Und Wiesen und Regen. Und Sand zum Bauen. Werkzeuge, nicht zu vergessen. Nicht von ungefähr bin ich zunächst Handwerkerin geworden. Ich hatte gute Füße und noch bessere Hände. Als Kind habe ich alles erreicht und begriffen. Die Leere kam später. Doch es war offensichtlich genug Wald und Werkzeug in mir, um zu bleiben.

Anders zu bleiben.

Post-Gastarbeiter-Literatur

11. March 2012 | von Kaltmamsell

Pia Ziefle, Suna

Pia Ziefle kenne ich aus dem Internet, als Blogautorin und als Kommentatorin in meinem Blog. So wusste ich schon lange, dass Abstammung aus verschiedenen Kulturen sie beschäftigt. Jetzt ist aus dieser Beschäftigung ein Roman geworden, der wohl das Dichteste, Kräftigste und Kunstfertigste ist, was ich seit Langem an deutscher Literatur gelesen habe.

Westliche Literatur, die aus einer Geschichte von Migration und Mischung verschiedener Historien und Kulturen entsteht, kenne ich aus Großbritannien: Dort hat postcolonial literature seit Jahrzehnten eine auch literaturwissenschaftlich erfasste eigene Tradition. Beispiele reichen von Doris Lessing über die Bücher von Salman Rushdie bis zu Andrea Levy, Small Island. Das Pendant in Deutschland beginnt sich gerade erst zu bilden, ich nennen es testweise Einwandererliteratur. (Ist eine Germanistin im Raum, die mir den Stand der Forschung berichten kann und ob es vielleicht schon einen üblichen Terminus gibt?) Und Pia Ziefles Suna beweist aufs Großartigste, wie groß die literarische Lücke ist, die durch dieses Genre gefüllt werden muss.

Die deutsche Gesellschaft und vor allem die Politik haben sich viele Jahrzehnte lang dem Umstand verweigert, dass Deutschland ein Einwanderungsland war und ist. Die Konsequenzen dieser Verweigerung baden wir gerade aus und werden es noch lange tun. Die literarische Verarbeitung dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit ist sicher nicht der schlechteste Weg, die Komplexität der deutschen Einwanderungsgeschichte sichtbar zu machen.

Suna tut das auf ganz individuelle Art. Die Hauptperson und Erzählstimme, Luisa, erzählt ihre höchst besondere Geschichte. Sie ist einerseits nicht denkbar ohne die Ereignisse im Nachkriegsdeutschland, andererseits aber überhaupt nicht repräsentativ für eine Generation oder auch nur beispielhaft für eine Gruppe von Menschen – und macht dadurch die Vielfalt von Auswirkungen erlebbar. In den sieben Nächten vor ihrer Reise in den Heimatort ihres leiblichen türkischen Vaters erzählt Luisa ihrer kleinen Tochter die Geschichte ihrer Vorfahren, einschließlich ihrer selbst. Luisa ist eine gequälte Seele, die nicht nur die eigenen Narben einer Aufgabe durch die leiblichen Mutter und der Zerrissenheit zwischen verschiedenen Familien trägt, sondern auch die Last ihrer Vorfahren: Der jugoslawischen Seite mit Armut und Existenzkampf bis hin zum Bürgerkrieg. Der türkischen mit Entwurzelung, Enttäuschungen und Abfinden mit Unausweichlichem. Der deutschen Adoptivfamilie, gelähmt vom Trauma des Zweiten Weltkriegs, den Gräueln und der Schuld.

Mir wurde überraschend klar, wie eng deutsche Kriegserlebnisse und Vertreibung mit der Gastarbeiterzeit verwoben sind. Dabei hätte mich das eigentlich nicht wundern sollen, denn mein spanischer Gastarbeitervater hat die 1945 geborene Tochter einer polnischen Zwangsarbeiterin geheiratet, sein bester Freund, ebenfalls Gastarbeiter aus Spanien, eine Vertriebenentochter aus Schlesien. Dennoch ist mir erst durch Suna bewusst geworden, dass es keine Generation dazwischen gab, dass die Einwanderer der 60er und 70er Jahre in Deutschland auf Menschen trafen, die durchwegs vom Krieg traumatisiert waren. (Dabei hatte mir mein Vater doch noch erzählt, wie seine ersten deutschen Kollegen in der Nürnberger Fabrik ihm den Tipp gaben, sich gegen die Kälte mit Zeitungswickeln unter der Hose zu wappnen – das hatten sie im Krieg in Russland gelernt.)

Die Erinnerungen der Erzählerin in Suna sind dicht und reich. Kapitelweise und darin abschnittsweise wechselt die Szene, wechselt die Zeit. Verschiedene chronologische Erzählstränge greifen die Geschichten von deutschen Adoptiveltern, von jugoslawischer Mutter auf und vom türkischen Vater. Dazu kommt Luisas Geschichte ab dem Moment eigener Erinnerungen – je älter und bewusster Luisa wird, desto größeren Raum nimmt ihr Leben in der Erzählung ein. Am Ende des Romans haben alle Erzählstränge zueinander gefunden und verknüpfen sich. Die große Begegnung aber bleibt ausgespart, wir bekommen glücklicherweise keine Erlösung oder Heilung geliefert.

Die sprachlichen Mittel wechseln dabei ebenso reich je nach Zeit und Szene, setzen den Tonfall und die Stimmung. Meist wird sehr mündlich und leicht erzählt, doch es scheinen Märchenwendungen auf (der Rahmen der sieben Nächte lässt ohnehin Sheherazade anklingen), andere Passagen bestehen aus innerem Monolog und fast freier Assoziation.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Klappentext die richtigen Leser anspricht: „Was alles aus Liebe geschieht – eine deutsch-türkisch-jugoslawische Familiengeschichte“ – der Roman ist so groß und wichtig, dass er dringend in die Feuilletons der großen Tageszeitungen gehört (Herr Seibt?).

das leben als album

6. February 2012 | von Casino

Nicolaus Schmidt: facebook:friends, Kerber-Verlag 2012

letzte woche war ich auf einer finissage und habe mich dort im vorgestellten buch festgelesen. ich habe keines, weil ich mich nicht getraut habe, den autoren (friend of mine) um eines zu bitten, außerdem soll man ja grade die bücher von freunden unbedingt kaufen, aber das war mir dann zu komplex als interaktion. nicolaus schmidt hat für sein neues buch die profilbilder seiner facebookfreunde durchgesehen und eine auswahl davon als buntes und überraschendes kaleidoskop veröffentlicht, es sind dabei alben der unterschiedlichsten personen zusammengekommen. er hat einige dieser freunde auch über deren fb-nutzung ausgefragt, in den texten werden die möglichen umgangsarten mit dem monsternetzwerk nochmal gespiegelt, es geht von “weil alle es machen” bis zu “facebook ist mein leben”.
ich hab in der auswahl von nicolaus einen hauptunterschied zwischen älteren und jüngeren nutzern gesehen: das leben der jüngeren findet direkt auf facebook statt, es passiert dort, jetzt grade, es wird nicht mehr erzählt wie von uns, den eher traditionelleren vernetzten. wir leben außerhalb von facebook, nehme ich mal an, dort landen spuren von veranstaltungen, reisen, filmen oder büchern/texten, an denen wir teilgenommen haben, ganz klar mit einem chronologischen aspekt, postkarten von der reise durchs soziale leben, höchstens noch marketinghilfe für events jeder art, mit diesen einladungen und dem ewigen kommst du? kommst du?- gefrage wie bei kindergeburtstagen.

die anderen, die fb-natives sind auch mit leichter hand ausgewählt, die bilder total anders, es sind behauptungen, kostümierungen, fließende bunte einzelteile, die wenig von der welt zeigen, sie sind alle teil eines selbstentwurfs, denn man muss/darf, whatever, sich ja inzwischen selber entwerfen, designen. ob es diese person im realen leben wirklich gibt, ist nicht mehr interessant, die bilder zeigen alles wesentliche, sie sind ein lautes ich bin. die inszenierung ist nicht mehr nur maske, sie scheint weit unter die haut gerutscht und soll mit dem kern identisch werden, mit dem armen kleinen ego, das bei uns allen irgendwo unter der schale sitzt. wie christoph meckel es einmal so trefflich beschrieben hat: “Ich seh dich /schön verwandelt in den Traum von dir –/ aber du, in der Zeit, verletzlich, verführbar/ zitternd vor Verlangen, angstvoll, sprachlos”.

die erste zeile des zitierten gedichts, aus “Souterrain” passt genauso, zur gegenwart und zu dieser alben-auswahl im buch, sie lautet: “Immer mehr Verlangen nach facilité“, da kann man ja nur jaja brüllen, laut.

zurück zum buch: wenn ich mir diese ausgewählten fotos der natives anschaue, dann brauche ich keine fragen mehr stellen, es ist alles gesagt, die wirklichen personen dahinter sind nicht relevant, es sind alles wysiwyg-figuren. sie haben eine ganz eigene konsistenz, bisschen dorian gray, bisschen kunstwerk, oder ist das jetzt zu psycho? well, maybe. ich finde den gedanken total faszinierend, ich bin einfach noch nicht drauf gekommen: was, wenn es tatsächlich genügt, sich ein anderes leben einfach zu entwerfen? wenn man es gar nicht wirklich leben muss? das ist doch schon verlockend.

facebook : friends zeigt jedenfalls viel mehr, als ich dachte, als ich zuerst davon gelesen habe – natürlich in einer facebook-einladung. es ist ein schönes kaffetisch-buch für alle leute, die sonst nicht immer im netz hängen, aber wissen wollen, wie das alles so ist. oder für die, die wünschen, das etwas bleiben möge von all dem gewirbel.

schoßgebete, gelesen bis s. 172

5. February 2012 | von Casino

ich wollte ein buch kaufen für eine geburtstagsparty und habe im wunderbaren buchreigen gleich noch ein paar andere mitgenommen. neugierig roches schoßgebete angefangen, hauptsächlich wegen dem sex am anfang des buches ehrlichgesagt, sie schreibt wirklich gut, es ist schlicht und nur ein bisschen erschreckend in seiner ausführlichkeit, ich denke dann, okay, man denkt so vor sich hin bei diesen und anderen sozialen interaktionen, aber so denke ich nicht, das kenne ich nicht, also jetzt nicht inhaltlich, sondern stilistisch, der duktus, das herzlose, und lese dann so angenehm interessiert vor mich hin, bis ich dann nachts nach der party an die stelle mit dem unfall komme, der über seiten und seiten nicht mehr aufhört. ich war vollkommen wehrlos und ich hatte keine kritiken gelesen, schon die über feuchtgebiete nicht, weil ich das thema einfach nicht so interessant fand, hätte ich mal, und dann lag es da im laden für nur 8,50 – nimmt man mit, klar.

im nachhinein lese ich diese detailversessenheit, ihren blick auf jede falte, jedes haar, diesen ganzen stream als versuch, den tod vollzutexten, bis er verschwindet, zumindest aus der gegenwart.

ich hab das buch in der nacht sehr angerührt sehr weit weggelegt, es ist vom bett gefallen dabei, jetzt grad bei einem hundespaziergang versucht, dieses gehtnicht quasi einzunorden – es gibt viele viele tausend mütter und geschwister, die in kriegen, nach attentaten oder eben unfällen mitten durchgeschnitten werden durch den tod der kinder, das solltest du als leserin aushalten können, das gehört in den bildungshorizont, das leiden, aber es fällt mir zu schwer. ich kriege diese berührung nicht richtig ab, wenn ich das buch zumache, weil es wirklich passiert ist, es geht nicht mehr weg in all seinen details. ein notwendiges buch für die autorin, aber ich habe nicht verstanden, warum ich mich da so hineinwerfen lassen soll. mal gucken, ob ich es noch weiterlese. was soll ich mitnehmen als leserin? (natürlich außer ihrem vollkommen gerechtfertigten hass auf diese arschlöcher der bildzeitung, klar, der ist notwendig.) ich aka der rest der welt soll auch leiden, kann ich verstehen, es ist alles unfassbar entsetzlich, was da passiert ist, sinnlos, zuviel für eine seele. man erfährt die muster der auseinandersetzung mit trauer, die kleinen heilungsvorgänge, die zwänge, die rückfälle, die ganze absurde unausweichbarkeit, aber das handwerklich tolle, das sehr gut geschriebene, dass ich erkenne und wahrnehme, das hilft mir nicht über den inhalt hinweg, den ich schlicht nicht aushalten mag. kann. nicht muss. wenn ich das buch richtig durchlese, wie es gemeint ist, also mit der ich-erzählerin identifiziert, dann benötige ich als leserin mit jeder menge weichteilen danach selber hilfe, eine art supervision, vermutlich ein nächstes buch der autorin, um aus diesem leben wieder herauszufinden. aber ich mag ihre hommage an den körper als das einzige, was wir sicher haben.

trotzdem: i prefer not to.

Frauenbuchlaunigkeit oder Tragikomik?

25. January 2012 | von Kaltmamsell

Mariana Leky, Die Herrenausstatterin

Fantastische Elemente in Romanen sind schwierig, selbst wenn sie als magic realism konstruiert sind: In einer sonst alltäglichen und realistischen Umgebung rutschen sie leicht ins Niedliche, vor allem in Frauenromanen. Und das ist vermutlich mein Problem mit Die Herrenausstatterin von Mariana Leky. Die Ich-Erzählerin Katja hat ihren Mann verloren, erst an eine andere Frau, kurz darauf an den Tod. Ihre überforderte Psyche fantasiert sich daraufhin zwei Männer herbei, von denen der eine zumindest ein Pendant in der Realität zu haben scheint: Den gepflegte alte Herr Blank, soeben verstorben und nun auf dem Rand ihrer Badewanne sitzend, und den Feuerwehrmann Armin, dessen Auftauchen in ihrer Küche ebenso wenig erklärt wird. Der realism dabei ist, dass sie in ihrem Alltag damit problemlos durchkommt. Das funktioniert erzählerisch nur durch einen gewissen launigen (Sie merken vermutlich, dass ich überdurchschnittlich empfindlich auf deutsche Launigkeit reagiere) Frauenbuchtonfall, der allerdings auf die meisten Leserinnen den Effekt der Tragikomik zu haben scheint – darauf lässt zumindest das Echo in Blogs und Frauenzeitschriften schließen. Zu meinem großen Bedauern funktionierte das bei mir nicht: Mich machte der Roman ratlos – ein interessanter Versuch, die Verarbeitung von menschlichem Leid zu schildern, aber für mich recht beliebig. Ich bin auch bis zum Schluss nicht mit der Erzählerin warm geworden, habe sie nicht zu fassen bekommen. Ihre Wortwahl und Bildlichkeit waren immer wieder unkonventionell genug, um mich bei der Stange zu halten, aber ich bekam kein Gefühl dafür, wer diese Katja eigentlich ist.

Mit ein wenig gutem Willen lasse ich mich von der Herrenausstatterin an Peter S. Beagles A Fine and Private Place erinnern – auch darin helfen Tote einer Frau über einen Verlust hinweg.

Dumme Schafe

11. May 2011 | von Modeste

Katja Lange-Müller, Böse Schafe, 2007

Vielleicht liegt’s an mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch nie einen Mann retten wollte, an dem mir etwas lag, denn ich möchte für nichts und niemanden leiden, ich will Annehmlichkeiten und schöne, weiße Pelze und Sahnetorten und einen Mann, der mir morgens und abends sagt, dass ich zauberhaft sei. Vielleicht bin ich deswegen die falsche Leserin für Katja Müller-Langes Roman “Böse Schafe”, der von Soja handelt, die in den Achtzigern aus dem Osten nach Westberlin kommt und sich in den letzten Jahren vor der Grenzöffnung in Harry verliebt, einen Junkie, und dann alles für ihn tut, und er tut nichts für sie.

Mag sein, dass das für manche Leute wie Liebe aussieht. Für mich sieht das wie eine pathologische Koabhängigkeit aus, zumal Frau Müller-Lange den drogenabhängigen und HIV-infizierten Ex-Sträfling Harry mit keinem liebenswerten Zug ausstattet: Harry ist nicht nur auf einer reichlich abschüssigen Bahn ziemlich weit unten angekommen. Harry ist auch ein echter Kotzbrocken, verlogen, vulgär, kriminell wohl nicht nur aus Not, sondern auch aus Neigung, rücksichtslos gegenüber denen, die ihm helfen wollen, undankbar und unverschämt gegenüber Soja und denen, die sie dazu bringt, ihm zur Seite zu stehen. Nicht einmal ein echtes gegenseitiges Gefühl scheint Harry Soja entgegen zu bringen, denn in seinen Aufzeichnungen, die sie Jahre später nach seinem Tod an Aids liest, taucht sie nicht auf.

An keiner Stelle des Buches tut mir Harry leid, der am Ende in einem Hospiz an Aids stirbt. Wie man sich bettet, so liegt man, schießt es mir durch den Kopf, auch wenn das oft ungerecht sein mag, aber hier scheint es hinzukommen. Auch auch für Soja habe ich nichts über, die ihre Empfindung für Harry bis ans Ende der Erzählung nicht hinterfragt. Auch die Schilderung des reichlich räudigen Moabit in der Vorwendezeit mag zutreffend und detailgetreu sein, aber was soll ich mit der Schilderung einer Welt, die mich nicht interessiert. Ein bisschen angeekelt bin ich von diesem Roman, den ich nicht durchgelesen hätte, hätte ich mehr zu Lesen mitgehabt auf einer langen Zugfahrt von Bangkok Richtung Süden, denn das ist die Liebe nicht. Das ist vielleicht nur Dummheit.

Wie das Leben weitergeht

27. February 2011 | von engl

Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden, Bernice Eisenstein

Es gibt Themen im Leben, die immer wiederkehren. Jeder Mensch hat sie, ob heimlich oder offiziell. Es gibt diese Knackpunkte, auf die trifft man in regelmäßigen Abständen und kaut aufs Neue darauf herum. Eines meiner Themen ist die Frage danach, wie Kinder durch das Leben ihrer Eltern beeinflusst werden.  Das ist nicht besonders originell, damit beschäftigen sich Wissenschaftszweige der unterschiedlichsten Art und die Literatur sowieso.

Familiengeschichten also. Eine ganz außergewöhnliche hat die Kanadierin Bernice Eisenstein geschrieben und gezeichnet. 2007 erschien sie auf Deutsch, inzwischen ist sie auch als Taschenbuch erhältlich, wie ich neulich festgestellt habe. Höchste Zeit, hier endlich einmal etwas dazu zu schreiben.

Was wissen wir in Deutschland noch von jüdischem Leben, von jüdischer Kultur, die hier vor ein paar Jahrzehnten so gnadenlos, so nachhaltig vernichtet wurde? Was wissen wir von dem Davor? Und vor allem, was wissen wir von dem, was danach kam? Überleben hört nicht auf am Tag der Befreiung. Überleben zieht sich durch die Jahre, durch die Leben, es greift durch die Generationen hindurch. Wer darüber lesen will, nehme dieses Buch zu Hand. Denn Lesen hilft verstehen.

Wie die Autorin selber schreibt:

Ich lese, um als Kind von Eltern, die unvorstellbares Leid erlitten haben, alles zu fühlen. Ich lese, um tapfer zu sein und um zu lernen, meinen Weg in einer sich ständig verändernden Welt zu finden.

Und ein bisschen Jiddisch lernen ist auch noch drin. Mehr mag ich gar nicht sagen.

Am Schnürchen

27. December 2010 | von Modeste

Martin Mosebach, Was davor geschah

Es existiert eine merkwürdige literarische Konvention, menschliche Erlebnisse nur dann für erzählenswert zu halten, wenn sie Personen zustoßen, die sich am äußersten, gefährdeten Rande der Gesellschaft bewegen. Eine Liebesgeschichte zwischen Obdachlosen etwa, ein wenig Sozialrealismus aus dem Arbeitsamt, ungelüftete Zimmer und die Polizei, ganz als würde der lesende Bürger sich und seiner Welt weder Komödie noch Drama zutrauen. Es mag (aber vielleicht irre ich mich) auch ein wenig einfacher sein, über Menschen zu schreiben, die der durchschnittliche Leser, wie man ihn bei Buchhandlungslesungen oder im Theater antrifft, nicht recht kennt. Man merkt dann nicht gleich, wenn die Abbildung der Gegenwart nicht so arg gelungen sein sollte

Spielt eine Liebesgeschichte – nein: deren Vorgeschichte – also einmal unter Menschen, die, ohne direkt gleich im engeren Sinne reich zu sein, wenig finanzielle Sorgen haben, ein offenes Haus im Taunus führen, Gäste in diesem Hause sind, Geschäfte machen und etwas gelangweilt, aber höflich miteinander verheiratet sind, ist man daher angenehm überrascht. Das bürgerliche Liebesleben kommt ja ansonsten immer etwas schlecht weg, so als sei der Spitzensteuersatz zwingend mit erotischer Unerlöstheit verbunden, so dass man schon fast dankbar ist, wenn abseits der ganz trivialen Sphären auch einmal ein Minister a. D. auftritt, ein Unsympath letztlich, aber auch wiederum nicht so verzeichnet, dass er nur noch als Karikatur daherkäme. Auch die Kindergeneration, Leute also zwischen 20 und 30, tauchen auf, die träge, stets etwas benommene Silvi, verheiratet mit dem hoffnungslosen Sohn Hans-Jörg des ehemaligen Ministers, der levantinische Geschäftsmann Salam, das Ehepaar Hopsten und seine Kinder und Gäste, unter ihnen auch der Ich-Erzähler, ein junger Bankangestellter, neu in Frankfurt am Main, und Frau Helga Stolzier, die als eine Art Stilberaterin der Frau Hopsten auftritt, schließlich diejenige Frau einführt, die am Ende den Bankangestellten fragen wird, was denn nun wirklich geschah, bevor man zusammengekommen ist. Viele Zufälle, unspektakulär für sich genommen, kleine, amüsante, sommerliche Geschichten reihen sich wie die Perlen einer Kette aneinander, bis am Ende das Paar sich trifft.

Nahtlos gefügt wie an unsichtbaren Schnüren wechseln die Szenen in angenehm plätscherndem Parlando. Man verliebt sich nicht über Gebühr heftig, man lädt sich ein, man betrügt sich nicht ganz ohne Drama, ein anonym böser Brief trifft ins Schwarze. Am Ende trennen sich zwei Paare, damit sich eins findet, und wenn der Roman endet, hat die Nachtigall gesungen, ein Kakadu hat sich geputzt, ein Baum wurde gefällt, und ganz bar der schrillen Töne fällt der Vorhang unter verdientem Applaus.

Im Herzen des Schreckens

19. December 2010 | von Anselm Neft

Thomas Ligotti:  Teatro Grotesco (Virgin Books 2008)

Hätten mich alle Geschichten des hier zu besprechenden Buches so fasziniert wie die erste („Purity“) und die letzte („The Shadow, the Darkness“) – ich hätte keine Rezension dazu veröffentlicht. Das, was für mich auf eine eng mit meiner Person verwobene Weise großartig ist, möchte ich nur mit den Wenigsten teilen. Vielleicht ist das egoistisch, vor allem aber  verbirgt sich dahinter die Sorge, dass unter den Augen Anderer die Magie geschwächt wird.

Ligotti wollte nach eigener Aussage stets nur ein Insider-Autor sein, und wenn man sieht, dass sein nicht mehr verlegtes Frühwerk hei Amazon für bis zu 200 € gehandelt wird, kann man vermuten: Es ist ihm gelungen.

Wie bei H.P. Lovecraft haben Ligottis Horrorerzählungen einen pessimistischen Überbau. Das Entsetzen ist nicht allein Reaktion auf singuläre Phänomene, sondern in letzter Konsequenz auf die Existenz selbst. Wer dieser “dunklen Gnosis” einmal teilhaftig geworden ist, kann, wenn überhaupt, nur noch durch ein Eingeständnis der Sinnlosigkeit und vielleicht eine zunehmende Identifikation mit dem Gräßlichen in der Monstrosität des Daseins ausharren. Hierzu ein Zitat aus den Erzählfragmenten „Sideshow and other stories“:

“I wanted to believe that this artist had escaped the dreams and demons of all sentiment in order to explore the foul and crummy delights of a universe where everything had been reduced to three stark principles: first, that there was nowhere for you to go; second, that there was nothing for you to do; and third, that there was no one for you to know. Of course, I knew that this view was an illusion like any other, but it was also one that had sustained me so long and so well — as long and as well as any other illusion and perhaps longer, perhaps better.”

In der Titelgeschichte heißt es: “It has always seemed to me that my existence consisted purely and exclusively of nothing but the most outrageous nonsense.”

Ähnlich wie Edgar Allan Poe nähert sich Ligotti der zersetzenden Einsicht in den Widersinn der eigenen Identität und die Widerwärtigkeit des Universums oft mit nüchterner Beobachtung und scheinbarer Rationalität. Auch der größte Irrwitz (wie z.B. die Fabrik in „The Red Tower“) wird mit einer gewissen Gelassenheit dargestellt: Vor dem Unausweichlichen erscheint jede Hysterie unangebracht.

Im Genre des Horrors gehört Ligotti zu den großen Stilisten. In seinen Mitteln limitierter als Poe, übertrifft er sprachlich Lovecraft mit Leichtigkeit. Dennoch neigt auch Ligotti in manchen Passagen zu einem lovecraftschen „Zuviel“. Zwar weiß er sich bei dem Gebrauch von Adjektiven auf das Nötige zu beschränken, aber beizeiten wiederholt er Gedankengänge und leicht variierte Beschreibungen recht häufig, ohne dass jedes Mal die vermutlich angestrebte Sogwirkung (im Sinne eines Thomas Bernhard, der neben Nabokov, Poe und Kafka zu Ligottis Vorbildern zählt) erreicht würde. Obendrein philosophieren die Ich-Erzähler (z.B. in der größtenteils fesselnden Geschichte „The Gas Station Carnivals“) hin und wieder etwas zu ungezügelt vor sich hin und schwächen damit leider die Wirkung der meist atmosphärisch äußerst dichten Erzählungen.

Neben seinem stilistischen Anspruch sowie seinem konsequenten und unbestechlichen Pessimismus, liegt eine weitere Stärke Ligottis darin, dass er moderne Arbeitsbedingungen thematisiert. Texte wie „My Case for Retributive Action” oder „Our Temporary Supervisor“ könnten mit dem Sub-Genre-Etikett “Corporate Horror” versehen werden. Auch die wiederkehrenden Darstellungen von Zirkeln erfolgloser Künsterlerinnen und Künstler bergen einen subtilen schwarzen Humor, der zusammen mit der gotischen Eleganz der ligottischen Phantasmagorien, deren inhaltliche Finsternis erträglich macht. Oder, um es mit Ligotti selbst zu sagen: „We may hide from horror only in the heart of horror.”

P.S.: Die Übersetzungen ins Deutsche sollen nicht besonders gelungen sein.