Autor-Archiv

Bestürzt

4. September 2012 | von engl

Sturz der Tage in die Nacht, Antje Rávic Strubel

Ich saufe Bücher derzeit, wie früher nach der Schule, zwei bis drei in der Woche*. Ich komme nicht nach mit den Schreiben hier, mit dem Beschreiben des Lesens. Ich muss ja auch noch ein bisschen arbeiten, hier und da.

Manche Bücher gehen nahtlos rein, verteilen sich im Körper, im eigenen System, als seien sie dafür gemacht. Andere gehören mir nicht, gehören einfach nicht zu mir. Das muss nicht am Buch liegen, in den meisten Fällen liegt es an mir. Oder am Thema. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht bin, nicht verstehe. Und manche davon erschließen sich auch nicht durchs Lesen. Das ist weder Pech noch Glück, das ist einfach so. Ich kann lesen, wie es ist, über die Kindheit hinaus in einer Familie zu leben. Wie es ist, Menschen zu verlieren, die bislang tagtäglich da waren. Ihre Stimme, ihre Gedanken, ihre Gegenwart. Wirklich verstehen werde ich es wohl dennoch nie. Das weiß ich, und das macht nichts.

Nur wenige Bücher leben dazwischen, zwischen Einverleibung und bleibender Fremdheit. Manche Bücher laden mich ein, verführen mich mit Sprache und Geschick, aber lassen mich dennoch außen vor. Zurückgewiesen, als wäre ich es nicht wert. Sie lassen mich nicht ein, kommen aber auch nicht zu mir. Nicht freiwillig. Diese Bücher lassen mich enttäuscht über die Unmöglichkeit einer Begegnung zurück, nicht gelassen, nicht entspannt. Mit dem Gefühl, etwas Wichtiges nicht erreicht zu haben. Das ist selten, und das ist tragisch. Das sind die Bücher, die ich nicht vergesse, obwohl ich kaum etwas von ihnen weiß.

Mit Büchern von Antje Rávic Strubel habe ich vor Jahren schon diesen Kampf geführt, aussichtslos, gleich zweimal. Gnadenlos bin ich gescheitert, an Offene Blende und Unter Schnee, obwohl ich wirklich alles gegeben habe. Nichts ist geblieben, Fetzen vielleicht, und ich habe aufgegeben. Bis vor ein paar Wochen. Sturz der Tage in die Nacht war unter dieser Vorgabe ohne Zweifel ein Wagnis, das gebe ich zu. Doch es war gnädig. Und ich glücklich. Nach 50 Seiten etwa war die Gewissheit erlangt, dass ich diesmal schaffen könnte, nicht nur meine Augen unverbindlich auf die Worte zu richten, sorgfältig, auf eines nach dem anderen. Sondern mehr von mir, tiefer und weiter, zu sehen, zu wissen, zu verstehen.

Das ist hier kein Rezensionsblog, ich erzähle jetzt nicht, worum es in dem Buch geht. Wozu noch ein Klappentext? Selber lesen macht reich. Oder selber googeln.

400 Seiten sind viel, 400 solche Seiten noch mehr. 437 genau genommen. Zwischendurch laufe ich durch meine Wohnung und klappere ein wenig mit den vorhandenen Steinen, versuche mich in perkussiven Elementen von vor Jahren. Ich lache ein bisschen, besonders über die Dialoge. Ich ärgere mich auch, hier und da. Mal über mich, mal über mich störende Bilder. Was im Grunde dasselbe ist. Fremdheit und Starre, die mich doch fast wieder rauszuwerfen drohen. Es knirscht in den Kurven, Sand auf Metall. Das bin ich. Ich flüchte kopfwärts, wo es nicht angebracht ist. Doch ich spüre eine Zartheit und Intensität, mehr und mehr, die zu mir nicht gehört. Denke ich. Die mich dennoch nicht rauswirft, letztendlich. Diesmal nicht. Die in mich einwächst stattdessen. Dafür ist kein Raum in mir, eigentlich, aber da wird Raum. Vielleicht. Und ich weiß nicht mehr, was ich bin, auf einmal. Das passiert mir sonst nur bei Lyrik.

Am Ende stehe ich da mit einer Frage. Sicher nicht die zentrale Frage dieses Buches, da gibt es andere, eine besonders, das habe ich inzwischen nachgelesen. Doch es ist jetzt mein Buch, ich habe es gekauft. Ich kann damit tun, was sich will. Und die eine bekannte, die scheinbar zentrale Frage interessiert mich eher marginal. Mich dagegen treibt die Frage nach dem Zufall. Kann das wirklich sein, dass all das, diese 437 Seiten, von Anfang an auf der Spitze des Zufalls stehen? Das kann nicht sein, das würde ich mich nie trauen. Ich muss etwas überlesen haben, bei 437 Seiten ein Leichtes. Um einen Zufall zu entkräften, braucht es womöglich nur einen halben Satz. Oder nicht?

Diese offene Frage treibt mich schließlich in eine Lesung. Von Lesungen ist hier sonst nicht die Rede, das soll auch nicht sein. Hier geht es um Bücher und seine Leser, dieses höchst intime Zusammenspiel zweier Giganten. Doch in diesem Fall will ich eine Ausnahme machen, es handelt sich wohl um eine Art Schock.

Lesungen der sogenannten Hochliteratur, die in einem irgendwie postulierten, gar akademischen Rahmen stattfinden, lassen grundsätzlich Schreckliches vermuten. Ich weiß das, ich hätte gewarnt sein sollen. Aber mitunter bin ich ein freches Kerlchen und trage meine olle Fresse auch mal in eine unpassende Umgebung. Wenn es anders nicht geht.

Frontallesung mit Tisch. Gut, das war zu erwarten. Der Raum ist durch und durch beige und wird quer bespielt. Da kann man nichts machen. Ich habe schon auf Europaletten Salsa gespielt, damals, zu Bandzeiten. Die Beine der Trommeln stürzten  immer wieder in die Lücken. Aber man nimmt es, wie es kommt. Bei einer Lesung in einem kleinen Theater saß ich einmal über eine Stunde unmittelbar vor einem zirka zwei Meter hohen Eisblock. Selten habe ich so gefroren. Bis heute frage ich mich, ob das Publikum mein unkontrolliertes Zittern gesehehen haben könnte. Das kann man sich nicht aussuchen, das weiß ich. Wenn man auf die Bühne muss. Das Licht kommt an diesem Abend von oben, im ganzen Raum. Und es bleibt, die ganze Zeit. Zwei Strahler sind kaputt, zum Glück auch der über mir. Dafür bin ich dankbar. Die Sitze sind gepolsterte Freischwinger, und es gibt Teppich, natürlich. Nichts, das quietschen oder knarren könnte. So hat der Raum keinen Ton. Ich versuche, ob mein rechter Stiefel vielleicht ein kleines bisschen knatschen mag. Tut er aber nicht. Leider. Ich leide, dabei hat es noch nicht einmal angefangen. Ich schalte mein Mobiltelefon stumm und schreibe eine SMS an Madame Modeste, die mich aus beruflichen Gründen versetzt und in diesem Elend allein gelassen hat. Sie soll auch leiden. Die Luft steht, jetzt schon. Draußen wird es dunkel.

Das alles ist völlig normal, ich weiß. Dennoch bin ich beinah geneigt an dieser Stelle die Lesebühnen zu preisen, deren Gagschnapperei mir sonst doch eher unangenehm ist. Aber Klagenfurt, das ist es. Da, wo sich alles reibt, wenn auch womöglich nur an der Oberfläche. Und außerdem noch zu ganz anderen Themen als nur zu Text und Literatur. Das hat dennoch eine andere Qualität. Das ist gut, das lebt. Klagenfurt ist wirklich einzigartig, das weiß ich in diesem Moment. Dann geht es los.

Ich weiß auch nicht. Sind solche Lesungen eine Leserabtötungsmaschinerie? Soll auf die Art den Büchern der Saft entzogen werden? Die ältere Dame neben mir nickt eindeutig mehrmals ein. Der Text, den ich höre, gefällt mir. Sowieso, den kenne ich ja schon. Aber da ist auch Klang, da ist eine ruhige Kraft. Nichts anderes als das, zumindest nicht in dem, was ich an diesem Abend höre. Trotzdem drückt irgendetwas die Stimmung. Ist es wirklich der Raum? Sind es die Zuhörer, die Veranstalter? Bin ich es? Die „Diskussion“ am Ende bestürzt mich, schlagartig verliere ich die Fassung. Da ist kein Leben mehr, kein Moment, kein Humor. Vorgefertigte Fragen, vom Blatt gelesen, artige Antworten. Doch ja, Frau Strubel müht sich. Vermutlich. Aber wozu? Ich selbst bin augenblicklich eingestaubt. Oder war ich das vorher schon? Mein Hirn ist leer, alle Leselust verloschen. Was war das noch für ein Buch? Ich hatte mich doch hineingelesen, vor nicht allzu langer Zeit. Die Frage nach dem Zufall fällt mir nicht einmal mehr ein. Ich hätte wohl auch nur eine Staubwolke in die Luft gepustet, an diesem stimmlosen, raumlosen Ort. Dann plötzlich Blümchen, Ende, Aus. Kein Wort mehr, kein Satz. Keine Frage. Keine einzige Pause, keine Luft für ein paar Gedanken. Wo doch Literatur auch und vor allem in ihren Leerstellen wohnt, in den Auslassungen und Atempausen.

Diese Lieblosigkeit. Das hat weder dieses Buch, noch die Literatur verdient. Ich hätte da noch eine Frage. Eigentlich. Irgendwo.

Die meisten Zuhörer verschwinden schnell zu den SektWeingläsern. Ich sitze noch da, schreibe eine SMS. Ich will bemitleidet werden, immerhin wurde ich in Literatur erwürgt. In guter Literatur noch dazu, was für eine Verschwendung. Oder wurde in mir die Literatur erwürgt? Ich hoffe nicht. Da beginnen hinter mir zwei Männer, die womöglich zum Haus gehören, ein Fachgespräch. Das erste des Abends, das erste echte, jenseits der schlechten Show. Schreiben kann sie ja, höre ich, aber… In dem Moment höre ich weg, ich mache aus, alles. Das will ich nicht wissen. Ich will Bücher. Ich greife meinen Helm wie zum Schutz und flüchte, so schnell es geht.

Denn Bücher leben. Beim Schreiben, wie ich selber weiß. Und beim Lesen, das ist den meisten Lesern sicher nicht unbekannt. Aber selten in (solchen) Lesungen, fürchte ich. Die machen nur stumm und taub.

So bleibt mir die Frage nach dem Zufall. Offen. Was auch okay ist, denke ich.

* Okay, das war in dieser einen Woche, ich geb’s ja zu. Und das abgebildete Buch gehörte selbstverständlich nicht dazu, das waren kleinere. ;)

anders. bleiben.

29. July 2012 | von engl

Wie wir begehren, Carolin Emcke

Manchmal werden Bücher persönlich. Das heißt, eigentlich werde sie das bei mir immer, irgendwie, aber nicht immer muss ich etwas dazu sagen. Das wäre zu persönlich, das gehört nur mir. Doch diesmal geht es nicht anders. Ich bitte um Verzeihung.

Dieses Buch geht mich an. In seiner glasklaren Sprache, seiner Tiefe und Komplexität, mit seiner Zartheit und Wucht.  Und das mit der Homosexualität, ja sicher, das auch. Aber mehr noch das Werden und Wachsen überhaupt, die Suche nach dem Selbst, der Quelle hinter allem. Treibend, wie das Begehren selbst. Ebenso das Anderssein, grundsätzlich, das Randständige. Das Wissen und das Schweigen darüber. Was immer es sein mag, worüber geschwiegen wird. Das Selbst? Oder das Begehren? Und die Illusion, in all dem niemals wahrgenommen zu werden. Das ist ein Fehler.

Die erste unverschämte Nähe beim Lesen erkenne ich in den Dingen und in einzelnen Worten. Das mit den Dingen erklärt sich leicht, es sind die Dinge meiner Zeit. Schallplatten, die man ständig umdrehen muss, um die besten Songs zu spielen. Der Dualplattenspieler, den hatte ich auch. Den habe ich heute noch. Die BRAVO als einzige Quelle für was auch immer. Benannt wird es nicht, es ist innen. Und es bleibt dort, wie es sich gehört.  Das mit den Worten ist anders, es kommt schleichend. Ich kenne das, irgendwie. Ich nutze es nicht mehr, aber es klingt. Dann: Anziehsachen. Das ist mir vertraut, vertrauter als es sein sollte. Ich begreife, dass ich womöglich nebenan gelebt habe, damals. Nicht weit entfernt, nur eine Stadt. Was im Ruhrpott wenig Bedeutung hat, die Städte liegen eine an die andere geschmiegt. Nur wenige Jahre älter bin ich. Das ist meine Welt. Und sie ist es auch nicht.

Coming of Age, davon habe ich recht viel zu hören bekommen in letzter Zeit. Keine Ahnung, warum. Nichts davon hat mich interessiert, zu flach, zu weit, zu lange her. Nicht mehr meins. Dieses Buch ist anders, es schlägt mich von den Beinen. Nach ein paar Seiten schon, obwohl ich anders bin, anders war, anderswo vor allem. Das Werden und Wachsen, das so intensiv nachgezeichnet wird, ist mir fremd. Und vertraut zugleich. Es ist mir unerreichbar, in jeglicher Hinsicht. Und doch verstehe ich, jedes Wort. Ich weiß das, alles. Die Macht und die Zerbrechlichkeit erotischen Werdens, diese plötzliche Klarheit mitunter. In all dem Chaos. Ich weiß um den Wert dieser Dinge, dieser Zeit

Doch ich bin die, mit der man nicht spricht. Ich bin Daniel, nur dass ich noch lebe. Ich bin die leere Stelle. Und ich bin die aus der Realschule, das macht einen Unterschied. Auch so eine Stelle. Obwohl  Carolin Emcke durchaus recht tut, es zu erwähnen. Die vom Gymnasium traf man nicht, nur in der Straßenbahn manchmal. Und man sprach nicht mit ihnen. Was auch? Unwichtig, was wir gedacht haben mögen übereinander. Welche Spielchen wir gespielt haben. Ich weiß es nicht mehr. Doch da waren leere Räume zwischen uns, unüberbrückbar. In meinem Werden gab es keine Musik, keine Konzerte, kein Theater. Auch die Bücher musste ich mir selber suchen. Und mich dafür auslachen lassen. Denkst wohl? Bist wohl was Besseres? Warte nur ab! Mein Selbst ist an diesen Stellen durchlöchert, zerschossen. Es ist leer. Ich bin eine Inselständige. Es gab keine Möglichkeit, für mich, dem zu entkommen. Keine Möglichkeit, mir selbst zu entkommen.

Einen Kinderwald allerdings, den hat es gegeben. Drei oder vier Bäume nur, am Rand der Neubausiedlung mit den Sozialwohnungen. Da, wo ich eigentlich gar nicht hindurfte. Und Wiesen und Regen. Und Sand zum Bauen. Werkzeuge, nicht zu vergessen. Nicht von ungefähr bin ich zunächst Handwerkerin geworden. Ich hatte gute Füße und noch bessere Hände. Als Kind habe ich alles erreicht und begriffen. Die Leere kam später. Doch es war offensichtlich genug Wald und Werkzeug in mir, um zu bleiben.

Anders zu bleiben.

Unendliche Weiten – über das Wissen wollen

14. January 2012 | von engl

Das neue Lexikon des Unwissens, Kathrin Passig/Aleks Scholz/Kai Schreiber

Als Kind schon war ich schwer auf drauf, dauernd auf  der Suche nach Lesestoff, koste es, was auch immer. Man mag es an  diesem frühen Bild bereits erkennen. Early Adopter, oder wie nennt man das? The Portrait of the Artist as a Young Addict? Wie auch immer, in jungen Jahren trieb mich die Not zu seltsamen Beschaffungsstrategien. Der Zufall hatte mich in einen Haushalt mit nur wenig Büchern gesperrt, mich gleichzeitig aber als eine Art Leseüberflieger gestaltet, sodass ich die zur Verfügung gestellten  Kinderbilderbücher schnell satt hatte. Möglich ist auch, dass die vielen ungelesenen Sternausgaben, die mir zum Zerfetzen in den Laufstall geworfen wurden, ihren Anteil an dieser fatalen Entwicklung hatten.

Immer wieder sehe ich mich in den folgenden Jahren die elterliche Wohnzimmereichenschrankwand nach Stoff durchforsten, noch unentdeckt und ungelesen. Meist mit wenig Erfolg. Eines der Highlights jedoch, das mir bis heute präsent ist, war ein hellblaues Babybuch, das ursprünglich wohl der Planung und Durchführung der korrekten Aufzucht meiner Person gedient haben muss. So las ich über Flaschenfütterung und Windelwäsche, Stubenwagen und Mittelohrentzündung. Lauter Dinge, denen ich erst knapp entkommen war. Sehr interessant und sicher auch hilfreich. Was ich jedoch nicht endgültig zu beurteilen in der Lage bin, da es inzwischen als sicher anzusehen ist, dass ich dieses Wissen in diesem Leben nicht mehr zur Anwendung bringen werde.

So ist das mit dem Wissen. Meistens weiß man nicht so genau, was man eigentlich damit anfangen soll. Wie und wieso ein Flaschenzug funktioniert. Oder die funktionelle Magnetresonanztomographie. Ob die Dualität durch Luzifer in die Welt gekommen ist, oder ob nicht doch jede Person ein lebendes Medizinrad ist. Und hat die EZB eigentlich die klare Aufgabe, die Finanzmärkte zu stärken? Was ist überhaupt die EZB? Wieso ist die rechte Hirnhälfte für die linke Körperseite zuständig? Warum kriegt der Zitteraal nicht selbst einen Schlag? Und wie viel wiegt wohl ein Kilogramm? Lauter Fragestellungen, die im Zweifel überhaupt nicht interessieren oder aber auf den ersten Blick unsinnig erscheinen. Aber spannend ist es mitunter trotzdem, dieses Wissen wollen. Oder etwa nicht?

Was ist das eigentlich, Wissen? Auch dieser Frage geht das neue Lexikons des Unwissens, das Ende des Jahres bereits auf meinem Bücherstapel gelandet ist, letztendlich nach. Seitdem begleitet es mich mal hierhin, mal dahin, auf die Busstrecke nach Friedrichshain oder in die schnelle Suppenmittagspause um die Ecke. Wo immer ich es gerade wiederfinde, werfe ich einen Blick hinein und lese irgendein Kapitel. Das ist kein Buch, das man durchliest oder gar ausliest, Wissen endet schließlich niemals. Wie das Universum. Obwohl: Endet das Universum nicht vielleicht doch irgendwo. Oder wenigstens irgendwann?

Es handelt sich also um ein Herumwanderbuch, eines zum immer wieder Auf- und Wiederfinden. Ein Buch für zwischendurch und unterwegs, im Grunde das perfekte E-Book. Warum krieg ich das eigentlich nicht auf meinen Kindle? Das schient mir ein Manko zu sein. (Wie ohnehin  E-Book- Formate ein wildes Feld zu sein scheinen.) Außerdem ärgere ich mich im Nachhinein bisschen, dass ich das erste Lexikon des Unwissens zwar einmal kurz in der Hand hatte, dann aber doch nicht mitgenommen habe. Pech!

Übrigens: Angefangen habe ich meine Lektüre natürlich mit dem Kapitel, das der Frage nachgeht, warum Frauen Brüste haben. Denn ungefähr auf diesem Gebiet hatte ich meine sinnlosen Studien ja seinerzeit bereits, mit diesem hellblauen Babybuch, angesetzt.

Wie das Leben weitergeht

27. February 2011 | von engl

Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden, Bernice Eisenstein

Es gibt Themen im Leben, die immer wiederkehren. Jeder Mensch hat sie, ob heimlich oder offiziell. Es gibt diese Knackpunkte, auf die trifft man in regelmäßigen Abständen und kaut aufs Neue darauf herum. Eines meiner Themen ist die Frage danach, wie Kinder durch das Leben ihrer Eltern beeinflusst werden.  Das ist nicht besonders originell, damit beschäftigen sich Wissenschaftszweige der unterschiedlichsten Art und die Literatur sowieso.

Familiengeschichten also. Eine ganz außergewöhnliche hat die Kanadierin Bernice Eisenstein geschrieben und gezeichnet. 2007 erschien sie auf Deutsch, inzwischen ist sie auch als Taschenbuch erhältlich, wie ich neulich festgestellt habe. Höchste Zeit, hier endlich einmal etwas dazu zu schreiben.

Was wissen wir in Deutschland noch von jüdischem Leben, von jüdischer Kultur, die hier vor ein paar Jahrzehnten so gnadenlos, so nachhaltig vernichtet wurde? Was wissen wir von dem Davor? Und vor allem, was wissen wir von dem, was danach kam? Überleben hört nicht auf am Tag der Befreiung. Überleben zieht sich durch die Jahre, durch die Leben, es greift durch die Generationen hindurch. Wer darüber lesen will, nehme dieses Buch zu Hand. Denn Lesen hilft verstehen.

Wie die Autorin selber schreibt:

Ich lese, um als Kind von Eltern, die unvorstellbares Leid erlitten haben, alles zu fühlen. Ich lese, um tapfer zu sein und um zu lernen, meinen Weg in einer sich ständig verändernden Welt zu finden.

Und ein bisschen Jiddisch lernen ist auch noch drin. Mehr mag ich gar nicht sagen.

Lob der Faulheit

27. January 2011 | von engl

Anleitung zum Müßiggang, Tom Hodgkinson

Diese elende Welt ist eingeteilt in Leistungsträger und Minderleister, in Sieger und Versager also, in Schwätzer und Schweiger nicht zuletzt. So zumindest scheint es mir in letzter Zeit. Zudem verkommt das Buchstabengepixel im Internet, genau wie auch Edelgedrucktes auf Papier, mehr und mehr zu einer doch recht armseligen Meinungsverkündigung. ICHICHICH, in enge Schleifen gelegt, schließlich muss alles nicht nur einmal, sondern am besten gleich hundertfach irgendwo verewigt sein. Und zwar einzig und allein, weil man es angeblich jetzt endlich wieder darf. Was auch immer damit gemeint sein mag.

Ich bin ratlos, was solcherlei Eifer angeht. Ich bin hilflos, immer wenn es ums Rennen und Siegen geht. Erste sein, vermutlich bin ich dazu zu alt. Eigentlich war ich aber schon immer so. Oberflächlichkeit liegt mir nicht, das haben nicht zuletzt die Bücher mir ausgetrieben. Obwohl Buch noch lange nicht Buch ist, wie wir alle im letzten Jahr schmerzlich lernen durften. Zumindest, was den Sachbuchbereich angeht.

Kein Wunder, dass ein erfolgreiches Buch über Faulheit und Trödelei, über Pausen und andere Zwischenzustände nicht in Deutschland geschrieben werden konnte. Sondern selbstverständlich in England, dem Land der Sonderlinge. Da, wo das Anderseins offensichtlich noch Substanz hat und nicht gleich unbesehen auf den Müll geschaufelt wird.

Tom Hodgkinson ist bekennender Müßiggänger, distanziert sich von jeglicher Beschäftigung der sinnlosen Art, kümmert sich dafür aber intensiv um den Bestand seiner freien, langsamen Stunden. So ist das Buch dann auch in 24 Kapitel eingeteilt, eines für jede Stunde des Tages. Angefangen mit der Qual des Aufwachens geht es im dritten Kapitel bereits um das Liegen bleiben und zur Mittagszeit um die Pflege des am Tag zuvor erworbenen Katers. Später dreht es sich noch um Essen und Trinken, Rauchen und Angeln und um alle nur denkbaren Formen von Schlaf. Hodgkinson rühmt das Denken und Träumen, er schraubt Zitate, eigene Gedanken und historische Gegebenheit in absurder Weise zusammen. Manchmal treibt er das Spiel ein bisschen weit, ein wenig eindimensional auch. So stellt die Erfindung der Glühbirne für ihn einen der größten symbolischen Siege in der Schlacht zwischen Fleiß und Nichtstun dar. (Also eigentlich eher eine Niederlage, fällt mir gerade auf. Das ist dann doch wieder amüsant. ;-)

Des Pudels Kern ist leicht ausgemacht: Hodgkinsons stiller aber stetiger Kampf gilt der Fremdvernichtung seiner Zeit durch sinnfreie Tätigkeit, vor allem natürlich durch Arbeit, die ihm keineswegs natürlich erscheint. Das verstehe ich gut, ich gebe es zu. Ich bin nicht faul, aber eigenwillig. Und ein eigener Wille reicht mitunter, um als Misserfolg gedeutet zu werden. In dieser elenden Welt zählt eben nur, was zählbar ist. Das gilt jedoch in beide Richtungen. Leider verliert der Autor gerne die Existenz einer real existierenden Armut aus den Augen. Seine Ausführungen dazu kommen ein wenig dürftig, beinah bläuäugig daher. Das Credo, man könne immer auch von weniger leben, findet schließlich schnell seine natürliche untere Grenze. Zumindest, was die persönliche Freiheit angeht. Aber sonst? Ein feines englisches Gegenstück zu preußischen Tugenden aller Art.

Hodgkinson ist inzwischen ein gemachter Müßiggänger im Süden Englands, wo dies nicht allzu schwer fällt. Es gibt mehrere Bestseller und ein eigenes Magazin. Das heißt natürlich The Idler und die Schnecke ist Kult, soweit ich weiß.

Lesen oder nicht lesen

7. June 2010 | von engl

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, Pierre Bayard

wie_man_ueber_buecher_sprichtJeder kennt das. Lesen oder nicht lesen, das ist häufig die Frage. Denn Lesezeit ist Lebenszeit. Und Lesen braucht viel Zeit, mitunter. Besonders, wenn man lesen muss. Aber muss man? Wirklich?

Pierre Bayard bringt es kurz und knapp auf den Punkt. Nein, man muss nicht. Lesen ist keine Pflicht, nur keine Sorge. Doch es kommt auf das Berufsfeld an, in dem man tätig ist. So ist Lesen trotzdem vielfach kein Spaß, keine Freude, kein freiwilliges Freizeitvergnügen. Überhaupt ist es oft kein Vergnügen,  Lesen kann eine Verpflichtung sein. Das gilt für Dozenten und Professoren, insbesondere, wenn sie im Literatischen unterwegs sind. Das gilt ebenso für Studenten auf diesem oder naheliegenden Gebieten. Die Listen mit den Pflichtlektüren scheinen mitunter endlos.

Schlimmer noch: man muss nicht nur lesen, man muss anschließend auch darüber reden, was man gelesen hat. Und am schlimmsten vielleicht: manchmal muss man darüber schreiben. Wie ich jetzt hier. Obwohl: eigentlich muss ich natürlich nicht. Ich mache das freiwillig. So freiwillig, wie ich dieses Buch gelesen habe. Zumindest zum Teil, soweit ich mich erinnere.

Das ist das Grundkonzept des Buches. Niemand kann alles das lesen, was man so gelesen haben sollte. Soviel Lebenszeit gibt es gar nicht, schließlich hat man hin und wieder auch noch anderes zu tun.  Also teilt der Autor seine Lektüre ein in unbekannte Bücher, quergelesene Bücher, erwähnte Bücher und vergessene Bücher. Und scheut nicht davor, diesen jederzeit ziemlich klare Wertungen zuzuordnen. Ja, er geht sogar so weit, dass er jedes seiner Kapitel auf eines jener Bücher stützt, die er im Grunde gar nicht kennt. Oder kennt er sie doch? Ist es möglich, sinnvoll über Bücher zu reden, die man nie auch nur geöffnet hat?

Natürlich geht das. Jeder kennt das und jeder tut es. Oder etwa nicht? Im Gesellschaftsleben, einem Lehrer gegenüber, dem Schriftsteller gegenüber oder der oder dem Liebsten gegenüber. So die Kapitelüberschriften des zweiten Buchteils, in dem es eben darum geht. Im letzten Teil gibt es dann Empfehlungen zur Haltung in solchen unvermeidbaren Gesprächen, die da lauten: sich nicht schämen, sich durchsetzen, Bücher erfinden und vor allem von sich sprechen. Sagt das nicht alles? Muss man da noch weiterlesen?

Nicht ganz unerwartet endet dieses Buch mit dem weisen Rat, doch besser selber zu schreiben als seine Lebenszeit sinnlos mit Lesen zu verschwenden. Aber wer soll das dann alles lesen?

Kann man mehr über dieses Buch sagen? Sicher. Muss man dieses Buch lesen? Keine Ahnung. Habe ich es gelesen? Aber natürlich!

Die Briefe der Anderen

7. March 2010 | von engl

Herzzeit, Ingeborg Bachmann, Paul Celan

bachmann_celan_herzzeit

Wer schreibt heute noch Briefe, mit der Hand, und lässt sie von der Post transportieren? Ich so gut wie gar nicht, nicht mehr. Ich kann mich aber erinnern, dass ich das früher einmal getan habe. Viele Briefe sogar, seitenweise. Neulich habe einen ganzen Stapel davon zurückerhalten. Von meiner Cousine, die sie über Jahrzehnte hinweg aufbewahrt hat. Offensichtlich hält sie sie für etwas Besonderes. Ich kann das nicht beurteilen, ich kann mich auch kaum erinnern. Und ich habe mich noch nicht getraut, einen Blick hineinzuwerfen.

Ich weiß einfach nicht, ob ich die Briefe dieser Fremden, etwa 17jährigen einfach so lesen darf. Schließlich gibt es ein Briefgeheimnis.

Die Post der Anderen bekommt man normalerweise nicht einmal zu Gesicht, schon gar nicht ihre Briefe. Ausnahmen gibt es nur bei bekannten Persönlichkeiten, deren zufällige Nachlässe jahrzehntelang in irgendwelchen Archiven aufgehoben werden. Bis sie dann in Buchform erscheinen. Auch da weiß ich manchmal nicht so recht.

Warum den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan lesen? Ihre Liebes- und Streitbriefe, Höflichkeits- und Geschäftspost, Telegramme, Karten und Entwürfe, entstanden zwischen 1948 und 1961. Zwei längst Gestorbene, beide einen ganz eigenen, einsamen Tod. Alles mehr oder weniger privat, wenn man das Leben und Schreiben berühmter Dichter als privat betrachten möchte. Abschied und Wiedersehen, Hoffen und Warten, alles immer nur Versuch. Das Leben und Dichten der Anderen.

Diese Vokabeln und diese Welt!

Geht mich das etwas an? Muss mich das interessieren, weil die beiden heute zu Recht als herausragende Gestalten der deutschen Nachkriegsdichtung gelten?

Es gibt zwei Arten, dieses Buch zu lesen, eine davon ist die literaturwissenschaftliche. Mit einem ausführlichen Apparat versehen, Kommentar, Nachwort und verschiedene Register, ein editorischer Bericht, ausführliche Stellenkommentare, Siglen und eine nützliche Zeittafel, ist diese Version gut bedient.

Man kann aber auch einfach nur die Briefe lesen. Und genau das sollte man tun. Weil man sonst wunderbar wahre Sätze verpasst.

Nichts ist wiederholbar, die Zeit, die Lebenszeit hält nur ein einziges Mal inne, und es ist furchtbar zu wissen, wann und für wie lange.

Und die Tatsache, dass der wohl wichtigste Brief zwar geschrieben, aber am Ende nie abgesandt wurde.

Out of Berlin

28. February 2010 | von engl

Und im Zweifel für dich selbst, Elisabeth Rank

rank_und_im_zweifel_fur_dich_selbst Ich tue mich ja grundsätzlich schwer mit Büchern, auf denen hinten – also außen – schon draufsteht, dass sie angeblich irgendetwas mit einer bestimmten Generation zu tun haben sollen. Zumal es sich natürlich nie um meine Generation handelt, über die wird schon lange nicht mehr geschrieben. Falls überhaupt jemals über sie geschrieben wurde. Wenn außerdem noch Schlagworte wie Zeitgeist oder Lebensgefühl hinzukommen, dann war’s das für mich. Normalerweise.

Das ist natürlich ungerecht, ich weiß. Vor allem ist es ungerecht den Autoren gegenüber, denn die können in den wenigsten Fällen etwas für den Unsinn, den ein Verlag außen auf das Buch drucken möchte. Ebenso wenig Einfluss haben sie meistens auf die Covergestaltung, die in diesem Fall* allerdings nahezu genial ist. Von Anfang an weiß ich einfach nicht, wie es richtig ist, immerzu nehme ich das Buch falsch herum zur Hand. Und das ändert sich auch während der gesamten Lesephase nicht.

Gelesen habe ich es also, von vorne bis hinten, auch wenn es nicht Liebe auf den ersten Blick war. Nicht einmal Liebe auf den zweiten Blick, der Text liest sich nicht einfach mal so eben nebenbei. Das gefällt mir ja eigentlich. Doch dass mich dann gleich auf der ersten Seite, in der zweiten Zeile ein derart schräges, nahezu fehlerhaftes Bild anzickt, vermag ich nur selten gelassen zu übergehen.

Es ist ein Glück, dass sich dieser Eindruck sehr schnell verflüchtigt. Dass sich stattdessen ein Einblick in eine ausgesprochen langsame und tiefgreifende Geschichte auftut, die zu lesen sich definitiv lohnt. Und das nicht nur, weil die möglicherweise schrägen Bilder, die leider hier und da immer wieder einmal auftauchen, von unzähligen anderen, mehr als gelungenen, treffsicheren Einsichten mehr als nur wettgemacht werden. Knappe Sätze, gut auf den Punkt gebracht, eröffnen mitunter so etwas wie Wahrheit. Das ist viel. Das ist gut. Das verstehe auch ich, die ich nicht diesem Generationending zuzurechnen bin. Immer wieder erreicht mich beim Lesen ein kleiner Schreck der Wiedererkenntnis.

Dabei ist es ein großer Schreck, der dem Buch vorausgeht. Eine Katastrophe. Tim ist tot, von einem LKW überfahren. Das allein schon eine unumstürzliche Wahrheit. Wer Berlin kennt, der erkennt auch den Ort des Geschehens. Ein (vermeintlicher) Dreh- und Angelpunkt des modernen Alltags irgendeiner Generation. Was weiß ich? Das ist unwichtig, zum Glück. Spielt im Weiteren kaum eine Rolle.  Lene, Tims Freundin, flüchtet nach der Todesnachricht verzweifelt aus der Stadt. Das Zeitgeistberlin rückt in den Hintergrund, wo es in der Gewissheit eines derart brutalen Abschieds wohl auch hingehört. Alles ist anders, nicht mehr Berlin. Nichts ist mehr dort, wo es vorher war. Und wie es war. Wie es hätte werden können, vielleicht. Plötzlich out of order. Tonia, Lenes Freundin, begleitet diese auf einer Irrfahrt durch die mecklenburgische Sommerlandschaft, bis hoch an die Ostsee. Tonia ist es auch, die auf 200 Seiten davon berichtet. Viel mehr passiert nicht.

Es ist die Wahl dieser randständigen  „Hauptfigur”, die für mich den Reiz des Buches ausmacht. Tonias Hilflosigkeit und Erschöpfung, gleich daneben ihre detaillierten Betrachtungen aus persönlicher Perspektive, außerdem die immer wiederkehrenden Irritationen in Bezug auf das eigene Leben als Zentrum der Geschichte mögen auf den ersten Blick abwegig erscheinen. Darüber hinaus ist es diese Perspektive, die die Langsamkeit des Buches ausmacht. Da ist kaum ein Boden und alle Zeit nur relativ. Was bleibt ist Tonias zähe Klarheit in einem sommerflirrenden Gewirr aus Chaos und Schmerz.

Das ist nicht jedermanns Sache, ich weiß. Muss nicht alles in dieser Generation schnell und perfekt geschnitten sein? Lebendig und pulsschlaggenau? Immer genau auf den Punkt? Keine Angst, der Text ist gut geschnitten. Immer exakt an der Stelle, wo es nötig erscheint. Der Beat schlägt und trifft. Ganz langsam, ganz tief. Das ist es, was alles zusammenhält. Und lebendig.

* Verantwortlich für den Umschlag wird eine Josefine Rank genannt, was darauf hindeutet, dass in diesem Fall sehr wohl eine ausgezeichnet genutzte Einflussnahme vorliegt.

Proust lesen und scheitern

8. February 2010 | von engl

Combray / (1. Teil von) Du côté de chez Swann, Marcel Proust / (Neuübersetzung von) Michael Kleeberg

proust_combrayEs gibt Bücher, an denen man scheitert. Es gibt sogar solche, denen man in Vorfeld schon ansieht, dass man an ihnen scheitern wird. Diese Bücher nehme ich vorsichtshalber gar nicht erst in die Hand. Deshalb gehöre ich zu den zweifellos vielen Menschen, die Proust bislang nicht angefasst haben. Geschweige denn gelesen. Und ich werde es in diesem Leben vermutlich auch nicht mehr tun.

Weil ein solches Scheitern als Leser jedoch im Grunde nicht zu verantworten ist, erwischte ich mich vor Jahren schon dabei, wie ich zumindest die so genannte „Ouvertüre zu Prousts Jahrhundertroman“ käuflich erwarb. Combray, knapp 300 Seiten stark. Ein Klacks also.

Dennoch stand das „Büchlein” jahrelang ungelesen bei mir herum. Es wanderte vom Stapel der bald zu lesenden nahtlos hinüber auf das Regalbrett der irgendwann auf jeden Fall mal zu lesenden wichtigen Werke. Bis es schließlich sorgfältig ins Endgültigenflurregal eingeordnet wurde, wo es seither einen rechtmäßig erworbenen Platz auf einer Ebene mit Musils Mann ohne Eigenschaften und Nietzsches Gesamtwerk behauptet. Die alle tun bei mir so, als seien sie tatsächlich gelesen worden. Ein Werdegang, der bei Proust vermutlich nicht selten anzutreffen ist.

Jetzt habe ich mich doch endlich getraut. Und bin gescheitert. Natürlich. Dieses Handlungsnichts, alles ist Beschreibung und Sprache. Das ermüdet ungemein. Vor allem, weil ich es nicht kenne, dieses Zimmer, dieses Haus, den Ort und die Kirche. Ich erkenne nichts wieder, auch die Menschen nicht. Die Großeltern und Eltern, Swann und François. Der Junge selbst. Ich frage mich, ob es an mir liegt. Ob das alles nicht universell sein müsste. Universell sein sollte, auch in mir.

Es hilft nichts, ich bin auf der Suche, nach Geschehen, nach Gefühlen. Die auch da sind, immer wieder einmal. Das stimmt. Die Qual des Jungen, Nacht für Nacht. Wie er leidet und wartet. 70 Seiten lang. Nun ja. Es gibt schlimmeres, denke ich. Obwohl ich doch weiß, dass das Schlimme immer relativ ist.

Bezaubernd hingegen die aufgezeigten Mechanismen der Erinnerung. Das ist gut, das kenne ich. Wie den Geschmack dieser kleinen, länglichen Billiglutscher, zuckerummantelt, zu kaufen in durchsichtigen Plastiktüten, ein bunt gemischtes Zehnerpack, oben mit einem großen Pappschild zugetackert. Die gab es immer bei meiner Oma in Karnap. Du liebe Zeit, das ist gut 40 Jahre her. Doch jetzt, in diesem Moment, kommt es mir vor wie gestern. Was rede ich? Wie jetzt natürlich.

Das ist wohl die Erkenntnis, die ich aus diesem Buch ziehen sollte. Dass ich alt geworden bin. Alt genug, mich zu erinnern. Auf diese Art zu erinnern. Die Dinge, die Wege, das Licht. Der Geschmack, damals wie heute. Und dass ich mich nicht verändert habe, obwohl ich heute ganz anders bin. Dem Hirn ist Zeit nur eine Illusion.

Bleibt zuletzt noch die Frage, ob für das Erfassen solcher Momente nicht auch Lyrik ganz hervorragend geeignet wäre. Kurz und knapp. Und sicherlich ausreichend. Mehr kann ich zu diesem Buch nicht sagen. Selbst eine Zusammenfassung der Handlung bleibe ich schuldig, ich müsste sie anderswo abschreiben.

Der Übersetzer hingegen hat eine ganz andere Sicht gewonnen. Selbstverständlich, denn er wird Proust gelesen haben, mehr als nur das. Verinnerlicht vielleicht, verschlungen. So in etwa stelle ich mir das vor. „Wer Combray liest scheint plötzlich sehr viel mehr Augen zu haben, mehr Tastorgane, Schmeckorgane … “, sagt Michael Kleeberg. „ Proust, – das sind die Ekstasen der reinen Anschauung.“

Ja. Kann sein. Vielleicht. Ich kann es nicht sagen, ich bin gescheitert.

Die Queen lernt lesen

18. January 2010 | von engl

The Uncommon Reader / Die souveräne Leserin, Alan Bennett / Ingo Herzke

bennett_die_souveraene_leserinEines Tages entdeckt Elisabeth II. an einer abgelegenen Ecke des Palastes den Bücherbus der Bezirksbibliothek. Wir haben einen Bücherbus, informiert sie daraufhin ihren Gatten. (Der bei den Briten durchaus zutreffend den Ruf eines groben, deutschen Klotzes genießt.) Es gibt noch Wunder, lautet seine belanglose Antwort. Und genau so kommt es dann auch.

Die Queen lernt lesen, ein Buch nach dem anderen verschlingt sie. Und die Queen lernt denken, oh Wunder. Sehr zum Unbill ihres Privatsekretärs – Sir Kevin aus Neuseeland – und ihres Hofstaates. Die Queen beginnt, ihre repräsentativen Aufgaben zu vernachlässigen. Nicht sehr, eigentlich kaum sichtbar, aber dennoch spürbar. Für Sir Kevin vor allem. Die Queen wird unberechenbar. Sie stellt die falschen Fragen, im falschen Moment. Sie bringt Menschen aus dem Takt, egal, ob es sich um den Premierminister oder ein, in Anbetracht der bevorstehenden Begegnung mit dem königlichen Geblüt völlig aufgelöstes, namenloses Untertan handelt. Die Queen benimmt sich überall ein klein wenig daneben.

Zwischen ihren Pflichten zieht sich die Queen immer häufiger in ihr Buch zurück; ja, sogar auf den endlosen Wegen zu ihren diversen Auftritten, gehört fortan ein Buch einfach dazu. Nach einer Weile ist bei Elisabeth überraschend ein Zuwachs an Mitgefühl zu verzeichnen, gepaart mit einer ganz neuen Art von Eigensinn. Die von Kevin, dem Neuseeländer, mit aller gebotenen Vorsicht angesprochen, aber dennoch eindeutig als Selbstsucht betitelt wird. Als die Queen darüber hinaus auch noch damit beginnt, sich beim Lesen Notizen zu machen, wird sie sogar verdächtigt, etwas so Gewöhnliches wie Alzheimer zu entwickeln.

Das ist nicht neu, wir wissen es alle. Es geschieht etwas mit den Menschen, wenn sie anfangen, sich durch Literatur zu arbeiten. Wie auch immer die geartet sein mag, die Menschen verändern sich. Sie betreten andere Welten und vergessen sich selbst, wenn sie Glück haben. So auch die Queen, die sich bei ihrer Lektüreauswahl übrigens von Norman Seakins, einem schwulen Küchenjungen, leiten lässt. Was sicherlich nicht die schlechteste Wahl ist, schließlich ist Elisabeth, was das Lesen angeht, zunächst einmal nur eine armselige Anfängerin. So sind ihre Erkenntnisse rund um das Lesen mitunter auch ein wenig banal. Information ist das Gegenteil von Lesen, findet sie irgendwann heraus. Lesen ist kein Zeitvertreib, bringt sie an einer anderen Stelle zum Ausdruck. Außerdem läse sie, weil sie sich verpflichtet fühle, die Menschen zu ergründen. Nun ja, das ist ehrenvoll aber harmlos. Da bleibt leider einiges an der Oberfläche. Da es sich jedoch um die Queen handelt, eine steinalte Dame, der nicht gerade der Ruf einer ebenso klugen wie herzlichen Lady vorauseilt, soll uns das genügen. Womöglich ist es sogar mehr als zu erwarten wäre, würde die einst reichste Frau Englands – inzwischen übertrumpft von J. K. Rowling, einer Art Märchentante – tatsächlich das Lesen entdecken.

Die souveräne Leserin ist ein kleines Buch, ein Büchlein sozusagen, das sich ohne Probleme an einem Abend vernaschen lässt. Oder auf der Bahnstrecke Berlin–>Hannover–>Köln–>Bonn vielleicht, schließlich ist Elisabeth durchaus eine politische Figur. Als werdende und wachsende Leserin fordert sie die Mächtigen heraus, zu denen sie ja ungehinderten Zugang genießt. Als Proustverehrerin und mögliche Schreiberin, weist sie letztendlich gar die Macht von sich. (Was eventuell der heimliche Traum etlicher Briten ist.)

Einstellen sollte man sich auf jeden Fall auf die wohl feinste Art englischen Humors. Köstlicher Klamauk à la Monty Python wird hier nicht präsentiert, vielmehr bedient sich Bennett einer wohltemperierten Form der Absurdität. Humor, bei dem nicht laut gelacht wird, höchstens einmal kurz aufgeatmet. Einmal! Keinesfalls zweimal, versteht sich. Das muss reichen, ohne dem Amüsement auch nur einen Hauch von Klasse zu nehmen. Very British.

Ein Lob verdient außerdem die offensichtlich gelungene Übersetzung von Ingo Herzke, die sich nicht zuletzt in dem auf ganz eigene Art treffsicheren deutschen Titel zeigt.