anders. bleiben.

29. July 2012 | von

Wie wir begehren, Carolin Emcke

Manchmal werden Bücher persönlich. Das heißt, eigentlich werde sie das bei mir immer, irgendwie, aber nicht immer muss ich etwas dazu sagen. Das wäre zu persönlich, das gehört nur mir. Doch diesmal geht es nicht anders. Ich bitte um Verzeihung.

Dieses Buch geht mich an. In seiner glasklaren Sprache, seiner Tiefe und Komplexität, mit seiner Zartheit und Wucht.  Und das mit der Homosexualität, ja sicher, das auch. Aber mehr noch das Werden und Wachsen überhaupt, die Suche nach dem Selbst, der Quelle hinter allem. Treibend, wie das Begehren selbst. Ebenso das Anderssein, grundsätzlich, das Randständige. Das Wissen und das Schweigen darüber. Was immer es sein mag, worüber geschwiegen wird. Das Selbst? Oder das Begehren? Und die Illusion, in all dem niemals wahrgenommen zu werden. Das ist ein Fehler.

Die erste unverschämte Nähe beim Lesen erkenne ich in den Dingen und in einzelnen Worten. Das mit den Dingen erklärt sich leicht, es sind die Dinge meiner Zeit. Schallplatten, die man ständig umdrehen muss, um die besten Songs zu spielen. Der Dualplattenspieler, den hatte ich auch. Den habe ich heute noch. Die BRAVO als einzige Quelle für was auch immer. Benannt wird es nicht, es ist innen. Und es bleibt dort, wie es sich gehört.  Das mit den Worten ist anders, es kommt schleichend. Ich kenne das, irgendwie. Ich nutze es nicht mehr, aber es klingt. Dann: Anziehsachen. Das ist mir vertraut, vertrauter als es sein sollte. Ich begreife, dass ich womöglich nebenan gelebt habe, damals. Nicht weit entfernt, nur eine Stadt. Was im Ruhrpott wenig Bedeutung hat, die Städte liegen eine an die andere geschmiegt. Nur wenige Jahre älter bin ich. Das ist meine Welt. Und sie ist es auch nicht.

Coming of Age, davon habe ich recht viel zu hören bekommen in letzter Zeit. Keine Ahnung, warum. Nichts davon hat mich interessiert, zu flach, zu weit, zu lange her. Nicht mehr meins. Dieses Buch ist anders, es schlägt mich von den Beinen. Nach ein paar Seiten schon, obwohl ich anders bin, anders war, anderswo vor allem. Das Werden und Wachsen, das so intensiv nachgezeichnet wird, ist mir fremd. Und vertraut zugleich. Es ist mir unerreichbar, in jeglicher Hinsicht. Und doch verstehe ich, jedes Wort. Ich weiß das, alles. Die Macht und die Zerbrechlichkeit erotischen Werdens, diese plötzliche Klarheit mitunter. In all dem Chaos. Ich weiß um den Wert dieser Dinge, dieser Zeit

Doch ich bin die, mit der man nicht spricht. Ich bin Daniel, nur dass ich noch lebe. Ich bin die leere Stelle. Und ich bin die aus der Realschule, das macht einen Unterschied. Auch so eine Stelle. Obwohl  Carolin Emcke durchaus recht tut, es zu erwähnen. Die vom Gymnasium traf man nicht, nur in der Straßenbahn manchmal. Und man sprach nicht mit ihnen. Was auch? Unwichtig, was wir gedacht haben mögen übereinander. Welche Spielchen wir gespielt haben. Ich weiß es nicht mehr. Doch da waren leere Räume zwischen uns, unüberbrückbar. In meinem Werden gab es keine Musik, keine Konzerte, kein Theater. Auch die Bücher musste ich mir selber suchen. Und mich dafür auslachen lassen. Denkst wohl? Bist wohl was Besseres? Warte nur ab! Mein Selbst ist an diesen Stellen durchlöchert, zerschossen. Es ist leer. Ich bin eine Inselständige. Es gab keine Möglichkeit, für mich, dem zu entkommen. Keine Möglichkeit, mir selbst zu entkommen.

Einen Kinderwald allerdings, den hat es gegeben. Drei oder vier Bäume nur, am Rand der Neubausiedlung mit den Sozialwohnungen. Da, wo ich eigentlich gar nicht hindurfte. Und Wiesen und Regen. Und Sand zum Bauen. Werkzeuge, nicht zu vergessen. Nicht von ungefähr bin ich zunächst Handwerkerin geworden. Ich hatte gute Füße und noch bessere Hände. Als Kind habe ich alles erreicht und begriffen. Die Leere kam später. Doch es war offensichtlich genug Wald und Werkzeug in mir, um zu bleiben.

Anders zu bleiben.

3 Responses to “anders. bleiben.”

  1. engl @ absurdum » Blog-Archiv » über das begehren Says:

    [...] im common reader [...]

  2. engl @ absurdum » Blog-Archiv » nachtrag. über das begehren Says:

    [...] noch ein etwas älterer artikel aus dem zeitmagazin. lesenswert, vor allem aus dem besprochenen buch konstruiert. leider mit einem etwas eigenartigen bild verziert. (und die kommentare, wie immer, [...]

  3. Sammelmappe Says:

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