Archiv für January 2010

Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde

31. January 2010 | von Isa

SchalanskyInseln

„Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.“

Der „Atlas der abgelegenen Inseln“ wurde von der Stiftung Buchkunst zum schönsten Buch des Jahres 2009 gekürt, und wenn die es nicht getan hätte, dann hätte ich es getan.
Judith Schalansky stellt auf jeder Doppelseite eine Insel vor, zumeist solche, von denen man noch nie gehört hat, und auf die man in der Tat niemals gelangen wird. Auf der rechten Seite findet sich jeweils eine Karte der Insel (alle im selben Maßstab) und auf der linken Seite ist der Name der Insel angegeben, teilweise auch mehrere Namen oder Namen in unterschiedlichen Sprachen, ihre Größe, die Einwohnerzahl, darunter auf einem Entfernungsstrahl die Entfernung zum Festland und die zur nächstgelegenen in diesem Buch beschriebenen Insel, und auf einem Zeitstrahl ein paar wichtige Daten.
Und darunter ein Text, etwas mehr als eine halbe Seite, auf der keineswegs die wichtigsten Fakten über die Insel zusammengefasst werden, sondern ziemlich willkürlich ein Punkt herausgegriffen wird. Und das macht einen Teil der Zauberhaftigkeit dieses Buches aus: dass es die Unvollständigkeit zum Stilmittel erhebt und einfach über jede Insel irgendwas erzählt. Das kann ein Schnappschuss von einem historischen Ereignis sein oder die Beschreibung eines Tiers, das es nur dort gibt, oder eine geografische Besonderheit oder die verlassene Wetterstation. Ein Detail.
Der andere Teil der Zauberhaftigkeit dieses Buchs liegt in seiner Ausstattung: das schönste Buch des Jahres 2009 ist ungefähr DIN A 4 groß und von außen blau, mit Leinenrücken und orangefarbenem Schnitt. Innen hat die rechte Seite mit der Insel einen blauen Hintergrund, Landkarten-Meeresblau, die linke hat Text, schwarz auf weiß, mit einigen orangefarbenen Details; die Autorin befasst sich sonst mit Typografie, und das sieht man natürlich. Und als wäre das alles noch nicht genug, riecht das Buch auch noch unglaublich gut.
Man kann wunderbar ein bisschen darin blättern, sich hier und da festlesen, sich an Papier, Duft und Optik erfreuen, nebenbei ein bisschen erratische Bildung mitnehmen und immer wieder zwischendurch ein Loch in die Luft gucken und sich fragen, wie es sein mag, auf einer Insel zu leben, auf der außer einem selbst nur noch drei weitere Menschen wohnen. Oder ob die Verschleppten je zurückkehren durften. Oder ob Dore die Baronin umgebracht hat. Und es möchte einem schier das Herz brechen, dass es tatsächlich eine Insel mit dem Namen Einsamkeit gibt. „Die Einsamkeit liegt im Nordpolarmeer.“

Geht hin und kauft. Für ein so aufwendig und liebevoll gemachtes Buch sind 34,- € nicht mal viel.

Ich weiß noch nicht, an welchen Regalplatz das Buch kommt. Eigentlich möchte ich es gar nicht ins Regal stellen, es soll immer irgendwo herumliegen. Und dann will ich es immer wieder in die Hand nehmen und darin herumlesen. Und daran riechen.

Shane Jones (Chris Hirte): Thaddeus und der Februar

27. January 2010 | von Isa

Mit Zeichnungen von Ria Brodell

JonesThaddeus

Der Roman fängt so an:

Thaddeus
Wir saßen auf dem Berg und sahen den Ballons zu. Die Flammen in den Ballons erhitzten die Hüllen, bis sie in Neonfarben blühten. Die Kinder spielten Vorhersage.
Sie zeigten auf Löcher am Himmel und warteten. Manchmal blühten alle Ballons gleichzeitig und bildeten ein Lichterzelt über der Stadt, unter deren Dächern die Traurigkeit des Februars wuchs.
Nächte wie diese werden bald nicht mehr sein, flüsterte mir Selah ins Ohr.

Die Traurigkeit des Februars liegt über der Stadt. Der Februar herrscht schon viele hundert Tage. Als erstes wird das Fliegen verboten, die Ballons dürfen nicht mehr aufsteigen, Vögel müssen zu Fuß gehen, nichts darf mehr fliegen. Alles ist immer nur kalt und traurig. Dann verschwinden Kinder. Einige von ihnen werden später tot aufgefunden; ertrunken, erfroren. Eine Gruppe von Männern formiert sich, sie nennen sich Der Ausweg und suchen nach einem ebensolchen. Sie erklären dem Februar den Krieg. Thaddeus schließt sich ihnen an, sie probieren alles mögliche, um wieder Wärme und Licht in die Stadt zu bringen, das Eis zu schmelzen, den Februar zu bekämpfen.
Das Buch ist recht aufwendig gemacht, es arbeitet stellenweise mit unterschiedlichen Schriftgrößen und Seitenlayouts, und dann gibt es noch die Illustrationen von Ria Brodell. Ich verstehe nichts von Kunst, ich teile Bilder in „schön“ und „nicht so schön“ ein, was natürlich reine Privatgeschmackssache ist, und diese hier finde ich nicht so schön. Das ist allerdings ganz passend, denn der Februar ist halt auch nicht schön. Nur grau und traurig, wie die Bilder.
Ach, das ist jetzt schwierig: das ist ein liebevoll gemachtes Buch, wunderbare Gesamtidee und auch viele großartige kleine Ideen drin, gut übersetzt ist es auch, illustriert, eigentlich also alles toll, aber ich kann mit Märchen leider schlicht nichts anfangen.
Soll heißen: für Märchenliebhaber ist das bestimmt sehr schön.

Im Regal hat Shane Jones illustre Nachbarn, nämlich Uwe Johnson und James Joyce.

Maximilian Buddenbohm: Zwei, drei, vier. Wie ich eine Familie wurde

26. January 2010 | von Isa

BuddenbohmZwei

Die Blogosphäre kennt Maximilian Buddenbohm als Autor der Herzdamengeschichten. Eins seiner wiederkehrenden Blogthemen ist seine Familie, und um die dreht sich auch das Buch: um die Herzdame und die eher herzlos durchnummerierten Söhne, Sohn 1 und Sohn 2. Ich gestehe es lieber gleich, ich bin mit den Buddenbohms befreundet, bin Patentante von Sohn 2, ich kann also nicht behaupten, ich wäre unbefangen an dieses Buch gegangen. Im Gegenteil, ich habe immer Angst vor Büchern von Freunden, denn: was, wenn ich es nicht mag?
Nun ja. Ich habe zwei Nächte bis zwei Uhr gelesen, weil ich es nicht weglegen konnte. Und das, obwohl ich die einzelnen Kapitel schon allesamt als Blogeinträge gelesen hatte. Teils schon vor Jahren, ausnahmsweise kommt mir hier mal mein schlechtes Gedächtnis zugute, ich lese das meiste wie zum ersten Mal. Und bin wirklich bezaubert. Inhaltlich gibt es nicht viel zu sagen: Mann trifft Frau, sie heiraten und kriegen Kinder. Knallerstory. Die wird aber auf eine so charmante Weise erzählt, dass man sie, ich schwör’s, tatsächlich so noch nicht gelesen hat. Denn der kompromisslose Pragmatismus der Herzdame aus dem bodenständigen Nordostwestfalen und die liebevolle Ironie, mit der Maximilian Buddenbohm zum einen die Herzdame, und zum anderen sich selbst betrachtet, sind schon wirklich speziell. Speziell liebenswürdig. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der er sich selbst und das Leben nicht ganz ernst nimmt, lässt er die Macken aller anderen gelten (hier vor allem die der Herzdame, aber in seinem Blog sieht man, dass das auch für alle anderen gilt). Selbstironie und Großzügigkeit gegenüber anderen als grundsätzliche Lebenseinstellung – man wünscht sich mehr solche Menschen auf der Welt. Jaja, große Worte, schon gut. Will sagen: lest dieses Buch. Und habt Spaß. Ich habe manchmal laut gelacht, und das, obwohl ich die Geschichten kannte.

Maximilian Buddenbohm kommt im Regal zwischen Lothar-Günther Buchheim und Charles Bukowski.

Kristof Magnusson: Das war ich nicht

21. January 2010 | von Isa

Jasper Lüdemann ist ein deutscher Aktienhändler an einer Bank in Chicago. Er will einem Kollegen aus der Klemme helfen, verspekuliert sich dabei aber und macht reichlich Verluste für seine Bank.
Henry LaMarck ist ein berühmter Schriftsteller, der nun schon zum zweiten Mal für den Pulitzerpreis nominiert ist. Dummerweise hat er irgendwann behauptet, er schriebe an einem Roman über den 11. September, tatsächlich steckt er aber in der Krise und schreibt gar nicht. Sein Chicagoer Verlag wartet, ebenso wie der deutsche Verlag, auf das Manuskript.
Meike Urbanski ist seine deutsche Übersetzerin, die gerade aus ihrem immer bürgerlicher werdenden Leben in Hamburg geflohen ist und sich ein heruntergekommenes Häuschen in Friesland gekauft hat. Sie ist pleite und braucht dringend das Manuskript von Henry LaMarck.
Diese drei erzählen im Wechsel, und zwar so (jeweils der Anfang):

Jasper
„Guten Morgen, Sir. Wie geht es Ihnen?“
„Gut“, sagte ich. Was sogar der Wahrheit entsprach. Es ging mir gut, obwohl ich die ganze Nacht mit den Kollegen durch irgendwelche Londoner Bars gezogen war. Das erzählte ich der Stewardess natürlich nicht. Dabei hätte ich eigentlich gern jemandem erzählt, was in den letzten Tagen passiert war.

Meike
Jetzt musste ich mich nur noch daran gewöhnen, dass es hier richtig schön war. Ich musste mich daran gewöhnen, dass diese Haustür meine Haustür war, und dahinter kein nach Putzmittel riechender Hausflur, keine Kinderwagen, kein von weggeschmissenen Werbeprospekten überquellender Plastikeimer, sondern nur meine blauen Schuhe auf den braunen Natursteinfliesen im Vorflur. Dies war ich in meinem neuen Leben.

Henry
Ich sollte mich wirklich schämen. Schämen solltest du dich, Henry LaMarck! Auf jeder anderen Party wäre es im Rahmen des gesellschaftlich Akzeptierten gewesen, sich sang- und klanglos davonzustehlen, doch auf der Party zu meinem eigenen sechzigsten Geburtstag war es das sicher nicht.

Tut er aber, er stiehlt sich davon und verschwindet. Der Verlag sucht nicht nach ihm, daher fliegt Meike schließlich auf eigene Faust nach Chicago. Wo sie in einem Café Jasper kennenlernt. In ebendiesem Café lernen sich auch Jasper und Henry kennen – Henry verliebt sich in Jasper, Jasper sich in Meike, Meike aber will nur das Manuskript, das es nicht gibt.
Alle drei stecken in der Sackgasse. Jasper hat sich verspekuliert, versucht, dagegen an zu spekulieren und reitet sich immer weiter rein. Meike ist aus der Bürgerlichkeit abgehauen, hat jetzt aber keine Arbeit und auch sonst nichts. Und Henry hat Schreibblockade und weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Zudem kennen sich jetzt alle drei, wissen aber jeweils nicht, dass die anderen beiden sich auch kennen.
Sehr schöne Ausgangssituation, und es wird auch alles sehr liebevoll beschrieben, es gibt zauberhafte Szenen und Ideen, aber restlos begeistert kann ich nicht sein. Dafür gibt es mir doch zu große Plausibilitätsschwächen – dass Meike nach Chicago fliegt zum Beispiel, erschließt sich überhaupt nicht. Zweitens kann ich Geschichten nicht leiden, in denen sich jemand immer tiefer in was reinreitet, weil er sich nicht traut, einen kleinen Fehler zu gestehen oder ein Missverständnis aufzuklären. Es nervt mich, wenn eine Figur selbst wissen muss, dass es immer nur schlimmer werden kann, sich aber einredet … nee, nichts für mich, aber das ist natürlich mein Privatdings und kann nicht als echte Kritik gelten. Und drittens möchte ich Sätze wie „Ich startete den Internet-Browser“ 2010 nicht mehr lesen.
Das Ende ist schließlich so fernsehfilmhaft dick aufgetragen, dass mir dann doch der Verdacht kommt, Magnusson habe das alles nicht sehr ernst gemeint – eher als Spiel, als Augenzwinkern. Das wiederum gefällt mir, ich bin nur nicht sicher, ob es wirklich so ist. Fazit: das ist ein gutes Buch, durchaus, ich weiß nur nicht recht, wie ich mit den Einschränkungen umgehen soll. Ansonsten wird es übrigens allenthalben bejubelt, zum Beispiel von Katy.

Kristof Magnusson steht im Regal zwischen Nagib Machfus und Bernard Malamud.

Die Queen lernt lesen

18. January 2010 | von engl

The Uncommon Reader / Die souveräne Leserin, Alan Bennett / Ingo Herzke

bennett_die_souveraene_leserinEines Tages entdeckt Elisabeth II. an einer abgelegenen Ecke des Palastes den Bücherbus der Bezirksbibliothek. Wir haben einen Bücherbus, informiert sie daraufhin ihren Gatten. (Der bei den Briten durchaus zutreffend den Ruf eines groben, deutschen Klotzes genießt.) Es gibt noch Wunder, lautet seine belanglose Antwort. Und genau so kommt es dann auch.

Die Queen lernt lesen, ein Buch nach dem anderen verschlingt sie. Und die Queen lernt denken, oh Wunder. Sehr zum Unbill ihres Privatsekretärs – Sir Kevin aus Neuseeland – und ihres Hofstaates. Die Queen beginnt, ihre repräsentativen Aufgaben zu vernachlässigen. Nicht sehr, eigentlich kaum sichtbar, aber dennoch spürbar. Für Sir Kevin vor allem. Die Queen wird unberechenbar. Sie stellt die falschen Fragen, im falschen Moment. Sie bringt Menschen aus dem Takt, egal, ob es sich um den Premierminister oder ein, in Anbetracht der bevorstehenden Begegnung mit dem königlichen Geblüt völlig aufgelöstes, namenloses Untertan handelt. Die Queen benimmt sich überall ein klein wenig daneben.

Zwischen ihren Pflichten zieht sich die Queen immer häufiger in ihr Buch zurück; ja, sogar auf den endlosen Wegen zu ihren diversen Auftritten, gehört fortan ein Buch einfach dazu. Nach einer Weile ist bei Elisabeth überraschend ein Zuwachs an Mitgefühl zu verzeichnen, gepaart mit einer ganz neuen Art von Eigensinn. Die von Kevin, dem Neuseeländer, mit aller gebotenen Vorsicht angesprochen, aber dennoch eindeutig als Selbstsucht betitelt wird. Als die Queen darüber hinaus auch noch damit beginnt, sich beim Lesen Notizen zu machen, wird sie sogar verdächtigt, etwas so Gewöhnliches wie Alzheimer zu entwickeln.

Das ist nicht neu, wir wissen es alle. Es geschieht etwas mit den Menschen, wenn sie anfangen, sich durch Literatur zu arbeiten. Wie auch immer die geartet sein mag, die Menschen verändern sich. Sie betreten andere Welten und vergessen sich selbst, wenn sie Glück haben. So auch die Queen, die sich bei ihrer Lektüreauswahl übrigens von Norman Seakins, einem schwulen Küchenjungen, leiten lässt. Was sicherlich nicht die schlechteste Wahl ist, schließlich ist Elisabeth, was das Lesen angeht, zunächst einmal nur eine armselige Anfängerin. So sind ihre Erkenntnisse rund um das Lesen mitunter auch ein wenig banal. Information ist das Gegenteil von Lesen, findet sie irgendwann heraus. Lesen ist kein Zeitvertreib, bringt sie an einer anderen Stelle zum Ausdruck. Außerdem läse sie, weil sie sich verpflichtet fühle, die Menschen zu ergründen. Nun ja, das ist ehrenvoll aber harmlos. Da bleibt leider einiges an der Oberfläche. Da es sich jedoch um die Queen handelt, eine steinalte Dame, der nicht gerade der Ruf einer ebenso klugen wie herzlichen Lady vorauseilt, soll uns das genügen. Womöglich ist es sogar mehr als zu erwarten wäre, würde die einst reichste Frau Englands – inzwischen übertrumpft von J. K. Rowling, einer Art Märchentante – tatsächlich das Lesen entdecken.

Die souveräne Leserin ist ein kleines Buch, ein Büchlein sozusagen, das sich ohne Probleme an einem Abend vernaschen lässt. Oder auf der Bahnstrecke Berlin–>Hannover–>Köln–>Bonn vielleicht, schließlich ist Elisabeth durchaus eine politische Figur. Als werdende und wachsende Leserin fordert sie die Mächtigen heraus, zu denen sie ja ungehinderten Zugang genießt. Als Proustverehrerin und mögliche Schreiberin, weist sie letztendlich gar die Macht von sich. (Was eventuell der heimliche Traum etlicher Briten ist.)

Einstellen sollte man sich auf jeden Fall auf die wohl feinste Art englischen Humors. Köstlicher Klamauk à la Monty Python wird hier nicht präsentiert, vielmehr bedient sich Bennett einer wohltemperierten Form der Absurdität. Humor, bei dem nicht laut gelacht wird, höchstens einmal kurz aufgeatmet. Einmal! Keinesfalls zweimal, versteht sich. Das muss reichen, ohne dem Amüsement auch nur einen Hauch von Klasse zu nehmen. Very British.

Ein Lob verdient außerdem die offensichtlich gelungene Übersetzung von Ingo Herzke, die sich nicht zuletzt in dem auf ganz eigene Art treffsicheren deutschen Titel zeigt.

Scarlett Thomas, The End of Mr. Y

17. January 2010 | von Kaltmamsell

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Es war ein Weihnachtsgeschenk, sonst hätte ich The End of Mr. Y sehr wahrscheinlich nie gelesen: Sein Umschlag sieht zu sehr nach Fantasy, Vampiren, Steam Punk aus, als dass es mich anzöge. Doch dann hätte ich etwas verpasst (die schwarzen Seitenränder – Schwarzschnitt? – gefallen mir ohnehin sehr gut).

Die Geschichte startet mit einem Erdbeben und steigert sich von dort aus langsam. Nein, ernsthaft: Auf der ersten Seite raucht ein Ich-Erzähler gerade aus seinem Bürofenster, als der Boden unter ihm erbebt. Er flieht Hals über Kopf – es stellt sich heraus, dass das Büro Teil eines Universitätskomplexes ist, unter dem soeben ein altes Gewölbe einbricht. Wir sind im Jetzt und Heute (Derrida ist bereits gestorben); der Erzähler promoviert über ein Teilgebiet der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts und stolpert über ein Buch aus dieser Zeit, das als verschollen und verflucht gilt: The End of Mr. Y von Thomas Lumas.

Es dauerte einige viele Seiten, bis ich den Erzähler eindeutig als Frau einordnete – ein gutes Zeichen und Beweis für den Abstand zu Stereotypen: Diese Ariel ist besessen von ihren Studien, steht auf oberflächlichen Sex, kämmt sich selten, ist ganz einsamer Wolf / einsame Wölfin – mit den entsprechenden seelischen Verletzungen.

Die Geschichte dreht sich dann im Weiteren um die seltsamen Inhalte des entdeckten Buches, das ein Rezept für Telepathie enthält. Parallel geht es um die Entstehung von Wissenschaft, wie wir sie heute kennen; die Details werden gerne in Dialogform präsentiert – und das durchaus fachlich tief und sauber. Ich genoss es, an die Zusammenhänge der Relativitätstheorie erinnert zu werden, auch an die Auswirkungen der Unschärferelation auf unsere heutige Wahrnehmung. Alles ist verwoben in eine temporeiche Handlung, in der Ariel das Rezept des Buches ausprobiert, mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, amerikanischen Geheimagenten ausweichen muss, zwischen Wirklichkeitsebenen wechselt. Das macht den Roman kurzweilig, ist aber auch sein Nachteil: Insgesamt ist The End of Mr. Y deutlich zu voll (Derrida hätte verlustfrei gestrichen werden können, auch Heidegger braucht es nicht). Erzähltechnik und Sprache hinken dem intellektuellen Anspruch hinterher, der nichts weniger versucht, als eine postpostmoderne Erkenntnistheorie des 21. Jahrhunderts zu entwerfen.

Dennoch ein angenehm seltsames Buch. Und es hat mich sehr gefreut, diese Ariel Manto kennenzulernen.

Vergiftet mit ihren Tränen

16. January 2010 | von Modeste

Eduard von Keyserling, Dumala, (1908)

Einsam ist man in den Weiten des Ostens, in dem das alte, feudale Europa müde in verblassten Tapisserien friert, kraftlos wie der gelähmte Baron Werland in seinem Schloss Dumala, in dem ganze Flügel leer stehen, und die Mäuse hinter der Wand dem Ende dieser Welt entgegen nagen. Mit dem Baron friert seine schöne Frau Karola, sitzt des Abends neben ihm am Feuteuil und streichelt des Barons schmerzende Beine. Langsam, quälend langsam vergeht die Zeit. Nichts dringt von außen in diese abgeschiedene Welt, die Moderne ist woanders, die weit, weit weg aufbricht, wenige Jahren und einen ersten Weltkrieg später diese mürbe Welt zu begraben.

Die unerfüllte Sinnlichkeit der Baronin stellt Keyerlingk fast greifbar in den Raum. Wie sich die farbigen Flecken der Impressionisten verbinden zu einer Vision von Duft und Wärme sehen wir der Baronin Werland zu, wie sie ein wenig, kaum spürbar, aber gerade genug für diese arme Seele mit dem Sekretär Pichwitt kokettiert und den Pastor des Ortes, Erwin Werner, aus den Selbstverständlichkeiten seines Lebens, seinem kleinen, wohlgeordneten Glück, herauswickelt, allein mit Worten, Gesten, ohne dass irgendetwas zwischen beiden geschieht. Für diese Frau wird Werner um ein Haar morden.

Lange, lange aber geschieht nicht viel. Der Pastor Werner entgleitet langsam seiner Frau, seinem Amt und sich selbst, und aus der Mitte seiner Seele schält sich eine Vitalität heraus, die der Liebe täuschend ähnlich sieht, und doch zeigt uns Keyserling nur ihre enge, kleinliche, verknotete Seite, und wir verachten den Pastor ein wenig für die fast scheinheilige Beschränkung seiner selbst. Niemals griffe er über die Grenzen der konzentrischen Kreise dieser fest gefügten Gesellschaft hinaus, und niemals erwiderte die Baronin diesen Griff. Der alte Baron wird diese Wahrheit aussprechen, an die in diesem ostpreußischen oder baltischen  Dorfe noch jeder glaubt.

Gerade, rein und hart kann Werner daher nur hassen, und so hasst er, als ein adeliger Liebhaber sich die Baronin nimmt, hasst ebenso wie der Sekretär, aber weil er stärker und aktiver ist als jener, stellt er dem anderen eine Falle auf Leben und Tod, und schreckt erst im letzten Moment zurück. Am Ende wird er im Wirtshaus sitzen mit dem Liebhaber, beide wissen beim Sekt um den beinahe vollzogenen Mord, aber für die Konsequenzen einer so ungeheuerlichen Eröffnung reicht keines Kontrahenten Vitalität noch aus, und so bleibt es bei einem leisen, höflichen, unendlich verächtlichen Händedruck.

Eines Tages aber geht die Baronin mit dem anderen auf und davon. Der alte Baron  stirbt wohlfrisiert bis zum Tode, und als zur Beerdigung die Baronin Karola zurückkommt, um allein, nach nur angedeutet unglücklichem Verlauf der Affäre, im Schloss ganz für sich zu Ende zu leben, verlassen wir den Pastor Werner im tiefen Winter, wie er am Schlosse in weitem Abstand vorbeifährt,  die Baronin grüßt, und sehen ihm nach auf dem Heimweg ins Pfarrhaus, reiben uns die vor Kälte dieses unendlich traurigem Kammerspiels schmerzenden Hände, reißen uns aus der perfekten Illusion einer perfekt komponierten, überaus feingezeichneten Welt und beneiden diesen fallenden, schwächlichen Adel ein wenig um die Güte und die Meisterschaft, die Nachsicht und die streichelnde Freundlichkeit, mit der Keyserling jene zeichnet, und die niemand später einmal aufbringen wird für unser Ende und das unserer Welt.

loslabern – Rainald Goetz

13. January 2010 | von mek

Dann fange ich mal mit dem Buch an, das ich vorhin zugemacht habe: LOSLABERN von Rainald Goetz. Ich kann mich jetzt nicht erinnern, ob das Wort auch wirklich groß geschrieben ist, aber so vieles ist mir großgeschrieben hängengeblieben an diesem Buch, wie ja an Rainald Goetz generell. Und überhaupt. Ob der Titel groß- oder kleingeschrieben ist, wird sich gleich beantworten, wenn ich das Foto schieße, um es dem Text voranzusetzen, daher ist es eh egal, aber gut, worum geht es in LOSLABERN. Das Buch ist eine Totalanalyse des Rainald Goetz in seiner Totalgegenwart der Nullerjahre. Der Ansatz ist wirklich der: loszulabern, ein durchgehender Gedankenstrom, fast gebetsmäßig niedergeschrieben, es liest sich als wäre man in eine Stromschnelle geraten und dem ganzen Geschehen der Nullerjahre ausgesetzt, höchst subjektiv, immer aus der Perspektive des Rainald Goetz, der wie ein überdimensionierter Schwamm alles um sich herum aufsaugt und beim Auswringen alles zu interpretieren versteht, Zusammenhänge zu erkennen vermag, immer ein bisschen zu aufgedreht im Ton, immer ein bisschen zu nervös, immer so, als müsste es raus aus ihm, der Text hat etwas entfesseltes an sich, als hätte hier das Hirn darauf gewartet, losgelassen zu werden, um alles drumherum aufzusaugen, wir sitzen beim ihm im Nacken, wie er sich durch die Berliner Republik bewegt, alle haben sie ihren Auftritt: Döpfner, Kracht, Schirrmacher, Tellkamp, Piechl, Diekmann, nur um mal ein paar zu nennen, die mir jetzt auf Anhieb einfielen, aber auch Don Alphonso taucht auf, Andrea Diener, der Don kriegt sogar eine Doppelseite voll des Lobes, wir streifen mit Goetz durch die Frankfurter Buchmesse, hören ihm beim Denken zu, über die einzelnen Persönlichkeiten, denen er begegnet, was ihn mit denen verbindet, was für Blödsinn er gedacht hat, wie er die Gedanken korrigiert, dann wieder eine Vernissage, ein Abendessen, wir immer im Nacken und hören zu beim Erfassen der Gegenwart.
Sehr klug. Sehr ungeniert. Sogar amüsant, wenn man will. Ich habe es geliebt. Aber das wusste ich vorher schon.

David Nicholls (Simone Jakob): Zwei an einem Tag

13. January 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:

Freitag, 15. Juli 1988
Rankeillor Street, Edinburgh

„Ich glaube, das Wichtigste ist, irgendwas zu verändern“, sagte sie. „Du weißt schon, wirklich zu verbessern.“
„Wie, meinst du ‚die Welt verbessern’?“
„Nicht gleich die ganze Welt. Nur das kleine Stück um dich rum.“
Für einen Augenblick lagen sie schweigend und eng umschlungen in dem schmalen Einzelbett, dann lachten beide in der Dunkelheit vor Sonnenaufgang leise vor sich hin. „Ich kann es nicht fassen, dass ich das gesagt habe“, stöhnte sie. „Klingt ganz schön abgedroschen, was?“

Emma und Dexter verbringen die Nacht nach ihrem Studienabschluss miteinander, haben nur so halb Sex, und gehen am nächsten Tag in verschiedene Richtungen los, ihr Leben leben. Aber sie halten Kontakt, über Jahre und Jahre, werden Freunde, gehen sich auf die Nerven, verlieren sich fast aus den Augen, klammern sich wieder aneinander fest, erzählen einander ihren Kummer, haben andere Partner, suchen ihren Platz im Leben und werden erwachsen. Wir begleiten sie von 1988 bis 2007 und erleben jeweils ihren 15. Juli mit.

Schöne Idee, sehr schön umgesetzt. Mittendrin sind mir die beiden zwar fürchterlich auf die Nerven gegangen, ich habe schon kurz überlegt, es trotz anfänglichen Entzückens beiseite zu legen, aber dann ging mir auf, dass sie sich ja auch gerade selbst und einander auf die Nerven gehen, in sofern hat das hervorragend gepasst. Und es hört auch wieder auf. Besonders überzeugend fand ich die Dialoge (auch schön übersetzt, heißt das) – die Stimmung, die zwischen Emma und Dexter in den Dialogen entsteht, ist eine ganz besondere, an die keine andere Zweierpaarung des Buches herankommt. Wüsste der Leser nicht sowieso, dass die beiden eigentlich für einander bestimmt sind, würde er es spätestens daran merken.

Ein Buch zum Reinplumpsen, zum sich Festlesen, für den Strand oder krank im Bett, es fordert das Hirn nicht übermäßig, was aber überhaupt nicht heißt, dass es doof wäre, im Gegenteil. Und witzig ist es auch, sehr schön englischer Humor. Ein richtiges „Hach!“-Buch.

Zwischendrin sind jeweils zum Beginn der großen Oberkapitel Zitate aus Klassikern eingefügt, und hinten werden diese Zitate „nachgewiesen“, teilweise ohne Übersetzernennung. „Abdruck der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags gna“. Hallo? Mannmannmann.

Michael Köhlmeier: Idylle mit ertrinkendem Hund

8. January 2010 | von Isa

Das Buch beginnt so:
Nur drei meiner Bücher hat Dr. Beer lektoriert. Die Arbeit am vierten brach er ab – wie er mir in einem handgeschriebenen Brief mitteilte, „nach gesundheitlichen Erwägungen“. Ich weiß es besser. Er schämte sich vor mir – wegen der Ereignisse, die während unserer letzten gemeinsamen Arbeit vorgefallen waren: die Geschichte mit dem Hund. Kann sein, dass es ihm nicht recht ist, wenn ich diese Geschichte hier erzähle. Aber: Er war nicht nur mein Lektor, sondern auch mein Lehrer, und er hatte stets betont, Literatur, die auf irgendetwas oder irgendjemanden Rücksicht nehme, sei nichts wert.

Der Lektor ist überhaupt ein kluger Mann, scheint’s. Er besucht den Autor bei sich zu Hause, um gemeinsam am aktuellen Buch arbeiten zu können; ein Novum, sonst hat man sich immer im Verlag getroffen. Jetzt reist der Lektor also an und wird ein paar Tage bleiben.
Wenn Autoren über Autoren schreiben, bin ich immer erstmal ungehalten. In diesem Fall ist das aber etwas anderes, denn das ist gar kein Roman, wie ich dachte. Oder höchstens so halb. Ob es den Lektor wirklich gibt und die Geschichte mit dem Hund wirklich passiert ist: keine Ahnung. Aber der Schriftsteller in diesem Buch ist Köhlmeier selbst; seine Frau heißt, wie seine Frau wirklich heißt, ebenso die vier erwachsenen Kinder. Seine Tochter Paula ist mit 21 Jahren bei einer Bergwanderung tödlich verunglückt, und das wird in diesem Buch mit verarbeitet. Aber nicht nur, wie der Klappentext glauben macht. Es geht ebenso um das Verhältnis zwischen Autor und Lektor, und das auf hohem Niveau. Der Klappentext (und das, was überall steht) ist überhaupt doof, denn der Spaziergang, der dort verkündet wird, beginnt auf Seite 90 von 110. Das will man doch gar nicht vorher wissen. Und was dann noch im Klappentext steht, ist schon Interpretation, nicht neugierigmachender inhaltlicher Teaser. Ich finde so was ärgerlich. Also: Klappentext nicht lesen, Buch aber sehr wohl lesen.
Denn auch wenn ich mir das Ende irgendwie noch ein bisschen intensiver gewünscht hätte, ist das sicher eines der besten Bücher der letzten Jahre. Es hat das, was ich den Rhythmus von Prosa nenne, also keinen Beat wie Lyrik, sondern ein unterschwelliges Rauschen, wie ein Fluss oder so etwas, ein Treiben, das einen reinzieht und mitnimmt; schwer zu benennen und zu packen, aber unverkennbar da. Ein Sog. Und dann sind auch noch so viele kluge Gedanken drin. Und so schöne Bilder. Lesen!