Archiv für die Rubrik ‘vor 2000’

Inka Parei: Die Schattenboxerin

21. August 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Sie ist meine Nachbarin. Seit Jahren leben wir im gleichen Stockwerk. Ab und zu stoßen wir gemeinsam unsere schweren Schlüssel in die Gründerzeittüren. Dann verschwinde ich in meinem Hausflur, einem langen, schmalen Schlauch, belegt mit gelbem Hanf, kaum einen Meter breit. Und sie in ihrem, mit den noch im Einheitsbraun der vierziger Jahre gestrichenen Dielen. Die Farbe ist scheußlich. Matt glänzend und kaum zu entfernen, ähnelt sie dem Kot, den die Schäferhunde hier aufs Pflaster werfen, wenn sie von ihren Besitzern mit rostfarbenen Fertigfutterklumpen ernährt werden.
Seit einer Woche ist es still im Seitenflügel des ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses in der Lehniner Straße, den wir als einzige noch bewohnen, sie und ich.

Die Nachbarin mit dem Namen Dunkel ist plötzlich nicht mehr da. Die Erzählerin bricht aus reiner Neugier in ihre Wohnung ein, mal nachsehen, ob sich da ein Hinweis auf ihren Verbleib findet. Sie selbst lebt illegal in dem abbruchreifen Haus, Dunkel ist die letzte legale Mieterin.
Die Erzählerin selbst heißt Hell und ist „die Schattenboxerin“, denn sie betreibt eine asiatische Kampfsportart. Über diese kleine Albernheit kann man allerdings ganz gut hinwegsehen, zumal man sie eh nur aus dem Klappentext weiß, im Text selbst wird der Name erst spät und auch nur einmal genannt. Ob er stimmt oder ob er an der Stelle ein Scherz sein soll, ist nicht mal klar.
Plötzlich steht ein Mann in Dunkels Wohnung, der sie ebenfalls sucht. Und dann entwickelt sich eine veritable Räuberpistole von Geschichte, deren Eckdaten man leider ebenfalls nicht erst aus dem Buch erfährt, sondern schon im Klappentext serviert bekommen hat. Wie oft habe ich mir nun schon vorgenommen, keine Klappentexte zu lesen? Waah! Nützt es was, wenn ich hier nichts ausplaudere und Euch sage, „lest den Klappentext nicht“? Tut Ihr das dann wirklich nicht? Natürlich liest man den Klappentext, verdammte Axt! Wie mich sowas aufregt! Mann!
Lieber Schöffling-Verlag, da das Buch ja nicht mehr so ganz neu ist (1999), nehme ich an, Ihr habt den Klappentextschreiber inzwischen gefeuert, ja? Gut.

Wo war ich? Das ist nämlich ein tolles Buch. Vor allem, wenn man den Klappentext nicht gelesen hat. Sehr viel heruntergekommene Berlinstimmung um die Zeit des Mauerfalls, ohne dass der besonders thematisiert würde. Spannend zu lesen, dabei wird sehr ruhig erzählt, es spricht eine erstaunliche Gelassenheit aus der Erzählerin, zu der sie eigentlich keinen rechten Grund hat. Dicke Leseempfehlung, schon wieder!

Inka Parei bekommt einen Regalplatz zwischen Orhan Pamuk und Dorothy Parker.

Alan Bennett (Ingo Herzke): Handauflegen

30. May 2010 | von Isa

BennettHandauflegenDer Roman beginnt so:
Treacher saß unauffällig im hinteren Teil eines Seitenschiffs und bemerkte dennoch, dass er häufig angeschaut wurde. Er war groß, dünn und trug einen unfreundlich abweisenden Gesichtsausdruck, und wäre dies ein britischer Film aus den Sechzigern, hätte ihn der Schauspieler Raymond Huntley gespielt. Dieser war schon im wirklichen Leben ziemlich unangenehm und hatte sich in Ausübung seiner Kunst auf die Darstellung schlechtgelaunter Geschäftsleute und wichtigtuerischer Beamter spezialisiert.

Treacher ist nicht der einzige, der da in der Kirchenbank sitzt, die Kirche füllt sich mit immer mehr Prominenten, von hochrangigen Politikern über Banker bis hin zu Schauspielern und Fernsehsternchen. Sie alle sind zum Gedenkgottesdienst für Clive gekommen, der im zarten Alter von 34 Jahren gestorben ist. Niemand weiß, woran, aber man macht sich so seine Gedanken. Clive war Masseur, er hat die Reichen und Schönen massiert, und ihnen – je nach Bedarf und mit größter Diskretion – nicht nur die Hand aufgelegt. Alle sind erstaunt, dass so viele andere Prominente da sind, dass überhaupt so viele Leute da sind, sie alle dachten, sie gehören zu einem exklusiven, kleinen Kreis. Die Trauer um Clive ist bei den meisten weniger eine Trauer um Clive, als vielmehr die Angst davor, dass er ihnen etwas Unliebsames hinterlassen haben könnte. Und so rutscht die versammelte Upper Class auf den Bänken hin und her, während der Gottesdienst unter Anleitung von Pater Jolliffe seinen Lauf nimmt. Pater Jolliffe kannte Clive übrigens auch und wird, wie alle anderen Anwesenden, durch verschiedene Enthüllungen im Laufe des Gottesdienstes gehörig durch seine Gefühlswelt geschleudert.

Alan Bennett bezaubert hier wieder mal (wie schon in der Souveränen Leserin und Così fan tutte) mit seinem extrem britischen Humor, mit diesem feinen Ironieteppich, der der ganzen Geschichte zugrunde liegt; er nimmt Ängste und Befindlichkeiten aufs Korn und nimmt sie erstaunlicherweise gerade durch Unernst und Überdrehtheit ernst. Und auch dieser Bennett hier ist ebenso kurz wie die beiden anderen, keine 100 Seiten. Wer einfach mal was Kleines, Leichtes, unglaublich Charmantes, aber keineswegs Dummes lesen möchte: Alan Bennett. Dieser hier ist vielleicht der Lustigste von den dreien, die ich bislang gelesen habe. Ich liebe sie alle drei. Und alles andere von Bennett werde ich sicher auch noch lesen.
Bennett steht im Regal zwischen Benn und Bergengrün.

Antonio Muñoz Molina, Der polnische Reiter

6. February 2010 | von Kaltmamsell

Polnischer_Reiter

So lange habe ich schon lange an keinem Buch mehr gelesen.

Der polnische Reiter wurde als El jinete polaco von Antonio Muñoz Molina geschrieben und von Willi Zurbrüggen ins Deutsche übersetzt. Von Muñoz Molina hatte ich fürs Studium Beatus Ille gelesen, das hatte mir gut genug gefallen, dass ich mehr von diesem Autor lesen wollte. Bis es tatsächlich dazu kam, vergingen allerdings 15 Jahre.

Antonio Muñoz Molina, Jahrgang 1956, gilt als einer der wenigen literarischen Vergangenheitsverarbeiter Spaniens, einer Nation, die erst jetzt, in der Enkelgeneration, anfängt, sich mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur so richtig auseinander zu setzen. Ich habe mir das immer mit der Natur von Bürgerkriegen erklärt: Die Gräben verliefen 1936 bis 1939 buchstäblich durch die Familien – und das nicht unbedingt aus ideologischen Gründen: Sowohl die eine also auch die andere kriegsführende Partei zog rekrutierend übers Land. Die einen nahmen den einen Bruder mit und ließen ihn für sich schießen, die anderen den anderen. In meiner ohnehin Geschichten-armen spanischen Familie wird sowas angedeutet; geredet wurde über den Bürgerkrieg nie. Die Wunden, die der spanische Bürgerkrieg innerhalb der Gesellschaft geschlagen hatte, waren vielleicht so tief, dass die Leute nach Ende der Franco-Diktatur (die, wohlgemerkt, durch den Tod des Diktators beendet wurde, nicht etwa durch ein politisches Aufbegehren) alle Chancen im Blick nach Vorne sahen und die Vergangenheitsverdrängung der Franco-Jahre begeistert weiterführten. Denn anders als erwartet, sprangen in der neuen Demokratie Spaniens aus den Schubladen von Schriftstellern nicht etwa massenhaft geheim gehaltene, regimekritische Manuskripte – da war nichts. Es dauerte eine ganze Reihe von Jahren, bis die Kunst soweit war, sich des Themas anzunehmen.

Am polnischen Reiter (erschienen 1991) las ich zum einen deshalb so lange, weil es ein sehr dickes Buch ist: 700 Seiten, kleine Schrift, lange Kapitel. Zum anderen aber, weil die Geschichte sehr dicht ist: Sie enthält praktisch keine weitschweifigen Beschreibungen, kein Vor-sich-hin-Gebrabbel, das ich absatzweise überflöge. Der rote Faden des Romans wird geknüpft aus einem Ort und einer Person: Dem fiktiven südspanischen Mágina und Manuel, der nach dem Krieg als Sohn von Feldarbeitern in Mágina aufwächst. Der Roman beginnt mit Liebesszenen zwischen dem erwachsenen Mann Manuel und der etwa gleichaltrigen Nadia; und immer wieder ziehen sie aus einem Koffer in der Wohnung, dem Koffer des örtlichen Fotografen Ramiro Retratista, alte Fotos. In Rückblicken wird die Geschichte einiger der Personen auf diesen Fotos erzählt, doch nie linear, oft personal, oft aus der Perspektive Manuels, manchmal aus auktorialer Perspektive, oft sehr impressionistisch anhand intensiver Sinneseindrücke. Die Sätze scheinen endlos – und bewirken einen tranceartigen Zustand, der dem Versinken in Erinnerungen gleicht, inklusive Assoziationen und Gefühlen. Den Hintergrund dieses Gewebes bildet Spanien zwischen etwa 1930 und der Gegenwart des Buches.

Jede Seite des Romans fesselt mich, wahrscheinlich aus sehr persönlichen Gründen. Das beginnt mit der Sprache. Mein Spanisch ist leider bei Weitem nicht gut genug, dass ich den Roman im Original lesen könnte. Doch habe ich genug Spanien- und Spanischkenntnisse, dass das Original ständig durch die Übersetzung hindurchscheint, vor allem bei eigentlich unübersetzbaren Details. Wenn es von einem sehr alten Mann heißt, er kleckere beim Trinken nie, nicht einmal wenn er „direkt aus dem Krug“ trinke – dann weiß ich eben, dass mit „Krug“ ein porrón gemeint ist, aus dem man das Getränk ohne Berührung direkt in den Mund schüttet (aus dem ich nie anständig trinken konnte, so oft ich als Kind in den Sommerferien auch heimlich hinterm Haus meiner spanischen Yaya übte). Oder das Kohlenbecken unter dem Tisch, von dem ständig die Rede ist: Es handelt sich um einen brasero. Selbst habe ich nie einen im Einsatz erlebt – das mag daran liegen, dass ich bis vor wenigen Jahren nur im Sommer in Spanien war. Aber ich erinnere mich, dass alte Esstische etwa 20 cm über dem Boden ein Brett hatten, deutlich kleiner als die Tischoberfläche, mit einer großen runden Aussparung. Dort hinein, so erzählte man mir, kam im Winter ein metallenes Becken voll glühender Kohle. Über den Tisch wurde eine Decke gelegt, die bis zum Boden reichte; wer es warm haben wollte, setzte sich an den Tisch mit den Beinen unter der Decke. Soweit zur Ingenieurskunst in einem Land, dass durchaus bitterkalte Winter kennt.

Lange Passagen des Romans spielen in einer geradezu archaischen Welt. Die schiere Last der Existenz, die die Menschen durch ein Netz gesellschaftlicher Fesseln erklärbar machen: Armut, aus der man sich nicht zu befreien hat, entsetzlich schwere körperliche Arbeit, die Kinderknochen verbiegt und Männer noch am Abendbrottisch vor Erschöpfung einschlafen lässt. Das ermüdende Ritual des Werbens zwischen den Geschlechtern, in dem jedes Detail so strikt vorgegeben ist wie in der Liturgie einer katholischen Messe. Alle leiden darunter, doch zumindest können sie jederzeit erklären, woraus die Last des Lebens besteht. Von der Mutter Manuels heißt es:

Die Vermutung einer unwillentlich auf sich geladenen Schuld und die Furcht, ohne Erklärung bestraft zu werden, wirkten wie eine unaufhörliche Erpressung auf ihre Seele.

Das komplizierte Verhältnis der Generationen mit seiner Zerrissenheit zwischen Verpflichtung und Freiheitsdrang, Erwachsenwerden im Andalusien der 70er, Freundschaften, die lange Pausen überdauern, Abtrünnigkeit, die sich unter perfekter Stromlinienform verbirgt, die Auswirkungen von Emigration und Flucht auf persönliche Beziehungen – ich bilde mir ein, das vergangene Spanien durch diesen Roman besser zu verstehen.

Der Dunst von Indochina

14. December 2009 | von Modeste

Diese Ungeheuerlichkeit, ein Land nicht einfach zu kaufen, sondern sich zu nehmen, gleichsam aufzuessen und als eigenes Fleisch am eigenen Körper zu tragen. Kleine Beamte aus der Provinz zu Herrschern zu machen, und mit ihnen Frauen zu senden, mit den Frauen Kinder, mit den Kindern Lehrer und all das, was man vermisst, wenn man am Ende der Welt in einem viel zu großen Haus ein viel zu fremdes Land regiert.

Das Land aber lässt sich nicht verdauen, und so wird Indochina nicht ein fernes, wärmeres Frankreich, sondern etwas ganz, ganz anderes, und im Dunst über dem Mekong, in den geschäftigen, schmutzigen Straßen Saigons entsteht eine eigene, unendlich flirrende Welt, über die man uns Schlechtes erzählt, und die wir uns doch schön vorstellen, träge und elegant: Staubige Straßen, Reisfelder, Bambus, Seide und lächelnde Diener. Die Schmerzen sehen wir nicht.

Die Liebe aber bleibt sichtbar. Vielleicht gerade, weil es eine kühle, ihrer selbst kaum bewusste Liebe ist, die die alte Marguerite Duras beschreibt, denn sie, die fünfzehnjährige Tochter der verwitweten Schulleiterin von Sadec ist keine Romantikerin, und was sie mit dem viel älteren, reichen Chinesen verbindet, ist mit S*x zwar nur ungenügend beschrieben, aber Liebe, Liebe in des Wortes reiner Bedeutung ist es nicht. Ein reines Utilitätsverhältnis aber mag man die Liaison auch wiederum nicht nennen, denn mehr als Geld und Lust und Hunger nach dem, was man so Leben nennt mit 15, liegt in der warmen, feuchten Luft dieses Romans, der 1984 erschienen ist, aber in den späten Dreißigern spielt, als die Herrschaft Frankreichs über diesen Teil der Welt schon müde geworden ist, und die Risse im Gebälk tief und sichtbar.

Dass es der Duras gelingt, eine Liebesgeschichte zu schreiben, deren männlicher Protagonist nicht begehrenswert erscheint, ein kraftloser, nicht einmal schöner Sohn, ist eine Kunst und zwar keine geringe. Ganz allein um das Mädchen kreist die Erzählung, die wie zum Hohn “Der Liebhaber” heißt, als ginge es nicht allein um die Seele des Mädchens, die sich seiner schwächlichen Liebe nicht ergibt: Wie ein Baum einen prächtigen Parasiten tragen kann, eine blühende, tödliche Orchidee, die schillert und wuchert und ihm den Lebenssaft nimmt, so trägt der chinesische Bankierssohn die Liebe und das Begehren des Mädchens auf seinem schmächtigen Körper, und bisweilen erinnert – bei allen Wüsten der literarischen Distanz – dieser Bericht über Leidenschaft und Kälte der eigene Seele an Stendhal, und wie bei jenem liegt unter der gläsernen Klarheit des Wissens um die Regungen des eigenen Ich eine zweite, feine, silbrige Membran, in der sich eine zweite, schwärzere Geschichte spiegelt, die die Duras nicht aufschreibt, und die sich doch erzählt.

Der Stil freilich hält auch mit geringeren Konkurrenten nicht Schritt. Assoziativ malt die Duras Pinselstriche, Tuschezeichen, ein paar Sätze lang und bisweilen rankend ins Entlegene. Ein längeres Buch hätte an diesem Makel gelitten, doch wenn der Chinese lange Jahre später am Telephon über seine Liebe spricht, sind noch keine 200 spärlich bedruckte Seiten vorbei, und wir verlassen Madame Duras mit dem verlegenen Lächeln der Ertappten, auch wenn wir kaum wissen, warum.

Marguerite Duras
Der Liebhaber
1984