Archiv für January 2010

Finn-Ole Heinrich: Räuberhände

6. January 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Meine Eltern lieben Samuel. Und er liebt sie. Wenn Samuel mich nervt, nenne ich ihn manchmal Adoptivkind, das ist sozusagen sein wunder Punkt. Seit Samuel und ich in einer Klasse sind, sind wir befreundet. Fast sieben Jahre jetzt. Und seitdem schläft Samuel fast jede Nacht bei uns. Er hat schon lange ein eigenes Bett in meinem Zimmer. Meine Eltern haben es ihm geschenkt. Natürlich haben sie mich vorher gefragt, ob das in Ordnung für mich ist, sie würden so etwas niemals über meinen Kopf hinweg entscheiden. Aber es ist nicht so, dass ich etwas dagegen hätte. Ich bin nicht eifersüchtig. Samuel ist mein bester Freund und wenn meine Eltern mich nicht gefragt hätten, hätte ich sie wahrscheinlich gefragt.

Die perfekten Eltern des Erzählers haben also mal wieder alles richtig gemacht. Grauenhaft, wie sie immer alles richtig machen, man kann sie nicht hassen, man kann sich von nichts abheben, gegen nichts rebellieren. Samuels Eltern hingegen sind eher das Gegenteil von perfekt, die Mutter ist Alkoholikerin und nur deswegen nicht obdachlos, weil sie Samuel hat, und einen Vater gab es nie. Die Mutter hat irgendwann behauptet, er sei Türke, und seitdem bildet Samuel sich ein, Halbtürke zu sein und sein Glück in der Türkei finden zu müssen. Und so brechen die beiden Freunde nach dem Abitur auf, um in Istanbul „irgendwas“ zu machen, einen Laden aufmachen oder so. Obwohl neuerdings etwas zwischen ihnen steht, von dem sie beide nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Es ist eine Geschichte von Freundschaft und vom Erwachsenwerden, vom Abnabeln, von der Sehnsucht nach Kaputtheit und der nach etwas Heilem und von der Suche nach sich selbst. Und vielleicht auch die Geschichte von etwas Uneingestandenem. Sehr schön. Ich mag sehr, dass nicht alles geklärt wird, dass man sich am Ende immer noch fragt … sag ich nicht. Und so schön unprätentiös erzählt.

Mehr dazu (Trailer, Leseprobe etc) gibts bei Mairisch, wo man das Buch auch gleich bestellen kann.

David Lodge, Deaf Sentence

2. January 2010 | von Kaltmamsell

Ich bin mir ganz sicher, dass David Lodge mit diesem Titel On His Deafness für seinen Roman Deaf Sentence gespielt hat – John Miltons “On His Blindness” ist für einen Literaturwissenschaftler, wie er einer ist, die unvermeidliche Assoziation.* Doch er entschied sich für das Spiel mit dem Wort deaf, das er, im Gegensatz zur Milton-Anspielung, durch den ganzen Roman ziehen kann (z.B. deaf on arrival, deaf in the afternoon, und den Lippenlesekurs nennt er deaf row). Die Übersetzerin ins Deutsche, Renate Orth-Guttmann, wird ihre Mühe gehabt haben; der deutsche Titel Wie bitte? ist ein Indiz.

Hauptfigur des Romans ist Desmond Bates, ein Linguistikprofessor jenseits der 60 im Norden Englands. Hauptthema ist seine Schwerhörigkeit, zu Herzen gehend und in vielen Details geschildert. Sie bildet den Hintergrund für die Handlung um den frühpensionierten Desmond, seine beruflich erfolgreiche Frau Winifred, Desmonds ebenfalls schwerhörigen und langsam pflegebedürftigen Vater in London, um die zwielichtige amerikanische Doktorandin Alex. Die äußere Form ist die eines Journals, das Desmond in seinen Rechner tippt, inklusive der Schreibpausen, die sich durch überstürzende Ereignisse ergeben.

Schon mit Anfang 40 wurde Desmonds Hörkraft immer schwächer und beeinflusste jeden Bereich seines Lebens. Die Ausführlichkeit, mit der die Geschichte uns in diese Details mitnimmt, hat mir zum ersten Mal eine Ahnung davon vermittelt, was das bedeutet. Aus allem aber spricht David Lodges typischer warmer Blick für die inhärente Komik: “Deafness is comic, blindness is tragic.” Die Kundigkeit der Schilderung ist nicht nur Ergebnis von Recherche; in den “Acknowledgements” schreibt Lodge: “The narrator‘s deafness and his Dad have their sources in my own experience.”

Manchmal wird die Komik zu bitterem Lachen: Es gibt einfach fast keine Interaktion, die nicht von Desmonds Schwerhörigkeit betroffen ist. Eingangs schildert er eine Unterhaltung zwischen sich und seiner Frau in der knappen Form, die wir aus Romanen gewohnt sind. Doch dann notiert er, wie dieses Gespräch tatsächlich verlaufen ist, nämlich an jeder Stelle durchsetzt von “What?”, Verhörern, Wiederholungen. Schon da wird klar, wie anstrengend jede Art mündlicher Konversation für einen Schwerhörigen ist. Oder die Frustration, am 2. Weihnachtsfeiertag festzustellen, dass die Ersatzbatterien fürs Hörgerät die falsche Größe haben und natürlich alle Kaufmöglichkeiten geschlossen sind. Interessanterweise taucht trotz einiger Sexszenen die Auswirkung von Schwerhörigkeit auf die Details im Bett nicht auf. Diese kenne ich aus Notquitelikebeethovens Beschreibung.

Deaf Sentence ist dennoch keineswegs ein Roman über Schwerhörigkeit, sie bildet lediglich einen intensiven Hintergrund. Die Geschichte erzählt Familienverwicklungen, Universitätsalltag, das Liebesleben nicht mehr junger Menschen, viel England. Und das mit David Lodges sprachlicher Leichtigkeit, die ich schon immer sehr schätzte.

*Nachtrag: Ich hätte vielleicht erst mal “On his Deafness” gogglen sollen. Das gibt es natürlich schon, und zwar seit 1734, nämlich als Gedicht von Jonathan Swift.

Fast bis auf den Mir Samir

2. January 2010 | von Modeste

Eric Newby, Ein Spaziergang im Hindukusch

Zu den charmanten Seiten von Engländern gehört der Sinn für nutzlose Dinge und Tätigkeiten. Wo die Deutschen, hat man den Eindruck, vom Reisen eine Art Ertrag erwarten, in Form von Bildung beispielsweise, in Bräune oder aber in der schwer fassbaren Münze der Spiritualität, reicht es den Briten (zumindest ihrem schreibenden Teil) offenbar, unterwegs gewesen zu sein, dort Erfahrungen gemacht zu haben, die ihnen daheim entgangen wären, und auf diesem Unterschied, nehme ich an, beruht der immense Qualitätsvorsprung der englischsprachigen Reiseliteratur vor der deutschen. Zwar gibt es auch in deutscher Sprache angenehme Ausnahmen. So hoch allerdings wie die zu recht sehr berühmte Schilderung einer Reise durch den Hindukusch von Eric Newby ragen aber auch die deutschen Spitzen selten, und dass ich nicht auf der Stelle aufgebrochen bin, gleichfalls ohne jede Kenntnis des Bergsteigens in Zentralasien den Mir Samir, einen sechstausend Meter hohen Berg, zu erklimmen, lag einzig an der derzeit etwas unruhigen Lage vor Ort und an meinem Job.

Indes ist die politische Lage in Afghanistan offenbar schon immer etwas prekärer, und auch Newby war vor seiner 1956 keineswegs berufslos. Das Telegramm an seinen Mitreisenden Hugh Carless mit dem Wortlaut „CAN YOU TRAVEL NURISTAN JUNE“ beendete vielmehr eine zehnjährige Karriere in einem Londoner Modesalon, in dem Newby als eine Art Werbefachmann tätig war, und man würde wünschen, mehr von dieser sehr, sehr amüsanten Welt zu hören, wenn nicht die anschließenden Schilderungen eines kurzen Trainings der Kunst des Bergsteigens in Wales (!) und die sodann erfolgte Abreise über Istanbul Richtung Afghanistan nicht noch kurzweiliger wäre.

Natürlich klappt nichts. Schon auf der Hinfahrt wird ein Beduine überfahren. Das Wasser ist verkeimt. Das Essen schlecht. Newby und Carless haben die ganze Zeit Durchfall, und mangels Alternativen liest Newby immer wieder “Der Hund von Baskerville”. Es ist zudem wahnsinnig kalt, die Schuhe der Reisenden erweisen sich als ziemlich ungeeignet für die extremen Gegebenheiten vor Ort, und die Bewohner des Hindukusch lieben, schildert Newby, Reisende nicht. Nicht einmal die angeheuerten Führer machen einen auch nur halbwegs vertrauenswürdigen Eindruck, und dass die beiden Reisenden heil aus dem Land wieder herausgekommen sind, wirkt eher wie ein Zufall. Dabei gibt es durchaus Abstufungen des Unangenehmen zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme vor Ort, die teilweise schon immer sehr, teilweise aber erst seit einer Generation ein bisschen muslimisch sind, aber zumindest latent gewalttätig wirken fast alle.

Einige Exkurse über die Geschichte des Landes, die verschiedenen Stämme und Sprachen sind, wenn auch weniger raumgreifend, der Vorgehensweise des ohnehin stets sehr präsenten Robert Byron ähnlich, nicht ungeschickt eingeflochten. Kaum jemals doziert Newby, stets kehrt er nach kurzen Schleifen zurück zur Reisegruppe, die eine beachtliche Strecke durchquert, wie die eingeheftete Karte ausweist. Menschen, die sich mehr als ich für die Natur in exotischen Ländern interessieren, kommen vermutlich auch auf ihre Kosten, und dass die Besteigung des Mir Samir einige hundert Meter unter dem Gipfel scheitert, bildet eine reizende Arabeske der Sinnlosigkeit, die Newby indes kaum zu erstaunen und auch nicht besonders zu enttäuschen scheint.

Zu guter Letzt: Die deutsche Übersetzung von Matthias Fienbork ist gelungen. Der Umschlag der “Anderen Bibliothek” dagegen außerordentlich lieblos und scheußlich.