Archiv für die Rubrik ‘vor 1990’

Frau Langstrumpf?

31. October 2011 | von Kaltmamsell

Keri Hulme, The Bone People

Sie ist stark, sie hat unerschöpflich viel Geld, sie sorgt für sich selbst, sie kommt blendend allein zurecht, sie denkt sich Geschichten und Lieder aus, säuft und raucht wie ein Seemann, und sie wohnt in einem merkwürdigen Haus, das sie selbst gebaut hat: Wenn das Haus nicht auf Neuseeland läge, könnte sie die erwachsene Pipi Langstrumpf sein. Kerewin Holme, die Protagonistin des Romans The Bone People von Keri Hulme, wurde innerhalb weniger Seiten zu meiner liebsten fiktiven Figur. Und der Roman zum Highlight meines Lesejahres.

Wir lernen die Künstlerin Kerewin beim Fischfang kennen (wenn wir mal die merkwürdigen Einleitungsseiten beiseite lassen): Sie jagt mit dem Speer in seichtem Wasser. Doch von Anfang an wird sie von Düsternis belastet geschildert, als gequälte Seele – als wäre beim Übergang von Pipi zu Frau Langstrumpf einiges schief gegangen. Kerewin hat eine besondere Wahrnehmung mit einem hohem Grad von Empathie, ist aber oft gefangen im eigenen Zorn.

Die englische Wikipedia (Achtung Spoiler!) fasst die Handlung des Romans als „an unusual story of love” zusammen. Das trifft es gut. Im Zentrum dieser Geschichte stehen neben Kerewin zwei weitere Figuren: Die eine ist Simon, ein etwa sieben Jahre alter Bub, dürr, mit heller Haut und hellem Haar, stumm, eigensinnig, in sich gefangen und eine gequälte Seele. Die andere ist Joe, sein Ziehvater, dunkel, zugewandt und eine gequälte Seele. Der Roman umfasst in etwa das Jahr ab dem Moment des Zusammentreffens der drei, voll Geselligkeit, Gewalt, Ängsten, Qual.

Hintergrund und Bestandteil der Handlung ist die Maori-Kultur, wundervoll organisch einwoben: Weder spricht aus dem Element eine europäische Idealisierung von Urvölkern / Naturreligion / edlen Wilden, noch liest es sich aufgesetzt. Der Trick ist, dass Hulme statt magic realism zu verwenden auf die Magie der Realität setzt: Zum Beispiel tauchen Heilpflanzen auf, doch sie werden nur en passant erklärt – und nicht nur die Maori nutzen sie, sondern jeder interessierte Einwohner. Es gibt Amulette und Rituale, auch sie durch nüchterne Beschreibungen und Erklärungen geerdet, ohne sie zu entzaubern. Es wird schlicht nachvollziehbar gemacht, warum sie wohl tun können und warum sie manchmal schaden. Lediglich in einem Kapitel ist der Maori-Mythos explizit das Hauptthema und erklärt ihn vordergründig – was es für mich zur schwächsten Passage des Buches machte.
Dialogen sind immer wieder Maori, unübersetzt – und ich entdeckte erst auf den letzten 30 Seiten, dass das Buch am Ende ein Glossar enthält. Machte fürs Verständnis keinen großen Unterschied.

Der Roman erzählt mäandernd, aber insgesamt linear aus der Sicht wechselnder Personen, hauptsächlich der drei Protanisten, aber auch aus der Perspektive von Nebenfiguren. Meist sind die Übergänge nicht markiert, doch es hilft dem Lesefluss, dass die zahlreichen inneren Monologe eingerückt sind.

The Bone People ist eine lange, große, tiefe Geschichte; ich glaube gern, dass Keri Hulme vor der Veröffentlichung 1983 zwölf Jahre daran gearbeitet hat. (1985 wurde der Roman mit dem Booker Prize ausgezeichnet, eine damals sehr umstrittene Wahl, unter anderem weil es sich um einen Erstling handelte). Selten habe ich emotionale Verschlingungen zwischen Menschen so eindrücklich dargestellt gelesen. Bis zu den letzten 50 Seiten war schon so viel zwischen den dreien schief gegangen, dass ich innerlich um ein halbwegs gutes Ende flehte – gleichzeitig aber mit hochgezogenen Schultern auf die völlige Katastrophe gefasst war.

Britisch-indisch Barock

17. June 2010 | von Kaltmamsell

Salman Rushdie, The Satanic Verses

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The Satanic Verses (1988) von Salman Rushdie ist eines der bekanntesten Werke zeitgenössischer Literatur – und gleichzeitig ein selten gelesenes. Wahrscheinlich ist der Grund für Ersteres auch der Grund für Letzteres: Der Roman brachte Rushdie die Fatwa des Ayatollah Khomeini ein, die Muslime aufforderte, ihn umzubringen. Verleger und Übersetzer wurden nicht nur mit Ermordung bedroht, sondern auch getötet (laut Wikipedia gibt es 38 mit dem Roman verbundene Todesopfer, unter anderem den japanischen Übersetzer) . Daraus schließt der Großteil der zur Unterhaltung lesenden Öffentlichkeit, dass es sich um ein komplett unspaßiges Pamphlet gegen den Islam handeln muss – und wer will das schon lesen?

Gehen Sie hin und lesen es: Der Roman ist hochgradig komisch, zudem quietschbunt, völlig wahnwitzig und sehr unterhaltsam. Vielleicht mögen Sie sich diese Folge der britischen Quiz-Show Have I got News for you? aus dem Jahr 1994 ansehen? Zum einen haben Sie dann eine geniale Show gesehen (wenn auch bei YouTube in miserabler Bildqualität), zum anderen ist einer der beiden Rategäste überraschend Salman Rushdie. Wenn sie erlebt haben, wie witzig und schlagfertig der Mann ist, glauben Sie mir vielleicht, was ich Ihnen über seinen berühmtesten Roman erzähle.

Doch erst mal ein paar Schläge zurückgerudert: Einfach wegzulesen ist The Satanic Verses nicht. Die Dichte der Geschichte, die barocke Vielzahl an Erzählsträngen, die vergnügte Verwurstung von ein paar Jahrhunderten Kulturgeschichte vertragen sich auch schlecht mit scheibchenweisem Lesen in immer nur wenigen Seiten vor dem Einschlafen. Der Roman ist in meiner Definition ein idealer Reise- oder Urlaubsschmöker: Gut 600 Seiten pralles Erzählen mit einem Ideenreichtum, aus dem andere fünf Bücher gebaut hätten. Wer den Irrsinn der ersten ca. sechs Seiten überstanden hat, wird mit einem einmaligen Leseerlebnis belohnt.

Der rote Faden der Geschichte schlingt sich um zwei muslimische Männer aus Indien: Den zum Britentum konvertierten Saladin Chamcha und den Bollywood-Star Gibreel Farishta. Gleich zu Beginn des Romans stürzen sie aus einem Flugzeug, das, wie wir später erfahren, von Terroristen in die Luft gesprengt wurde. Nachdem sie unverletzt an der englischen Küste landen, stellt der eine fest, dass ihm Teufelshörner und Bocksfüße wachsen, der andere muss damit fertigwerden, dass er einen Heiligenschein trägt. Diesen surrealen Elemente folgen noch viele weitere, wie ich sie aus allen Romanen Salman Rushdies kenne. Doch im Gegensatz zum magic realism der lateinamerikanischen Literatur setzt Rushdie sie nie beliebig oder als deus ex machina ein; sie machen die Geschichten und Figuren lediglich runder.

Weitere Erzählstränge drehen sich um die Erinnerungen einer alten Engländerin an ihre Jugend in Südamerika, um die Extrembergsteigerin Allie Cone und ihre jüdische Familie, um Träume, in denen der Prophet Muhammad und sein Leben eine Hauptrolle spielen, um das indische Bauernmädchen Ayesha und ihre religiösen Visionen, um einen unbenannten fundamentalislamischen Imam im Exil, um eine indische Emigrantenfamilie in London. In Nebenrollen ein toter schottischer Bergsteiger und ein stotternder indischer Filmproduzent. Unter anderem. Das meiste davon hängt zusammen. Schauplätze sind hauptsächlich London und Bombay. An einigen wenigen Stellen mischt sich ein heftig auktorialier Ich-Erzähler ein und äußert Überlegungen zum Fortgang der Handlung.

Als ich das Buch nach über 15 Jahren zum zweiten Mal las, hatte ich ebenso viel Vergnügen wie bei der ersten Runde, sah einige Bezüge zu Romanen, die ich seither gelesen habe (unter anderem zu John Irvings Son of the Circus und zum genialen White Teeth von Zadie Smith). Zudem erschienen mir viele Passagen prophetisch. Und ich war überrascht, wie wenige der popkulturellen Anspielungen sich überholt hatten. Ein epochales Kunstwerk.

Überschätzte Bücher. Heute “Rituale” von Cees Nooteboom.

2. February 2010 | von Anselm Neft

Seit Jahren gellt’s in meinen Ohren: „Den Nooteboom – den musst du lesen. Den Nooteboom, den Nooteboom!“ So griff ich vor ein paar Wochen endlich vor einer Suppenküche in eine Wühlkiste und fischte „Rituale“ (Suhrkamp, Hardcover, übersetzt von Hans Herrfurth) heraus, ein Buch, dessen Titel mir Wohlmeinende beinahe wöchentlich einflüstern und das Nooteboom selbst als sein „opus magnum“ bezeichnet. Der Autor kann nichts dafür, dass die ständigen Lobgesänge meine Skepsis hartherzig werden ließen, wohl aber kann er etwas dafür, diese Härte nicht in Milde, die Skepsis nicht in Begeisterung überführt zu haben.

Erzählt wird die Geschichte von Inni Wintrop, einem Grachten-Casanova, Spekulations-Strolch und üppig erbenden Parvenü, der sich umbringen will, weil ihn seine Zita verlassen hat. Natürlich reißt der Strick.

Erzählt wird auch die Geschichte von Arnold Taads, einem Griesgram, der nur zu seinem Hund eine Art Beziehung unterhält, sein Leben auf die Minute genau durchplant und der am Ende natürlich wundervoll metaphorisch im Eis erfriert.

Erzählt wird schließlich auch von Philip Taads, der den Weltekel ebenso kultiviert wie der Herr Papa, sich dabei aber weit deutlicher dem Selbstekel und damit dem Asiatisch-Spirituellen öffnet. In einem weißen Raum sitzt er und brütet über japanischen Teeschalen und -zeremonien. Natürlich bringt auch er sich um. Natürlich zerbricht er vorher eine sehr kostbare Teeschale.

Inni Wintrop, der all dies sieht, während ihm ein allwissender und zu scherzhaften Bemerkungen aufgelegter Erzähler über die Schulter schaut, ist am Ende natürlich ein bisschen weiser und lässt fortan die Hände vom Strick: „Es gab somit unverkennbar zwei Welten, eine, in der die beiden Taads sich aufhielten, und eine, in der sie abwesend waren, und zum Glück befand er sich noch in der letzteren.“ Potzblitz.

Der Roman will viel und bringt wenig. Er ist ein wenig ein Sittengemälde des angeschlagenen Amsterdamer Bürgertums um 1960 und 1970, er ist ein wenig eine laien-philosophische Betrachtung über die Geworfenheit des Menschen in ein undurchschaubares Sein, dem man sich nun stellen oder entziehen, das man zulassen oder durch Rituale zu kontrollieren suchen kann. Auch geht es so ein bisschen um die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, das Verlogene des Narrativen, die wacklige Konstruktion von Sinn, um Angst vor dem Altwerden, holländisches savoir-vivre, Sex als unbewusste Sinnsuche und um anderes, was sich schick in einem so richtig literarischen Buch macht,  einem Buch von dem Reich-Ranicki sagen kann „Ein poetischer Roman, in dem die Erotik im Mittelpunkt steht.“ Aber das hat er ja auch schon über das halbseidene Murakami Bändchen „Gefährliche Geliebte“ verlautbaren lassen.

Die Charaktere sind am Reißbrett entworfene Pappkameraden, die Handlung konstruiert, die Sprache so, wie sie sein muss, wenn jemand mit viel Talent Autor spielt. Es handelt sich um einen Schein-Roman von einem Schein-Autoren geschrieben für Scheinleser und Scheinleserinnen.

Zum Schluss einige Auszüge:

„Durch Männer, doch das würde er erst sehr viel später sagen können, lernt man, wie die Welt ist, durch Frauen jedoch, was sie ist.“

„Die Bar war lang und dunkel, bestimmt für Börsenjobber und Provinzler, ein schlechtes Publikum, das zu spießig war, zu den Huren zu gehen, und zu knauserig, sich eine Freundin zu halten, und statt dessen im götterdämmernden Licht der schottengemusterten Bar auf den sehr großen, weißen Busen in Lydas Ausschnitt glotzte.”

Von innen bin ich völlig grün,  sagte sie regelmäßig.“

„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will…Ein Gedicht von Bloem hatte er auch noch gelesen, aber welches, das wusste er nicht mehr. Der Hund, dieses eigenwillige Tier, versagte in dieser Hinsicht völlig.“

Tiere sind straight. Tiere haben keine Slogans.“

Wem diese Auszüge gefallen, wer sogar einen tiefen Sinn darin erahnt, dem empfehle ich dieses Buch. Denn: Spaß macht es schon, wenn etwas nicht einfach schlecht ist, sondern eine gar nicht üble Imitation des Guten. Aber eben nur eine Imitation, in der jedoch, um es mit Cees Nooteboom oder Xavier Naidoo zu sagen, wie in jedem Schein ein Sein aufleuchten kann.