Archiv für September 2010

Die Einsamkeit der Träumenden

22. September 2010 | von Anselm Neft

Richard Yates: Revolutionary Road (Vintage Books 2009)

Ach herrlich. Endlich hat einmal alles geklappt: Mir wurde ein Buch empfohlen und ich habe es in Wochenfrist gekauft und dann tatsächlich auch gelesen, ganz, und obendrein so toll gefunden, dass ich dem Empfehlenden schon bald mehrere enthusiastische Mails schreiben musste – und wann passiert so etwas schon einmal?

Das 1961 erschienene „Revolutionary Road“ ist ein echter Knaller. Ein Buch, nach dessen Lektüre ich mich fragte, ob ich tatsächlich weiterschreiben oder den bei anhaltender Erfolglosigkeit auf 40 angesetzten Selbstmord auf dieses Jahr vorziehen soll. Menschen, die nicht selbst schreiben, kann das Buch ebenfalls in Richtung Selbstmord oder zumindest Scheidung bzw. Trennung motivieren. Kurzum: ein großartiges Buch.

Die Geschichte spielt 1955 in einem Vorort von Conneticut, und trotz des Zeit- und Lokalkolorits, haftet dem Geschehen nichts Antiquiertes oder Fernes an. Franklin und April Wheeler sind Anfang 30, haben einen Jungen und ein Mädchen, ein Haus, eine gute Gesundheit und durchaus etwas in der Rübe. Frank arbeitet in New York in einem drögen Bürojob, der ihn weder herausfordert noch ausfüllt. In Phantasien oder Gesprächen mit seinem alkoholkranken Kollegen erhebt er sich Tag für Tag über den Stumpfsinn der Tätigkeit und der Kollegen. April hat sich nur scheinbar in die ihr zugedachte Rolle als repräsentative Gattin, Hausfrau und Mutter gefügt. Sie trauert ihrer abgebrochenen Schauspielerkarriere nach und wagt sogar einen kleinen Neustart in einer lokalen Laienspielgruppe. Mit der Premiere des Stückes „The Petrified Forest“ beginnt der Roman, und es ist kein Zufall, dass wir gleich im ersten Kapitel einer Theateraufführung beiwohnen, die, zumindest was April angeht, vielversprechend beginnt und dann immer bemühter wird. Schließlich gleicht auch das Ehe- und Familienleben der Wheelers zunehmend einer hölzernen Inszenierung. Mit dem peinlichen Theaterabend und den Versuchen Franks seine Frau aufzuheitern, beginnt eine Ehekrise, die erst dann beigelegt scheint, als April einen kühnen Plan präsentiert: Raus aus der „spießigen“ Vorstadt, in der die Familien große Schilder wie „The Millers“ vor ihr Anwesen pflanzen, ab nach Paris. Weg von der oberflächlichen amerikanischen Konsumkultur, hinein ins alte, kultivierte Europa. Sie wird dort aufgrund ihrer Sprachkenntnisse als Sekretärin arbeiten, er soll dort seine wahre Berufung finden. Denn dass er zu Höherem geschaffen ist, daran besteht zumindest bei ihm kein bewusster Zweifel. Frank und April geht es gut, als sie sich ausmalen, wie sie ihrer Maklerin Mrs. Givings und dem befreundeten Paar Campbell eine Nase drehen und endlich sich und anderen beweisen, dass sie etwas Besseres sind. Wie der aus Konformität geborene Kampf gegen die Konformität endet, sei hier nicht verraten, auch wenn ich vermute, dass einige bereits die Verfilmung „Zeiten des Aufruhrs“ von 2008 kennen, die ich allerdings nicht gesehen habe.

Dieser aus heutiger Sicht nicht herausragend originell klingende Plot lebt von der absoluten Glaubwürdigkeit der Protagonisten, ihrer Motive, Dialoge und Handlungen. Die Charaktere werden seziert, aber nicht verraten. Yates’ Blick auf seine Figuren ist kühl, aber nicht lieblos, auch wenn er offenbar die meisten Sympathien für den in einem Irrenhaus untergebrachten Sohn der Maklerin zu haben scheint. Die Sprache des Romans ist zwingend, einfach, nie prätentiös und erzählt scheinbar mühelos etwas Trauriges und Wahres über das Leben zweier spezieller Menschen und der Menschheit allgemein. Der Handlungsaufbau ist makellos und mitreißend. Es gibt, anders als bei vielen „großen“ (männlichen) Autoren, keine Spur von Sexismus, Selbstgefälligkeit oder Geschwätzigkeit.

Richard Yates, der „Revolutionary Road“ im Alter von 35 Jahren nach seiner ersten Ehescheidung als sein Romandebut veröffentlichte, wurde früh ein Liebling der Kritiker- und Autorenschaft, verkaufte von den Hardcoverausgaben seiner Bücher aber nie mehr als 12.000 Stück. Schon vor seinem Tod geriet er zunehmend in Vergessenheit, ist aber heute bekannter als je zuvor, nicht zuletzt wegen eines leidenschaftlichen Aufsatzes von  Stewart O’Nan, der 1999 in der Boston Review erschien.

Nachtrag: Da ich das Buch sofort nach der Empfehlung haben wollte, habe ich das öde ummantelte “Buch zum Film” gekauft, und muss mir nun die Beschimpfung “Buch-zum-Film-Leser” gefallen lassen.

Spurensuche in Weinkellern

15. September 2010 | von Kaltmamsell

Alfred Komarek, Himmel, Polt und Hölle, erschienen 2001

Der Klappentext beginnt so:

Ein glühend heißer Sommer im Wiesbachtal. Doch wieder mal trügt die Landidylle. Einer beginnt zu zündeln, aus dummen Späßen werden handfeste Schweinereien, schließlich Sabotage und – Mord.
Simon Polt ermittelt diesmal nicht nur in Wirtshäusern und Kellergassen, sondern auch an einem Ort, den er bislang nur mit respektvoller Scheu betreten hat, dem Pfarrhaus.

Sieht aus wie ein weiterer der im vergangenen Jahrzehnt Mode gewordenen Heimatkrimis? Ist es auch. Dafür aber ein recht netter.

Vor zwei Wochen hatte ich von einer Weinverkostung in Gols aus den Mitbewohner angerufen und ihm atemlos von meinen Erlebnissen des Tages erzählt. Das komme ihm bekannt vor, meinte er, er habe da einen Krimi, der im beschriebenen Ambiente spiele. (Ich glaube: Wenn ich mir in den nächsten 20 Jahren kein einziges Buch mehr kaufte und mich nur durch des Mitbewohners Bibliothek läse, würde mir nicht langweilig.) (Wenn! Keine Angst, Frau Meyer-Clason.) Ich bat den Herrn also, mir das Buch rauszulegen.

Wir befinden uns im niederösterreichischen Weinviertel und sehen die Welt personal erzählt aus der Perspektive des Dorfkriminalers („Gendarmen“) Simon Polt. Wirklich greifbar ist er mir allerdings dennoch bis zum Ende des Buches nicht geworden. Das lag an solchen Kleinigkeiten wie der, dass Polt ganz zu Anfang als „von achtungsgebietender Leibesfülle“ geschildert wird, der weitere Text mir das aber an nichts beweist: Er passt durch jeden Mauerspalt ohne auch nur den Bauch einzuziehen, er setzt sich auf jede noch so kleine Bank, ohne dass diese ächzte, dafür fährt auch die längsten und steilsten Strecken mühelos mit dem Rad – nach und nach passte ich als Leserin mein inneres Bild von dem Herrn an, bis von Leibesfülle nicht mehr die Rede sein konnte.

Das Dorf quillt vor skurriler Gestalten mit skurrilen Lebenswegen über, im Verlauf der Handlung ergänzt durch zwei Wien-Importe, die in Erscheinung und Ausdrucksweise in ein Skurrilitätswettrennen mit der heimischen Bevölkerung geschickt werden. Das ist durchaus originell und nett ausgedacht.

Um Stereotype kommen wir leider trotzdem nicht herum: Der Lehrer sagt „Setzen!“, der Pfarrer wird mit „Hochwürden“ angesprochen und sagt „mein Sohn“, die Lehrerin ist hübsch und lässt jeden Mann, dem sie begegnet, denken, dass er bei ihr jederzeit gerne Schüler gewesen wäre.

Wirklich schön ist das Weinambiente. Es wird sich durch zahlreiche Presshäuser und Weinkeller verkostet, dabei ernst zu nehmend gefachsimpelt. Dass ausgerechnet ein Cabernet Sauvignon zum Mordinstrument wird, könnte man als Kritik an der damaligen österreichischen Mode sehen, angesagte Weinsorten aus USA anzubauen (habe mir dieses Jahr in Gols sagen lassen, man habe damit aufgehört und sich statt dessen autochthonen und regional typischen Rebsorten zugewandt).

Habe mich insgesamt nicht unter Niveau amüsiert, aber keine Lust auf weitere Romane dieser Serie bekommen.

Johanna Straub: Das Beste daran

9. September 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Sonst, wenn sie zu Hause sind, ist er derjenige, der anfängt, der weiß, wie es geht, die Zeit zwischen ihnen anzuhalten, derjenige, der Berührungen verwandelt in solche, die das Gegenteil von flüchtig sind und wichtig und unabdingbar, wenn er seine Hand auf ihren Bauch legt, liegen lässt, schwerer werden lässt und nach oben streicht, das Hemdchen, das sie beim Schlafen trägt, zusammen mit ihrem leichtern Widerstand beiseiteschiebt wie einen lästigen Schleier, während er etwas in ihr Ohr flüstert, das sie zum Lachen bringt, weil es sie kitzelt und weil Lachen vielleicht dagegen hilft, dass sich all die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufrichten und dass ihre Knie weich werden, das dürfen sie jetzt, weil sie liegt, und die Knie müssen sie gerade nicht tragen, ihre Arme können sich um seinen Nacken schließen, ihre Augen dürfen zufallen und seine dann auch, und die Bilder der Gedanken dürfen blasser werden, bis es dahinter hell wird, weiß und gleißend, und die Struktur nachlässt, bis es eine helle, weiße Fläche wird, in der sie sein können, ohne dass da noch irgendetwas anderes wäre außer dem Licht, von dem da so viel ist, und noch mehr – aber jetzt ist sie diejenige …

Ui, jetzt so beim Abtippen klingt das ja erstens nach höllenlangen Sätzen und zweitens ein bisschen esoterisch mit dem Licht und dem Weiß und so. Aber so ist das gar nicht.
Jette und Marvin, Mo, Ruben, Per, Anna, Alexandra und die anderen sind alle in dem Alter, in dem man sich mal entscheidet. Wer jemanden hat, muss entscheiden, ob man zusammenbleibt, und wenn ja, ob man Kinder bekommt (und was man tut, wenn es nicht klappt). Wer niemanden hat, sucht. Und alle haben eine Vergangenheit, in die wir auch einen Blick werfen.
Ich musste beim Lesen immer wieder an PeterLichts Trennungslied denken; hier geht es zwar nicht um Trennung, sondern um das zwischen den Trennungen, um die Beziehungen nämlich, aber es ist ein ebensolcher Reigen wie bei PeterLicht: einer kennt den anderen, aber seine Frau nicht, die wiederum mit der nächsten befreundet ist und in der Vergangenheit wieder mit einem anderen zusammen war, und so weiter. Natürlich läuft keine Beziehung einfach so rund, jede hat ein anderes Problem, jede geht anders mit ihren Themen um.
Und wenn ich neulich über Judith Schalanskys Matrosenroman schrieb, man habe da einen Haufen Puzzlestücke in der Hand, die kein Bild ergeben, so hat man hier ebenfalls Puzzlestücke, die aber ein sehr genaues Bild ergeben. „Portrait einer Generation“ steht hinten drauf, das mag eine abgedroschene Worthülse sein, stimmt aber. Sehr schönes Buch, sehr gut zu lesen.
Johanna Straub steht im Regal zwischen Bram Stoker und Botho Strauß.

Johanna Straub: Das Beste daran. 221 Seiten. Liebeskind, 16,90 €

Ein jeder Mensch ist ein Abgrund

6. September 2010 | von Modeste

Ferdinand von Schirach, Schuld, 2010

Es ist eine verbreitete Vorstellung, der Mensch werde gelenkt wie eine Marionette. Irgendwo, unsichtbar, hinter den Kulissen, sitze der Puppenspieler und lasse den einen stolpern, den anderen lachen, zwei jagen einander von rechts nach links, und wenn es dem Puppenspieler gefällt, lässt er einen die Hand heben, und ein anderer liegt still auf der Bühne. Einen Moment bleibt das Publikum dann betroffen sitzen und schweigt. Im nächsten kommt schon die Polizei, es wird geschäftig, Staatsanwälte klagen an, Strafverteidiger treten auf, und schließlich fällt der Richter ein Urteil. Das Puppenspiel über ein Verbrechen mag vorbei sein in diesem Moment. Über den Puppenspieler aber haben wir nichts erfahren. Das Verbrechen, den Mord, das Böse, wenn man so will, können wir sehen. Was es ist, sehen wir nicht.

Auch aus Ferdinand von Schirachs zweitem Buch (nach dem letztjährig erschienen Erstling Verbrechen des Charlottenburger Rechtsanwalts) erfahren wir nicht, was es ist, das den einen morden lässt und den anderen nicht. Über die Motive spricht von Schirach, das sicher. Die feinen Schattierungen zwischen Schuld und Unschuld, Schicksal und Zufall, Verhängnis vielleicht. Von der über Jahre misshandelten Frau, die sich von ihrem monströsen Ehemann befreit, als dieser ankündigt, das gemeinsame Kind anzugehen. Die Kindsmörderin. Ein bizarres Durcheinander von Kriminellen in der Unterwelt von Berlin, und ein paar rätselhafte, verstörende Geschichten, von denen wir nur Fetzen erfahren wie die, von denen man manchmal träumt, um verschwitzt und mit klopfendem Herz zu erwachen.

Etwas Marionettenhaftes werden den Protagonisten aller, nach eigener Aussage des Autors verfremdet aus seiner Praxis gegriffenen Geschichten nicht los. Sei es, dass die extrem verknappten, lakonischen, wohl ebenso vom juristischen Stil wie von einer Neigung zu manchen Amerikaner, Carver vor allem und Hemingway, geprägten Erzählungen eine gewisse Distanz schaffen, die gerade dort auffällt, wo Schirach sie mit einigen literarisierenden Sätzen zu überbrücken versucht. Doch wir kommen den Figuren nicht näher. Ein Abgrund von Fremdheit klafft zwischen den handelnden Personen nicht weniger als zwischen ihnen und uns. Eine kalte, klare Luft weht durch die kurzen Geschichten.

Gut lesbar sind Schirachs kurze Erzählungen. Man gewöhnt sich schnell an die harte Oberfläche der klaren Sprache, die manchmal, in ihren besten Momenten, etwas Metallisches gewinnt, nicht ohne Eleganz, das in der deutschen Gegenwartsliteratur selten ist, weil die Deutschen seit dem Krieg einen merkwürdigen Sonderweg beschritten haben mit ihren Büchern. Sicher profitiert der Autor von unser aller Voyeurismus, einer Faszination, die der Pitaval ebenso bedient wie das Vermischte in der Zeitung ganz hinten. Vielleicht aber reizt uns auch neben dem Puppenspiel über Blut und sinistre Sensationen der Puppenspieler selbst, die Ahnung der Wahrheit über die Herkunft von Gut und Böse, und der betroffene Blick auf die eigenen Glieder, wo denn die Schnüre wohl seien, an denen jener uns lenkt.

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht. Matrosenroman

6. September 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Ihre Großeltern wohnten am Meer. Sie wurden nie müde zu betonen, dass sie dort wohnten, wo andere Urlaub machen. Die Großmutter sagte es auch an diesem Morgen, als sie dem Großvater auf der Veranda Kaffee nachschenkte. Er stoppte sie mit einer Handbewegung. Neben ihm nickte Jenny, wippte ein wenig auf ihrem Stuhl und schaute aufs Fensterbrett. Dort waren die Schätze der Großmutter sorgfältig aufgereiht: eine Holzpuppe aus Ungarn, eine Vase mit blauäugigen Pfauenfedern, eine flammenfarbene Korallenkette in einer offenen Schatulle, zusammengerollt wie eine Schlange. Etwas abseits lag ein Seeigel.

Der „Matrosenroman“ hat nur gut 130 Seiten in sechs Kapiteln und ist irgendwie gar kein Roman. Kapitel eins, drei und fünf erzählen von Jenny, die immer wieder mal die Großeltern auf Usedom besucht, wo sie mit dem Großvater herumzieht und das Meer kennenlernt. Man geht als Leser davon aus, dass es sich hier um die Kindheitserinnerungen der Autorin handelt, zumal immer wieder private Fotos abgebildet sind.
Die Kapitel zwei, vier und sechs werden von einem erwachsenen „Ich“ erzählt, wohl von der erwachsenen Jenny, die als Kind ihre Faszination für Matrosen entdeckte und sie als Erwachsene immer noch empfindet. Diese Erwachsenengeschichten empfand ich als irgendwie undurchsichtig – sie fährt irgendwohin (Riga, Odessa, New York), sieht etwas, zum Beispiel einen Matrosen, und schweift dann ausgiebig ab in historische Berichte über verschiedene Leute (im Matrosenanzug), sodass wir am Ende die Hand voller Puzzleteile haben, die sich aber nicht recht zu einem Gesamtbild zusammenfügen wollen. Es kommen halt immer wieder Matrosen vor, und die sind ebenfalls abgebildet.
Das Buch macht mich völlig ratlos. Immer wieder wunderschön, schöne Bilder, aber eben nur im Kleinen. Man hat den Eindruck, Judith Schalansky hat ein paar Fotos von Menschen in Matrosenanzügen gesammelt, etwas dazu geschrieben, und bevor sich daraus etwas Zusammenhängendes ergeben konnte, war es schon gedruckt. Was nicht schlecht ist. Aber so ganz hat mir der Matrosenanzug als roter Faden nicht gereicht, auch wenn er als Faszinosum durchaus plausibel wird und das alles sehr poetisch ist.

Judith Schalansky ist ansonsten übrigens die Frau, die den wundervollen Atlas der abgelegenen Inseln verfasst hat, den Sie hoffentlich alle schon längst gekauft haben. Wenn nicht: los.

Judith Schalansky steht im Regal zwischen Marjane Satrapi und Bernhard Schlink.