Archiv für die Rubrik ‘vor 1945’

Wiedergelesen: Hermann Hesses “Demian”

2. March 2011 | von Anselm Neft

Als ich „Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend“ zum ersten Mal las, muss ich siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen sein. Das Buch gefiel mir. Eingestandenermaßen fand ich mich in dem überlegenen, non-konformistischen Außen- seiter Demian wieder. Unein- gestandenermaßen in dem verklemmten, naiven Bürgersohn Emil. Mir gefiel das okkulte Geraune, die Suche nach dem eigenen Wesenskern und die Idee, dass Licht und Finsternis zu einer Ganzheit versöhnt werden wollen. Trotzdem erschien mir auch irgendetwas an der Novelle zwielichtig, ohne dass ich genau hätte sagen können, was.

Vor ein paar Wochen habe ich den Demian noch einmal gelesen. Vermutlich ging es mir darum, das Hesse-Bashing in meinem Umfeld nicht einfach nach zu plappern, sondern mir anhand zumindest eines Werkes eine eigene Meinung zu bilden. Um das nicht gerade spannende und der eigenen, insgeheim angestrebten Profilierung (Ha, Hesse ist besser als alle sagen, und ich hab’s rausgefunden!) wenig dienliche Ergebnis vorweg zu nehmen: Hesse schreibt wirklich schlecht. Ich habe mich während der Lektüre mehrfach intensiv geschämt: Für Hesse, für mich, für Erwachsene, die Hesse als Lieblingsautor nennen.

Hesse hat „Demian“ im Herbst 1917 als Vierzigjähriger innerhalb von drei Wochen geschrieben. Er benutzte das Pseudonym Emil Sinclair, unter anderem, da er den jugendlichen Stoff unter einem frischen Namen präsentieren wollte. Hermann Hesse galt schon als etabliert.

Im Sinne der vedantisch-hinduistischen Verkündigung ”tat tvam asi” (Hesse neigt hier vermutlich am ehesten der Vishihtadvaita-Interpretation zu) sind alle Personen denen der Icherzähler begegnet zugleich Teile seines Selbst. Die Einzelseele ist die Weltseele, und nur in der Verblendung existiert eine Trennung, vergleichbar mit derjenigen von Eiswürfeln in einem Glas mit Wasser, die ihrer Substanz nach auch nichts als Wasser sind. Trifft Emil also den skrupellosen Kleinkriminellen Kromer, dann trifft er zugleich das „Böse“ in sich. Trifft er auf Demian, so trifft er seinen eigenen inneren Führer. Trifft er auf dessen Mutter Eva, so hat ihn seine jungsche Anima am Wickel.

Um das Ganze noch etwas zu verkomplizieren, gibt es auch noch eine Proto-Anima namens Beatrice (Dante winkt erhaben aus der Ferne) und einen zweiten Psychopompos namens Pistorius. Und am Ende wird es dann vollends mystisch und zugleich multi-erotisch , wenn der im ersten Weltkrieg sterbende Demian dem Ich-Erzähler einen Kuss von Eva aufdrückt.

Wer nun vermutet, dass alle Charaktere außer Emil eindimensional und ohne Entwicklung präsentiert werden, liegt ebenso richtig, wie diejenige, die mutmaßt, dass sich die Novelle konstruiert und obendrein unangenehm autobiographisch liest. Zu diesen erzählerischen Schwächen gesellt sich eine Sprache, die oft Großes und Tiefes behauptet und selten etwas wirklich zeigt und nachvollziehbar macht. Hesses Stil ist geschwätzig, pastoral und neigt zum Sentimentalen. Eine typische Passage: „Ich sah Heimat und Elternhaus, Vater und Mutter, Schwestern und Garten, ich sah mein stilles, heimatliches Schlafzimmer, sah die Schule und den Marktplatz, sah Demian und die Konfirmationsstunden – und alles dies war licht, alles war von Glanz umflossen, alles war wunderbar, göttlich und rein, und alles, alles das hatte – so wusste ich jetzt – noch gestern, noch vor Stunden, mir gehört, auf mich gewartet und war jetzt, erst jetzt in dieser Stunde, versunken und verflucht, gehörte mir nicht mehr, stieß mich aus, sah mit Ekel auf mich! Alles Liebe und Innige, was ich je bis in fernste, goldenste Kindheitsgärten zurück von meinen Eltern erfahren hatte, jeder Kuß der Mutter, jede Weihnacht, jeder fromme, helle Sonntagmorgen daheim, jede Blume im Garten – alles war verwüstet, alles hatte ich mit Füßen getreten!“

Ob ein solcher Stil schon damals wie das Reden eines engagierten, aber nicht sonderlich schlauen Gemeindepfarrers wirkte, oder erst durch die spätere Aneignung eben solcher Gemeindepfarrer in jenen Ruf gekommen ist, weiß ich nicht zu entwirren, möchte aber darauf verweisen, dass Thomas Mann den Demian als Buch von „elektrisierender Wirkung“ lobte, das „mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf“. Es kann vermutet werden, dass „Demian“ in Thema, Erzählstruktur und Stil in seiner Zeit frischer, vielleicht sogar experimentell wirkte.

Trotz der genannten Unerfreulichkeiten kommen Hesse mit Demian auch Verdienste zu: Es wird der Zeitgeist einer Sinnsuche eingefangen: Die Selbsterforschungen der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie als neue Heilsversprechen, importierte Versatzstücke aus Buddhismus und Hinduismus, Ausflüge in eine nur halb verstandene Gnosis, probeweises Aussteigertum am Monte Verità, die Ahnung einer großen Umwälzung, der Vorabend des ersten Weltkriegs, die Götterdämmerung des Bürgertums.

Auch werden existenzielle Fragen behandelt. In welchem Verhältnis stehen Konvention und Moral? Moral und Glück? Glück und Selbstverwirklichung? Wie soll sich der Mensch zum Problem des Bösen positionieren? Auf welche verschlungenen Pfade der Erkenntnis oder Verirrung führt uns unsere Sexualität, die beim Menschen immer mehr ist, als reiner Trieb, nämlich auch ein Schlachtfeld zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und den Bedürfnissen des Individuums? Und was ist überhaupt ein Individuum? Gibt es ein wahres, authentisches Selbst, oder handelt es sich dabei um ein ständig in der Konstruktion befindliches Gebilde aus Worten, Gedanken, Taten, Fremd- und Selbstzuschreibungen? Und wenn es dieses wahre Selbst gibt, das schließlich alle Gegensätze in sich vereint, was ist daran noch individuell? Ist es dann nicht längst zu einem Nicht-Ich geworden, zu Wasser, in dem nur die unerlösten, verblendeten Egos noch markant und unterscheidbar als Eiswürfel prangen?

Das sind interessante Fragen, und Hesse erscheint als aufrichtig Suchender, der eigene Erfahrungen verarbeitet. Das Problem sind die Antworten. Sie kommen zu schnell, zu oberflächlich, zu absolut. Sie klingen zu harmoniebedürftig, zu sehr nach Wunschdenken und Esoterik-Workshop. In der Pubertät und ihren Nachwehen mag einem Hesses Demian das Gefühl geben, verstanden zu werden: Die Zerrissenheit, die Suche nach einer dauerhaft tragfähigen Identität, das Misstrauen gegen das Althergebrachte, die Hoffnung auf eine Überwindung aller Gegensätze, gerade im Gebiet der verwirrenden und von Ambivalenzen durchzogenen Sexualität. So ist es zumindest mir gegangen, und Abraxas – der Gott, der gut und böse ist – blieb mir als durchaus sympathische Wesenheit in Erinnerung. In meiner heutigen Sicht hingegen erscheint mir Hesse mit seinem Demian in einer solchen Pubertät weitgehend steckengeblieben.

Johannes Freumbichler: Philomena Ellenhub.

31. May 2010 | von Anselm Neft

CIMG1054So, wie es seelentötenden Volksschlager und herzerfrischende Volksmusik gibt, so finden sich neben abgeschmackten Heimat-romanen auch kraftstrotzende.  ”Philomena Ellenhub” reiht sich unter die letztgenannten. Der   1937 erschienene „Salzburger Bauernroman“ wurde zwar vor Drucklegung vom Zsolnay-Verlag  behutsam von über 1000 auf etwa 500 Seiten gekürzt, verströmt aber immer noch eine Gemächlichkeit, die effizienzoptimierende Lebenszeitnutzer auf eine harte Probe stellt. Das ahnen Leserin wie Leser bereits beim Eröffnungssatz: „Die Landschaft, worin unsere Erzählung wurzelt, bildet ein Tal, flankiert von Wäldern, fast noch so dicht wie in den Zeiten, wo Hirsch und Eber darin hausten, und von Höhen bis über tausend Meter; doch weil das Gebirge dahinter Felsen aufweist, bis zu zwei- und dreitausend, nennt man es das „Flachland“.  Hier wächst die Protagonistin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heran. Zu Beginn des Romans ist Philomena aus dem stolzen Bauerngeschlecht der Ellenhuber zwölf Jahre alt. Die Eltern sterben und sie und ihre Geschwister werden auf unterschiedliche  Höfe und Handwerksbetriebe verteilt. Mena arbeitet sich beim protzigen Haginghofer und der strengen Haginghoferin vom „Kleinmensch“ zur „Kleindirn“ herauf.  Sie muss sich gegen Gehässigkeiten und Zudringlichkeiten erwehren, findet unter dem Gesinde Freunde, empfängt nachts am Fenster ihres Zimmers Liebhaber, bekommt ein Kind, muss es als Unverheiratete zur „Kinderkathl“ geben und sich nach einer neuen Stelle umsehen. Erst arbeitet sie beim schrulligen Ehepaar Kröll, dann beim gewitzten „Butterkönig“.

Gen Ende des Buches und vielleicht in der Mitte ihres Lebens kommt Mena zu der Einsicht, dass es „vernünftiger war, weniger am Leben teilzunehmen und es mehr zu beschauen.“ Bis dahin hat sie in der kleinen, abgeschlossenen Welt des Dorfes genug erlebt, um sich viele existenzielle Fragen zu stellen: Sie verliert ihr Kind, ihren Großvater und einige Geschwister an Krankheiten und Krieg. Ihr Geliebter, der Wilderer Toni, verendet an einer Schusswunde in ihrem gar nicht mal kitschigen Beisein. Der Ellenhuber Hof wird versteigert, ein Brand vernichtet große Teile des Dorfes, ein Ausflug nach Wien erweist sich als Ernüchterung: hier sind die Armen viel elender als die Armen im Dorf.

Bei all diesen Krisen bleibt Menas Leben erfüllt von Lebenslust und Vertrauen in einen guten Urgrund aller Dinge. Mena wird als starke Frau gezeichnet, die früh Verantwortung für sich und andere übernimmt, viel nachdenkt und versucht aus Fehlern zu lernen. Die Feste feiert sie, wie sie fallen, und dafür gibt es genug Gelegenheiten: Hochzeiten mit ausufernden Singspielen (das Buch führt etliche Liedtexte, teils in Mundart auf), kirmesartige Vergnügungen, Wiedersehen mit den Geschwistern oder den Wettlauf der Siebziger, in dem ihr geliebter Großvater die anderen Alten des Dorfes besiegt. Dieses Wettlauf-Kapitel zählt zu den vielen eindrücklichen Episoden des Romans. Eine anderes großartiges Kapitel lautet „die Versammlung“ und beschreibt eine politische Debatte in einem Gasthaus am Vorabend der Revolution von 1848. Revolutionäre, Reformer und Konservative liefern sich unter den Zwischenrufen der Bauern und Krämer ein Wortgefecht, das gleichzeitig lebensecht und exemplarisch wirkt und an literarische Großtaten wie Zolas „Germinal“ erinnert. In der Beschreibung des einfachen, harten und doch lustvollen Landlebens zeigen sich bei Freumbichler Parallelen zu Knud Hamsuns „Segen der Erde“. Allerdings ist es kein Wunder, dass Zola und Hamsun bekannter sind als Freumbichler. Zwischen die erstklassigen Passagen mogeln sich immer wieder weitschweifige, verzückte Naturbeschreibungen und betuliche Betrachtungen über Gott und den Lauf der Welt, die entweder Philomena in den Kopf gedichtet, anderen Figuren in den Mund gelegt oder gleich vom allwissenden Erzähler altväterlich zum Besten gegeben werden: „Es gibt keine andere Rettung: du selbst in dir selber, das ist das höchste Geheimnis und eine Kraft ohnegleichen. So geht auch, meines Erachtens, in tief verworrenen Zeiten ein Volk zum Bauerntum zurück, weil es instinktiv fühlt, dass hier der Weg führt zur wahren Weisheit. Ein Hauptstück dieser Weisheit liegt im Gesetz der Sonderung, das, wie alle großen Gesetze, göttlicher Natur ist. Diese Sonderung heißt: Arbeit und Genuss, Ruhe und Bewegung, Werktag und Feiertag, Jugend und Alter, Mann und Weib, Krieg und Frieden.“

Wer nun in Freumbichlers Roman eine beizeiten herzhaft-reaktionäre Sichtweise vermutet, liegt richtig. Die Unterschiede der Stände und der Geschlechter werden zwar nicht durchgängig als naturgegeben wahrgenommen, aber für Freumbichler waltet in allem ein gerechter Weltgeist, der jedem Menschen gleichermaßen Freude und Leid zuteilt, ganz unabhängig von Schicht, Einkommen und Geschlecht. Ein wichtiges Instrument dieses Weltgeistes ist „die Majestät des Todes. Sie war gerecht und traf jeden ohne Unterschied, den Reichsten wie den Ärmsten; sie war mitleidlos, Mitleid verträgt sich nicht mit Gerechtigkeit.“

Die Größe des Romans liegt darin, dass Freumbichler vor allem die Kleinen und Schwachen zu Wort kommen lässt und ihre Sichtweisen ernst nimmt: Kinder, Außenseiter des Dorfes wie den religiösen Halbnarren „Die Ewig-Gerechtigkeit“, das Atheisten-Kind „Schinder-Pelei“, den verarmten Kunstmaler Peregrin, den gesetzlosen Wilderer Toni, die zwielichtigen Brüder „die drei heiligen Schneider“ und natürlich vor allem seine weibliche Hauptfigur, die sehr liebevoll dargestellte Philomena Ellenhub.

Johannes Freumbichler, 1881 in Henndorf geboren, hat in seinen Ausführungen genau dieses österreichische Kaff vor Augen. Als lebenslang erfolgloser und im Ort belächelter Schriftsteller hätte er über die engstirnige Welt der Bauern und kleinen Kaufleute, der Frömmler und selbstherrlichen Gutsbesitzer Gift und Galle spucken können. Tatsächlich lässt er den Kunstmaler einmal über die Dorfbewohner sagen: „Tiere, die von der Macht des Geistes keine Ahnung haben! Aufrecht gehende, dressierte Tiere.“ Genau dieser Maler gibt jedoch sein Leben in einer bizarren Opferung, die das Dorf vor dem weiteren Wüten eines Brandes bewahren soll.

Thomas Bernhard notiert über Freumbichler, seinen Großvater, der sein ganzes Leben dem Schreiben unterordnete, in der autobiographischen Erzählung „Die Ursache“: „Alle meine Kenntnisse sind zurückzuführen auf diesen für mich in allem lebens- und existenzentscheidenden Menschen.”  Immer wieder trug sich Bernhard mit der Idee, Freumbichlers Roman, der 1937 den Förderpreis zum Großen Österreichischen Staatspreises und somit immerhin etwas Aufmerksamkeit gewann, erneut heraus zu bringen. Allerdings konnte er sich nie dazu durchringen.

Ignatz Hennetmair, ein Freund von Thomas Bernhard, zitiert den Schriftsteller in seinem Tagebuch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ mit den Worten: „Beim Weiterlesen habe ich schwache Stellen entdeckt. Alles ist viel zu schön, viel zu schön geschildert. Alles, was ich als scheußlich empfinde, findet mein Großvater schön”.

Proust lesen und scheitern

8. February 2010 | von engl

Combray / (1. Teil von) Du côté de chez Swann, Marcel Proust / (Neuübersetzung von) Michael Kleeberg

proust_combrayEs gibt Bücher, an denen man scheitert. Es gibt sogar solche, denen man in Vorfeld schon ansieht, dass man an ihnen scheitern wird. Diese Bücher nehme ich vorsichtshalber gar nicht erst in die Hand. Deshalb gehöre ich zu den zweifellos vielen Menschen, die Proust bislang nicht angefasst haben. Geschweige denn gelesen. Und ich werde es in diesem Leben vermutlich auch nicht mehr tun.

Weil ein solches Scheitern als Leser jedoch im Grunde nicht zu verantworten ist, erwischte ich mich vor Jahren schon dabei, wie ich zumindest die so genannte „Ouvertüre zu Prousts Jahrhundertroman“ käuflich erwarb. Combray, knapp 300 Seiten stark. Ein Klacks also.

Dennoch stand das „Büchlein” jahrelang ungelesen bei mir herum. Es wanderte vom Stapel der bald zu lesenden nahtlos hinüber auf das Regalbrett der irgendwann auf jeden Fall mal zu lesenden wichtigen Werke. Bis es schließlich sorgfältig ins Endgültigenflurregal eingeordnet wurde, wo es seither einen rechtmäßig erworbenen Platz auf einer Ebene mit Musils Mann ohne Eigenschaften und Nietzsches Gesamtwerk behauptet. Die alle tun bei mir so, als seien sie tatsächlich gelesen worden. Ein Werdegang, der bei Proust vermutlich nicht selten anzutreffen ist.

Jetzt habe ich mich doch endlich getraut. Und bin gescheitert. Natürlich. Dieses Handlungsnichts, alles ist Beschreibung und Sprache. Das ermüdet ungemein. Vor allem, weil ich es nicht kenne, dieses Zimmer, dieses Haus, den Ort und die Kirche. Ich erkenne nichts wieder, auch die Menschen nicht. Die Großeltern und Eltern, Swann und François. Der Junge selbst. Ich frage mich, ob es an mir liegt. Ob das alles nicht universell sein müsste. Universell sein sollte, auch in mir.

Es hilft nichts, ich bin auf der Suche, nach Geschehen, nach Gefühlen. Die auch da sind, immer wieder einmal. Das stimmt. Die Qual des Jungen, Nacht für Nacht. Wie er leidet und wartet. 70 Seiten lang. Nun ja. Es gibt schlimmeres, denke ich. Obwohl ich doch weiß, dass das Schlimme immer relativ ist.

Bezaubernd hingegen die aufgezeigten Mechanismen der Erinnerung. Das ist gut, das kenne ich. Wie den Geschmack dieser kleinen, länglichen Billiglutscher, zuckerummantelt, zu kaufen in durchsichtigen Plastiktüten, ein bunt gemischtes Zehnerpack, oben mit einem großen Pappschild zugetackert. Die gab es immer bei meiner Oma in Karnap. Du liebe Zeit, das ist gut 40 Jahre her. Doch jetzt, in diesem Moment, kommt es mir vor wie gestern. Was rede ich? Wie jetzt natürlich.

Das ist wohl die Erkenntnis, die ich aus diesem Buch ziehen sollte. Dass ich alt geworden bin. Alt genug, mich zu erinnern. Auf diese Art zu erinnern. Die Dinge, die Wege, das Licht. Der Geschmack, damals wie heute. Und dass ich mich nicht verändert habe, obwohl ich heute ganz anders bin. Dem Hirn ist Zeit nur eine Illusion.

Bleibt zuletzt noch die Frage, ob für das Erfassen solcher Momente nicht auch Lyrik ganz hervorragend geeignet wäre. Kurz und knapp. Und sicherlich ausreichend. Mehr kann ich zu diesem Buch nicht sagen. Selbst eine Zusammenfassung der Handlung bleibe ich schuldig, ich müsste sie anderswo abschreiben.

Der Übersetzer hingegen hat eine ganz andere Sicht gewonnen. Selbstverständlich, denn er wird Proust gelesen haben, mehr als nur das. Verinnerlicht vielleicht, verschlungen. So in etwa stelle ich mir das vor. „Wer Combray liest scheint plötzlich sehr viel mehr Augen zu haben, mehr Tastorgane, Schmeckorgane … “, sagt Michael Kleeberg. „ Proust, – das sind die Ekstasen der reinen Anschauung.“

Ja. Kann sein. Vielleicht. Ich kann es nicht sagen, ich bin gescheitert.

Vergiftet mit ihren Tränen

16. January 2010 | von Modeste

Eduard von Keyserling, Dumala, (1908)

Einsam ist man in den Weiten des Ostens, in dem das alte, feudale Europa müde in verblassten Tapisserien friert, kraftlos wie der gelähmte Baron Werland in seinem Schloss Dumala, in dem ganze Flügel leer stehen, und die Mäuse hinter der Wand dem Ende dieser Welt entgegen nagen. Mit dem Baron friert seine schöne Frau Karola, sitzt des Abends neben ihm am Feuteuil und streichelt des Barons schmerzende Beine. Langsam, quälend langsam vergeht die Zeit. Nichts dringt von außen in diese abgeschiedene Welt, die Moderne ist woanders, die weit, weit weg aufbricht, wenige Jahren und einen ersten Weltkrieg später diese mürbe Welt zu begraben.

Die unerfüllte Sinnlichkeit der Baronin stellt Keyerlingk fast greifbar in den Raum. Wie sich die farbigen Flecken der Impressionisten verbinden zu einer Vision von Duft und Wärme sehen wir der Baronin Werland zu, wie sie ein wenig, kaum spürbar, aber gerade genug für diese arme Seele mit dem Sekretär Pichwitt kokettiert und den Pastor des Ortes, Erwin Werner, aus den Selbstverst��ndlichkeiten seines Lebens, seinem kleinen, wohlgeordneten Glück, herauswickelt, allein mit Worten, Gesten, ohne dass irgendetwas zwischen beiden geschieht. Für diese Frau wird Werner um ein Haar morden.

Lange, lange aber geschieht nicht viel. Der Pastor Werner entgleitet langsam seiner Frau, seinem Amt und sich selbst, und aus der Mitte seiner Seele schält sich eine Vitalität heraus, die der Liebe täuschend ähnlich sieht, und doch zeigt uns Keyserling nur ihre enge, kleinliche, verknotete Seite, und wir verachten den Pastor ein wenig für die fast scheinheilige Beschränkung seiner selbst. Niemals griffe er über die Grenzen der konzentrischen Kreise dieser fest gefügten Gesellschaft hinaus, und niemals erwiderte die Baronin diesen Griff. Der alte Baron wird diese Wahrheit aussprechen, an die in diesem ostpreußischen oder baltischen  Dorfe noch jeder glaubt.

Gerade, rein und hart kann Werner daher nur hassen, und so hasst er, als ein adeliger Liebhaber sich die Baronin nimmt, hasst ebenso wie der Sekretär, aber weil er stärker und aktiver ist als jener, stellt er dem anderen eine Falle auf Leben und Tod, und schreckt erst im letzten Moment zurück. Am Ende wird er im Wirtshaus sitzen mit dem Liebhaber, beide wissen beim Sekt um den beinahe vollzogenen Mord, aber für die Konsequenzen einer so ungeheuerlichen Eröffnung reicht keines Kontrahenten Vitalität noch aus, und so bleibt es bei einem leisen, höflichen, unendlich verächtlichen Händedruck.

Eines Tages aber geht die Baronin mit dem anderen auf und davon. Der alte Baron  stirbt wohlfrisiert bis zum Tode, und als zur Beerdigung die Baronin Karola zurückkommt, um allein, nach nur angedeutet unglücklichem Verlauf der Affäre, im Schloss ganz für sich zu Ende zu leben, verlassen wir den Pastor Werner im tiefen Winter, wie er am Schlosse in weitem Abstand vorbeifährt,  die Baronin grüßt, und sehen ihm nach auf dem Heimweg ins Pfarrhaus, reiben uns die vor Kälte dieses unendlich traurigem Kammerspiels schmerzenden Hände, reißen uns aus der perfekten Illusion einer perfekt komponierten, überaus feingezeichneten Welt und beneiden diesen fallenden, schwächlichen Adel ein wenig um die Güte und die Meisterschaft, die Nachsicht und die streichelnde Freundlichkeit, mit der Keyserling jene zeichnet, und die niemand später einmal aufbringen wird für unser Ende und das unserer Welt.

Die Liebe, die passiert

3. October 2009 | von Modeste

Ernö Szep, Die Liebe am Nachmittag

Man kennt solche Männer: Mit zwanzig sind sie unwiderstehlich (oder fühlen sich zumindest so), und was auch immer sie tun, man nimmt es ihnen nicht übel. Mit dreißig dann haben sie alles gesehen und fast alles getan, und wenn man sie mit vierzig irgendwo trifft, umweht sie eine leise Müdigkeit, ein Hauch von Ennui, eine Langeweile, die der Ahnung entspringt, dass der Kelch des Lebens von ihnen so hastig herabgestürzt wurde, dass jeder neue Wein nur schmecken kann wie längst bekannte Getränke.

Meist ist gut auszukommen mit diesen Veteranen der Nacht. Anders als manch anderer wissen sie, nichts verpasst zu haben, und dass ihnen statt einer Karriere nur viele Erinnerungen bleiben, ist den meisten kein Quell der Verbitterung, sondern ein schieres Faktum. Ein Preis, den man bezahlt. Ein bisschen staunen solche Männer manchmal, wie vollständig das Leben anderer erscheint, aber selten spürt man – trifft man sie an irgendeiner Bar, auf einem Fest morgens um vier in der Küche – Neid. Es scheint sich ausgegangen zu sein, dieses Leben, auch wenn es leicht wiegen mag gegenüber denen, die in diesen Jahren schwer beladen mit Verantwortung und Erfolgen im Wirtschaftsteil der Zeitung stehen.

Lieben aber möchte man solche Männer nicht. Nicht die schiere Zahl der Vorgängerinnen (ach, Arithmetik), die Gewöhnung vielmehr ist es, was einen zurückschrecken lässt. Nichts, meint man zu wissen, wird man den Erinnerungen und Erfahrungen solcher Männer hinzufügen können, und so nennt folgerichtig Ernö Szeps Held Mihaly seine verheiratete Geliebte nicht einmal mehr bei ihrem Namen, sondern nur bei ihrem Parfum. Cinq-Fleur.

Ein wenig zu routiniert, ein bisschen zu gleichgültig läuft diese Liebschaft durch die Seiten. Man trifft sich, man telefoniert. Man schätzt sich. Man liebt sich ganz ausgesprochen nicht. Ein bisschen erschreckend fährt diese Affäre auf allzu glatten Schienen, und am Ende – das sieht man voraus – werden sich Mihaly und Cinq-Fleur nicht trennen, sondern einfach nicht mehr sehen. Auf dem nächsten Empfang, der nächsten Premiere, werden sie sich dann zunicken, freundlich, kein Grund zu Groll, und dann ist es vorbei.

Auch Iboly wird nicht geliebt. Dass Iboly, Schauspielschülerin mit Anfang zwanzig, sich in Mihaly verliebt, weil er Dichter war und Stücke schreibt, weil er charmant ist und ihr zuhört, mag man verstehen, und ein bisschen sorgt man sich um das junge Mädchen. Noch fünf Jahre vor Beginn dieses Romans wäre Mihaly vielleicht der Grund für Tränen und Szenen und ließe sich für ein, zwei Wochen oder gar Monate hinreissen. Nun aber ist Mihaly 46, und sein Wunsch nach Ruhe überwiegt seinen Wunsch, neben einer jungen Frau zu erwachen. Als Iboly sich ihm anbietet, weicht er aus.

So gut wie nichts passiert also in diesem Roman, der erstmals 1935 in Ungarn erschienen ist. Nichts weiter, als dass ein kluger und müder Mann in einem versunkenen und doch seltsam zeitlosen Budapest altert, sich dem Alter noch ein wenig widersetzt, sein früheres Selbst gelegentlich in der offenen Hand wiegt und einen leisen Abschied feiert von sich selbst, seiner Vergangenheit und einer Zukunft, von der er weiß, dass sie nicht mehr stattfinden wird, denn irgendwann liegt alles hinter uns, was wir hätten werden können, und wenig später auch: Was wir geworden sind.