Archiv für die Rubrik ‘Sachbücher’

Unendliche Weiten – über das Wissen wollen

14. January 2012 | von engl

Das neue Lexikon des Unwissens, Kathrin Passig/Aleks Scholz/Kai Schreiber

Als Kind schon war ich schwer auf drauf, dauernd auf  der Suche nach Lesestoff, koste es, was auch immer. Man mag es an  diesem frühen Bild bereits erkennen. Early Adopter, oder wie nennt man das? The Portrait of the Artist as a Young Addict? Wie auch immer, in jungen Jahren trieb mich die Not zu seltsamen Beschaffungsstrategien. Der Zufall hatte mich in einen Haushalt mit nur wenig Büchern gesperrt, mich gleichzeitig aber als eine Art Leseüberflieger gestaltet, sodass ich die zur Verfügung gestellten  Kinderbilderbücher schnell satt hatte. Möglich ist auch, dass die vielen ungelesenen Sternausgaben, die mir zum Zerfetzen in den Laufstall geworfen wurden, ihren Anteil an dieser fatalen Entwicklung hatten.

Immer wieder sehe ich mich in den folgenden Jahren die elterliche Wohnzimmereichenschrankwand nach Stoff durchforsten, noch unentdeckt und ungelesen. Meist mit wenig Erfolg. Eines der Highlights jedoch, das mir bis heute präsent ist, war ein hellblaues Babybuch, das ursprünglich wohl der Planung und Durchführung der korrekten Aufzucht meiner Person gedient haben muss. So las ich über Flaschenfütterung und Windelwäsche, Stubenwagen und Mittelohrentzündung. Lauter Dinge, denen ich erst knapp entkommen war. Sehr interessant und sicher auch hilfreich. Was ich jedoch nicht endgültig zu beurteilen in der Lage bin, da es inzwischen als sicher anzusehen ist, dass ich dieses Wissen in diesem Leben nicht mehr zur Anwendung bringen werde.

So ist das mit dem Wissen. Meistens weiß man nicht so genau, was man eigentlich damit anfangen soll. Wie und wieso ein Flaschenzug funktioniert. Oder die funktionelle Magnetresonanztomographie. Ob die Dualität durch Luzifer in die Welt gekommen ist, oder ob nicht doch jede Person ein lebendes Medizinrad ist. Und hat die EZB eigentlich die klare Aufgabe, die Finanzmärkte zu stärken? Was ist überhaupt die EZB? Wieso ist die rechte Hirnhälfte für die linke Körperseite zuständig? Warum kriegt der Zitteraal nicht selbst einen Schlag? Und wie viel wiegt wohl ein Kilogramm? Lauter Fragestellungen, die im Zweifel überhaupt nicht interessieren oder aber auf den ersten Blick unsinnig erscheinen. Aber spannend ist es mitunter trotzdem, dieses Wissen wollen. Oder etwa nicht?

Was ist das eigentlich, Wissen? Auch dieser Frage geht das neue Lexikons des Unwissens, das Ende des Jahres bereits auf meinem Bücherstapel gelandet ist, letztendlich nach. Seitdem begleitet es mich mal hierhin, mal dahin, auf die Busstrecke nach Friedrichshain oder in die schnelle Suppenmittagspause um die Ecke. Wo immer ich es gerade wiederfinde, werfe ich einen Blick hinein und lese irgendein Kapitel. Das ist kein Buch, das man durchliest oder gar ausliest, Wissen endet schließlich niemals. Wie das Universum. Obwohl: Endet das Universum nicht vielleicht doch irgendwo. Oder wenigstens irgendwann?

Es handelt sich also um ein Herumwanderbuch, eines zum immer wieder Auf- und Wiederfinden. Ein Buch für zwischendurch und unterwegs, im Grunde das perfekte E-Book. Warum krieg ich das eigentlich nicht auf meinen Kindle? Das schient mir ein Manko zu sein. (Wie ohnehin  E-Book- Formate ein wildes Feld zu sein scheinen.) Außerdem ärgere ich mich im Nachhinein bisschen, dass ich das erste Lexikon des Unwissens zwar einmal kurz in der Hand hatte, dann aber doch nicht mitgenommen habe. Pech!

Übrigens: Angefangen habe ich meine Lektüre natürlich mit dem Kapitel, das der Frage nachgeht, warum Frauen Brüste haben. Denn ungefähr auf diesem Gebiet hatte ich meine sinnlosen Studien ja seinerzeit bereits, mit diesem hellblauen Babybuch, angesetzt.

Lob der Faulheit

27. January 2011 | von engl

Anleitung zum Müßiggang, Tom Hodgkinson

Diese elende Welt ist eingeteilt in Leistungsträger und Minderleister, in Sieger und Versager also, in Schwätzer und Schweiger nicht zuletzt. So zumindest scheint es mir in letzter Zeit. Zudem verkommt das Buchstabengepixel im Internet, genau wie auch Edelgedrucktes auf Papier, mehr und mehr zu einer doch recht armseligen Meinungsverkündigung. ICHICHICH, in enge Schleifen gelegt, schließlich muss alles nicht nur einmal, sondern am besten gleich hundertfach irgendwo verewigt sein. Und zwar einzig und allein, weil man es angeblich jetzt endlich wieder darf. Was auch immer damit gemeint sein mag.

Ich bin ratlos, was solcherlei Eifer angeht. Ich bin hilflos, immer wenn es ums Rennen und Siegen geht. Erste sein, vermutlich bin ich dazu zu alt. Eigentlich war ich aber schon immer so. Oberflächlichkeit liegt mir nicht, das haben nicht zuletzt die Bücher mir ausgetrieben. Obwohl Buch noch lange nicht Buch ist, wie wir alle im letzten Jahr schmerzlich lernen durften. Zumindest, was den Sachbuchbereich angeht.

Kein Wunder, dass ein erfolgreiches Buch über Faulheit und Trödelei, über Pausen und andere Zwischenzustände nicht in Deutschland geschrieben werden konnte. Sondern selbstverständlich in England, dem Land der Sonderlinge. Da, wo das Anderseins offensichtlich noch Substanz hat und nicht gleich unbesehen auf den Müll geschaufelt wird.

Tom Hodgkinson ist bekennender Müßiggänger, distanziert sich von jeglicher Beschäftigung der sinnlosen Art, kümmert sich dafür aber intensiv um den Bestand seiner freien, langsamen Stunden. So ist das Buch dann auch in 24 Kapitel eingeteilt, eines für jede Stunde des Tages. Angefangen mit der Qual des Aufwachens geht es im dritten Kapitel bereits um das Liegen bleiben und zur Mittagszeit um die Pflege des am Tag zuvor erworbenen Katers. Später dreht es sich noch um Essen und Trinken, Rauchen und Angeln und um alle nur denkbaren Formen von Schlaf. Hodgkinson rühmt das Denken und Träumen, er schraubt Zitate, eigene Gedanken und historische Gegebenheit in absurder Weise zusammen. Manchmal treibt er das Spiel ein bisschen weit, ein wenig eindimensional auch. So stellt die Erfindung der Glühbirne für ihn einen der größten symbolischen Siege in der Schlacht zwischen Fleiß und Nichtstun dar. (Also eigentlich eher eine Niederlage, fällt mir gerade auf. Das ist dann doch wieder amüsant. ;-)

Des Pudels Kern ist leicht ausgemacht: Hodgkinsons stiller aber stetiger Kampf gilt der Fremdvernichtung seiner Zeit durch sinnfreie Tätigkeit, vor allem natürlich durch Arbeit, die ihm keineswegs natürlich erscheint. Das verstehe ich gut, ich gebe es zu. Ich bin nicht faul, aber eigenwillig. Und ein eigener Wille reicht mitunter, um als Misserfolg gedeutet zu werden. In dieser elenden Welt zählt eben nur, was zählbar ist. Das gilt jedoch in beide Richtungen. Leider verliert der Autor gerne die Existenz einer real existierenden Armut aus den Augen. Seine Ausführungen dazu kommen ein wenig dürftig, beinah bläuäugig daher. Das Credo, man könne immer auch von weniger leben, findet schließlich schnell seine natürliche untere Grenze. Zumindest, was die persönliche Freiheit angeht. Aber sonst? Ein feines englisches Gegenstück zu preußischen Tugenden aller Art.

Hodgkinson ist inzwischen ein gemachter Müßiggänger im Süden Englands, wo dies nicht allzu schwer fällt. Es gibt mehrere Bestseller und ein eigenes Magazin. Das heißt natürlich The Idler und die Schnecke ist Kult, soweit ich weiß.

Ein anderer Schlag des Herzens

29. August 2010 | von Modeste

Irina Liebmann, Wäre es schön? Es wäre schön, 2008

Was in der Geschichte des Kommunismus schief gelaufen ist, ist nicht nur unter Historikern vermutlich ein Gegenstand wüster Diskussionen und klaffender Meinungsverschiedenheiten, doch wie auch immer es dazu kommen, dass aus einer berauschenden Vision von Freiheit, Gerechtigkeit und Völkerliebe am Ende nichts wurde als die engherzige, bisweilen lächerliche und in jeder Hinsicht unangemessene Herrschaft einer verlogenen Bürokratie: Fest stehen dürfte, dass die Realität aus FDJ und Plattenbauten die faszinierende, romantische Seite des kommunistischen Projekts so gründlich aus dem Bewusstsein Europas gebrannt hat, dass selbst die Renegatenromane des 20. Jahrhunderts – die Koestler, Sperber et. al. – uns nichts mehr anzugehen scheinen. Der große Traum ist vorbei.

Auf die Frage, warum sich ein brillanter, junger, gut etablierter Journalist Anfang der Dreißiger Jahre, moussierend vor Ehrgeiz und Stolz, nicht nur vom Kommunismus angezogen fühlt, sondern dem Kommunismus auf dem langen Weg vom himmelblauen Traum in die schlecht gelüftete Realität treu bleibt, bietet auch Irina Liebmanns 2008 erschienene Biographie über ihren Vater Rudolf Herrnstadt keine Antwort. Es muss etwas Religiöses gewesen sein, das Liebmann wolkig umschreibt, ohne dass es fassbar würde. Herrnstadt habe die Sowjetunion nicht nur geliebt, sondern habe sich auch zurückgeliebt gefühlt, spekuliert Liebmann, ohne zu erklären, warum es einem normalen Menschen überhaupt etwas bedeuten sollte, ausgerechnet von der Sowjetunion geliebt zu werden.

Überhaupt wird viel spekuliert. Zum einen scheint die Faktenlage rund um diese wirren, blutigen Jahre des zweiten Weltkriegs was Herrnstadt betrifft, nicht die beste zu sein. Zum anderen steht es der Tochter Herrnstadts sicher mehr als anderen Leuten zu, sich einem Toten nicht nur über Archive und Zeitzeugen zu nähern, sondern nicht weniger über Erinnerungen. Hörensagen, vielleicht ein halbverschollenes Gefühl, wie es gewesen sein könnte.

Gut war es nicht. Als Herrnstadt Kommunist wird, ist Stalin schon der blutsaufende Herrscher im Kreml. Die großen Namen der Revolution gehören schon Toten, und der Apparat bestimmt mehr und mehr, ob einer ein guter Kommunist und ehrlicher Kämpfer bleibt oder ausgestoßen wird nach Regeln, die keiner kennt. In Berlin – hier arbeitet Herrnstadt als Journalist des Berliner Tageblatts – wird Hitler schon empfangen, man riecht das kommende, das frische Blut, und als dann soweit ist, emigriert Herrnstadt, gefährdet nicht nur als Kommunist, sondern auch als Jude, nach einem Intermezzo in Warschau nach Moskau.

Viel erfährt man nicht über die Verhältnisse im Moskau der Säuberungen. Wie es war in diesem fleckigen, wirren Alptraum aus Macht und Tod und Angst, zeigt Liebmann uns kaum. Vielleicht ist das nicht ihr Thema, vielleicht gehört das zu der Lebensgeschichte ihres Vaters ihrem Empfinden nach nur am Rande dazu, doch mir scheint, dass man nicht von einem kommunistischen Politiker dieser Jahre erzählen kann, und berichtet über die Beben, die den Boden dieser Welt zerrissen, nur ganz en passant. Es muss die Welt verwandelt haben, stelle ich mir vor.

Vom Nationalkomitee Freies Deutschland erzählt Liebmann, diesem erstaunlichen Versuch, Deutschland nicht nur zu besiegen und zu beherrschen, sondern sein Herz so zu gewinnen, wie es den Amerikanern dann später wirklich gelungen ist und den Russen nie. Von der Rückreise ins zerstörte Berlin, von der Berliner Zeitung und dem Neuen Deutschland, und von einem kranken, immer kränkeren Mann, der sich aus Russland die Tuberkulose mitgebracht hat.

Ihren Höhepunkt erreicht Liebmanns Erzählung rund um den 17. Juni. Die Massen lieben die Herrschaft nicht, lieben sie noch etwas weniger als andere, schweigend ertragene Herrschaft, und lehnen sich auf. Ein paar Tage hält sich die Macht in luftiger Schwebe, doch dann siegt – am Ende entscheiden die Russen – Ulbricht. Herrnstadt, der auf Ulbrichts Ablösung gedrängt hat, verliert alle Posten und wird Archivar in Merseburg. Die Führung der SED schreibt Herrnstadt und einem anderen, verstoßenen Mitglied des Politbüros die Schuld für die Ereignisse rund um den Aufstand zu und geht zur Tagesordnung über. Herrnstadt reist ab.

Etwas Verächtliches liegt in dem verordneten Posten, den Herrnstadt annimmt und ausfüllt und sogar in den Archiven forscht. Kommunist bleibt er. Kommunist zu sein scheint für Herrnstadt nicht von der Frage abzuhängen, ob die kommunistische Herrschaft gut und gerecht ist zu ihm, nicht einmal, ob der Kommunismus gut ist für andere, ob er gut ist für die Arbeiter, die der Kommunismus in seinen Sonntagsreden vergöttlicht, um sie werktäglich so herablassend zu behandeln, wie es einer bürgerlichen Demokratie nicht einfiele, und dann stirbt Rudolf Herrnstadt nicht an der Tuberkulose, sondern am Krebs, und nimmt – mit ihm eine ganze Generation toter Kommunisten – das Rätsel der Attraktion dieser Menschheitskatastrophe mit sich ins Grab.

Etwas hilflos hinterlassen uns daher auch in diesem, nicht sehr bedeutenden und sprachlich oft unzureichenden Buch die Schilderungen der vielen Opfer, der Anstrengungen und der ehrlich empfundenen Gefühle für etwas, das einmal rein gewesen sein mag, und diese Reinheit verloren hat in dem Morast des 20. Jahrhunderts aus Dreck und Blut und Lügen. Liebmann hilft uns nicht weit auf dem Weg zum nachsichtigen Verständnis dieser fremden Toten, aber vielleicht liegt das nicht an den Unzulänglichkeiten dieses Buches. Vielleicht ist es ganz und gar vorbei, und nicht nur der Traum vom Kommunismus, sondern alle Träume vom ganz anderen Leben modern irgendwo in der Erde und kommen nicht wieder, nicht einmal bei Nacht.

Paukenschlag statt Flöte

5. July 2010 | von Modeste

Wolf Jobst Siedler, Ein Leben wird besichtigt, 2000

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Vielfach liest man, mit dem Bürgertum gehe es demnächst zu Ende. Die deutsche Sprache sterbe aus, sogar die Frau des Bundespräsidenten sei abstoßend tätowiert, niemand könne mehr vernünftig Latein, und unter Bildung missverstünden die Deutschen eine unverstandene Faktensammlung, die höchstens zu Quizsendungen im Privatfernsehen tauge. Gleichzeitig genießt das Bürgerliche ein Ansehen, das zumindest ein wenig naiv anmutet, als sei vor hundert Jahren jedes Gymnasium eine kleine Gelehrtenrepublik gewesen und nicht die protofaschistische, kinderquälende Anstalt, wie sie sich in den damals vermutlich nicht von ungefähr beliebten Schülerromanen der Kaiser- und Zwischenkriegszeit spiegelt. Auch hätten sich früher Familien zu sorgsam komponierten Mahlzeiten zusammengefunden, statt hektisch vor dem Fernseher erwärmte Tiefkühlgerichte zu verzehren, weder Damen noch Herren wären in missgestalteten, bunten Plastiksäcken auf die Straße gegangen, und Ehen hätten lebenslänglich gehalten. Früher sei mithin nicht alles, aber ziemlich viel besser gewesen, und selbst wenn es nicht besser gewesen sei, dann habe es zumindest besser ausgesehen.

Zu den – wenigen – besseren Apologeten einer solcherart verklärt schöneren Vergangenheit zählt die Republik den Westberliner Publizisten und Verleger Wolf Jobst Siedler, und es mag vielleicht im Bezug zu Berlin begründet liegen, wieso Geburtstag um Geburtstag, Besuch für Besuch mehr der erstaunlich zahlreichen Werke dieses Herrn in den Haushalt spült, den der geschätzte Gefährte und ich unterhalten, unterbrochen bisweilen durch Teile des ebenfalls üppig ins Kraut geschossenen Gesamtwerks Joachim C. Fests. Möglicherweise hält man den J. und mich aber auch in an sich nahe stehenden Kreisen für konservativer als wir sind, und so seien an dieser Stelle diejenige der sehr verehrten Leserinnen und Leser, die auch körperlich zu meinen Gästen zählen, gebeten, sich künftig etwas Neues zu überlegen, denn der Unterhaltungswert Siedlers generell, wie speziell dieses ersten Teiles seiner Autobiographie ist diesseits der Grenze, die die Apokalyptiker des Bürgertums vom Rest der Welt trennt, vorhanden, aber durchaus begrenzt.

An Siedlers Leben selbst liegt dieses Missbehagen dabei nicht. Der 1926 in Berlin geborene Verleger blickt auf ein vom Reichtum wie von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zerklüftetes Leben zurück. Im Westberliner Bezirk Dahlem geboren, war Siedler einige Jahre Schüler einer der bis heute gut beleumdeten Hermann-Lietz-Schulen, wurde wegen kritischer Äußerungen über Hitler und die Erfolgsaussichten des Krieges gemeinsam mit einem der Söhne Ernst Jüngers inhaftiert, verurteilt und kam sodann an die italienische Front. Nach einigen Jahren der Kriegsgefangenschaft in Afrika gelangte Siedler zurück in das zerstörte Berlin. Hier endet der erste Band der Lebenserinnerungen; das Studium an der sich neu formierenden FU und der Aufstieg als Journalist und später als Verleger reißt Siedler nur an und erzählt diesen Abschnitt seines Lebens, wie es scheint, in einem oder mehreren weiteren Werke weiter.

Immer wieder ist das auch durchaus angenehm zu lesen. Die Haftzeit etwa als radikale Erfahrung von Kontrollverlust, die Gefühlsschwankungen, die feinen Abstufungen des Verhaltens der Wärter und Richtenden, ebenso wie alltägliche und anekdotische Beobachtungen im vorkrieglichen Berlin. Sobald sich Siedler aber von der Subjektivität des Erlebens löst, hinterlässt er den Leser halbwegs ratlos: Gern gesteht man Siedler Stolz auf seine teils illustren Vorfahren zu, zu denen an prominentester Stelle der Bildhauer Schadow gehört. Wer wäre man auch, es Siedler nicht durchgehen zu lassen, über seine Familie, deren Verbindungen und Herkommen mit einem gewissen Selbstbewusstsein zu berichten, das in mehr oder weniger expliziter Form jede Familie pflegen dürfte. Sich auf seine Familie etwas einzubilden, ist gerade dann verständlich, wenn diese Familie auch einiges zu bieten hat an Kaufhauskönigen und Generälen, Diplomaten und Professoren. Muss aber – so fragt man sich nach einer kleinen Weile – Siedler immerzu und alle paar Seiten von seiner Familie sprechen? Geht es auch etwas weniger lautstark? Anders als man in Kreisen konservativer Publizistik annimmt, halte ich Bescheidenheit nicht gerade für eine Tugend, die das Bürgertum vor anderen Teilen der Gesellschaft auszeichnet, das ganze 19. Jahrhundert ist, wie man sagt, nur durch bürgerliche Geltungssucht zu erklären, ich habe auch nichts gegen Repräsentation, aber über weite Teile des Buches überschreitet Siedler die Grenze zwischen berechtigtem Stolz und purer Eitelkeit doch etwas zu häufig, um noch Freude zu bereiten. Wir wissen’s, sagt sich der Leser seufzend und blättert halb konzentriert weiter.

Ähnlich steht es mit Siedlers Freunden und Bekannten. Streckenweise liest sich das Buch wie mancher Bericht der Klatschpresse über eine Premiere oder eine königliche Hochzeit als eine Aufzählung von Namen, Namen und wiederum Namen. Von Carl Schmitt über Dacia Maraini, von Thomas Mann, Heinrich Böll, Alexander Solschenizyn bis Hans Wallenberg und immer wieder Joachim Fest und taucht jeder auf, von dem man in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sprach. Gesehen wurde auch …., denkt man sich, wartet auf eine prägnante Anekdote, etwas Charakteristisches, Interessantes, aber Siedler ist oft längst woanders. Ihm reicht wie manchem kleinen Mädchen am roten Teppich der Berlinale das Auftauchen der Berühmtheit. Dies ist einigermaßen sonderbar: Siedler ist schließlich nicht irgendwer. Dass der Verleger des Propyläen-Verlags, später des Siedler Verlags, ein Fixpunkt des insgesamt überschaubaren Kulturlebens der Bonner Republik, alles und jeden kannte, der eine Schreibmaschine zu bedienen wusste, erwartet man nicht anders. Die schiere Renommiersucht kann es damit eigentlich nicht sein, die Siedler zu diesen Aufzählungen treibt, allerdings ist ein anderer Antrieb vielfach schlechthin nicht erkennbar.

Die Zitiersucht dagegen sei Siedler nachgesehen. Es zeugt von einigem Selbstbewusstsein, um es vorsichtig auszudrücken, als ersten Satz seiner Erinnerungen zu Thomas Manns berühmter Eröffnung des Josephsromans zu greifen, doch mag es für einen Mann, der sein Leben zwischen Büchern verbracht hat, nur natürlich anmuten, entlang von Büchern zu erinnern und zu empfinden. Das Bewusstsein, als bürgerliches Fossil zwischen Plebejern zu wandeln, durchzieht die Autobiographie dabei indes nicht nur als ausdrückliche und stetig wiederholte, bisweilen durchaus ein wenig selbstgefällige Aussage. Man mag darüber streiten, ob diese Annahme überhaupt zutrifft, Siedler jedenfalls hat dieser Glaube an den abgesunkenen Bildungsstand seiner Leser zu einer etwas sonderbaren Vorgehensweise bewogen: Er erklärt annähernd jedes Zitat in der ängstlichen Annahme, der Leser könne vielleicht andernfalls annehmen, die Herzogin von Guermantes sei keine Schöpfung von Proust, sondern vielleicht von Courths-Mahler, und wenn er das berühmte Bild des nächtlichen Albs heraufbeschwört, vergisst er nicht hinzuzufügen, jenes sei von Füssli.

Auf den letzten Seiten wird Siedler kokett. Er werde sich hüten, schließt er, das Buch mit einem Finis zu beenden, erst recht aber schließe er nicht mit Fortsetzung folgt, und man klappt das mit einer Abbildung des Autors in jungen Jahren geschmückte Geschenk zum vorletzten Geburtstag kopfschüttelnd zu. Ich habe die Fortsetzung nicht gelesen. Mir schwant, ich habe nichts verpasst.

Lesen oder nicht lesen

7. June 2010 | von engl

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, Pierre Bayard

wie_man_ueber_buecher_sprichtJeder kennt das. Lesen oder nicht lesen, das ist häufig die Frage. Denn Lesezeit ist Lebenszeit. Und Lesen braucht viel Zeit, mitunter. Besonders, wenn man lesen muss. Aber muss man? Wirklich?

Pierre Bayard bringt es kurz und knapp auf den Punkt. Nein, man muss nicht. Lesen ist keine Pflicht, nur keine Sorge. Doch es kommt auf das Berufsfeld an, in dem man tätig ist. So ist Lesen trotzdem vielfach kein Spaß, keine Freude, kein freiwilliges Freizeitvergnügen. Überhaupt ist es oft kein Vergnügen,  Lesen kann eine Verpflichtung sein. Das gilt für Dozenten und Professoren, insbesondere, wenn sie im Literatischen unterwegs sind. Das gilt ebenso für Studenten auf diesem oder naheliegenden Gebieten. Die Listen mit den Pflichtlektüren scheinen mitunter endlos.

Schlimmer noch: man muss nicht nur lesen, man muss anschließend auch darüber reden, was man gelesen hat. Und am schlimmsten vielleicht: manchmal muss man darüber schreiben. Wie ich jetzt hier. Obwohl: eigentlich muss ich natürlich nicht. Ich mache das freiwillig. So freiwillig, wie ich dieses Buch gelesen habe. Zumindest zum Teil, soweit ich mich erinnere.

Das ist das Grundkonzept des Buches. Niemand kann alles das lesen, was man so gelesen haben sollte. Soviel Lebenszeit gibt es gar nicht, schließlich hat man hin und wieder auch noch anderes zu tun.  Also teilt der Autor seine Lektüre ein in unbekannte Bücher, quergelesene Bücher, erwähnte Bücher und vergessene Bücher. Und scheut nicht davor, diesen jederzeit ziemlich klare Wertungen zuzuordnen. Ja, er geht sogar so weit, dass er jedes seiner Kapitel auf eines jener Bücher stützt, die er im Grunde gar nicht kennt. Oder kennt er sie doch? Ist es möglich, sinnvoll über Bücher zu reden, die man nie auch nur geöffnet hat?

Natürlich geht das. Jeder kennt das und jeder tut es. Oder etwa nicht? Im Gesellschaftsleben, einem Lehrer gegenüber, dem Schriftsteller gegenüber oder der oder dem Liebsten gegenüber. So die Kapitelüberschriften des zweiten Buchteils, in dem es eben darum geht. Im letzten Teil gibt es dann Empfehlungen zur Haltung in solchen unvermeidbaren Gesprächen, die da lauten: sich nicht schämen, sich durchsetzen, Bücher erfinden und vor allem von sich sprechen. Sagt das nicht alles? Muss man da noch weiterlesen?

Nicht ganz unerwartet endet dieses Buch mit dem weisen Rat, doch besser selber zu schreiben als seine Lebenszeit sinnlos mit Lesen zu verschwenden. Aber wer soll das dann alles lesen?

Kann man mehr über dieses Buch sagen? Sicher. Muss man dieses Buch lesen? Keine Ahnung. Habe ich es gelesen? Aber natürlich!

Warum wir welche Geschichten gerne lesen

18. May 2010 | von Kaltmamsell

Angela Leinen, Wie man den Bachmannpreis gewinnt

Leinen_Bachmannpreis Es gibt Leute, die die Klagenfurter „Tage der deutschsprachigen Literatur“, vulgo den Bachmannpreis, leben und feiern wie andere Leute (viel, viel mehr Leute) die Fußballweltmeisterschaft – ein mir ausgesprochen sympathisches Spinnertum. Seit 2004 gehört auch Angela Leinen dazu, die ich als Autorin des Blogs Sopranisse kenne. Aus ihrem Blog weiß ich unter anderem, dass sie ganz besonders gerne und viel liest und dass es in ihrer jugendlichen Vergangenheit Walter Kempowski gab.

Das Ergebnis dieser beiden Interessen, Bachmannpreis und Lesen, ist ein Buch: Wie man den Bachmannpreis gewinnt. Angela Leinen hat eine Art Poetik geschrieben, aus der Perspektive einer Leserin und erfahrenen Bachmannpreisbesucherin. Und zwar in einem Tonfall, der gerade durch Leichtigkeit und Ironie verrät, mit wie viel Leidenschaft sie für diese Themen brennt.

Zwar richten ihre Tipps sich tatsächlich vor allem an dem Ziel aus, den Bachmannpreis zu gewinnen, doch formuliert sie durchaus allgemeine Handreichungen, wie und worüber sich gute Geschichten schreiben lassen. Hilmar Klute hat das Buch im Aufmacher der jüngsten Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung (leider nicht online) als Beispiel für die Umtriebe der Nichtexperten als Rezensenten genannt: „An der Entzauberung der Kunst wird also nicht allein im Internet gearbeitet.“ Was lediglich belegt, dass Herr Klute das Buch nicht gelesen hat: Es geht nicht um Entzauberung, sondern um Reflexion. Die Autorin bezieht sich dabei auf eine ganze Reihe namhafter Werke, die sich über das Entstehen von Geschichten Gedanken machen. Andererseits steht Hilmar Klute mit seiner Anmerkung in der guten deutschen Tradition des romantischen Geniekults: Sobald Kunst Können erkennen lässt, ist sie keine Kunst mehr. Und wenn ich an so manche ungelenke Inhaltsangabe denke, die die Süddeutsche Zeitung als Buchrezensionen verkauft, ist mir eine Angela Leinen mit ihrer ungeheuren Belesenheit und Analysefertigkeit deutlich lieber.

Angela Leinen schreibt über geeignete Stoffe für Bachmannpreisgeschichten, von A für „Arbeit, gute ehrliche“ über E für „Ex, Abrechnung mit der/dem“ und K für „Krankheit und Siechtum“ bis X für „XY ungelöst“ – zählt Folgen der und Beispiele für die Behandlung dieser Themen auf und schließt dies jeweils mit Stichpunkten zu Reizen und Risiken der Sujets ab. Sie lässt sich ebenso aus über die Perspektiven beim Erzählen und deren Auswirkungen, über Schauplätze, Motive und die Sorgfaltspflicht von Autoren. Dazwischen stehen Gastbeiträge von Menschen aus dem Literaturbetrieb, die also beruflich Kriterien für die Beurteilung von Geschichten haben, nicht nur als Leser. Kathrin Passig hat das Vorwort geschrieben und macht sich darin Gedanken über die Messbarkeit literarischer Qualität und die besondere Rolle, die dabei der Bachmannpreis spielt. (Wenn allein schon der Versuch einer Objektivierung von Beurteilungskriterien Entzauberung ist, dann hat Hilmar Klute allerdings doch recht. Aber dann ist die gesamte Literaturwissenschaft eine einzige Entzauberung.)

Ich hatte mich sehr auf das Buch gefreut und las es mit Genuss und Belehrung. Sehr schön fand ich unter anderem das Kapitel über Schauplätze (Venedig geht nur noch mit wirklich originellem Twist) und das kluge Nachdenken darüber, warum welche Sexszenen funktionieren und andere nicht. Manchmal passten die Überlegungen allerdings nicht ganz zum Buchtitel – vielleicht wäre das Buch runder geworden, wenn es die Gedanken zum Geschichtenschreiben völlig unabhängig vom Bachmannpreis formulieren hätte können.

Nebenher tauchen die ganzen 190 Seiten über als positive Beispiele ständig Bücher auf, die ich noch nicht kannte und umgehend lesen wollte. Seien Sie also gewarnt: Wenn Sie auf Angela Leinens Sicht anspringen, beenden Sie die Lektüre des Buches nicht nur mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, sondern auch mit einer ziemlich langen Wunschliste.

Joseph Wechsberg, Gerda v. Uslar (Übers.),
Forelle blau und schwarze Trüffel

14. February 2010 | von Kaltmamsell

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Natürlich habe ich mich ebenso wie Sie gewundert, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Doch als es bereits in der ersten der 17 Geschichten des Buches hieß, der Professor Internist habe im „neunten Distrikt“ Wiens gewohnt, verschwand die Illusion der Originalsprache – auch Anfang des 20. Jahrhunderts, als diese Szene spielt, war Wien in Bezirke unterteilt. Die jemand auf Englisch sehr wahrscheinlich „districts“ nennt. Das ist aber zum Glück die Stelle, die am deutlichsten als Übersetzung auffällt; sonst liest sich die autobiographische Vignetten- und Anekdotensammlung des Herrn Wechsberg wie ein deutsches Original.

Er wäre heute sehr wahrscheinlich ein Foodblogger, der 1907 geborene Herr Wechsberg, noch dazu ein guter. Und so musste ich bei der Lektüre von Forelle blau und schwarze Trüffel (erschienen 1953) sehr an das hoch geschätzte Büchlein von Herrn Paulsen denken. Joseph Wechsberg beginnt bei seiner Kindheit und der großen Abneigung gegen jegliche Nahrungszufuhr, mit der er seinen Eltern damals Sorgen bereitete. Später entdeckte er das Essen zu unserem Glück als Leidenschaft. Und so nahm er mich zunächst mit zu dem sonntagsmittäglich gedeckten Tafeln der besseren Wiener Gesellschaft. Ich zwinkerte Friedrich Torberg zu – der diese Szenen allerdings erheblich derber beschreibt.

Die Speisen seiner Studienorte Prag und Paris sind eigene Kapitel wert, später einzelne Lokale oder Speisen vor allem in Frankreich – immer aufgehängt an persönlichen Erlebnissen und den damit verbundenen Menschen, immer in angenehmstem Plauderton. Joseph Wechsberg nimmt seine sinnliche Wahrnehmung ernst, nicht nur beim Schmecken. Dem entsprechend werden Personen eingeführt, zum Beispiel:

Monsieur Raymond Thuilier war ein freundlicher, schnurrbärtiger Franzose, der aussah, als habe er soeben etwas sehr Angenehmes über sich gehört.

Am besten hat mir das Kapitel über die Bouillabaisse gefallen. Darin schildert Wechsberg, wo er die beste so benannte Fischsuppe seines Lebens gegessen hat: „Auf dem Vorderdeck der ‚Azay-le-Rideau‘ (…), als sie im Mittelmeer kreuzte.“ Zubereitet hatte sie „Étienne-Marcel, der pergamentgesichtige Zimmermann an Bord der ‚Azay-le-Rideau‘.“ Wechberg verdiente sein Geld auf diesem drittklassigen Kreuzfahrtschiff als Bordmusiker. Die sonstige Besatzung bestand aus Griesgramen, die sich in Anstellungen auf Luxusschiffen etwas zuschulden hatten kommen lassen, und nun auf dieser „schwimmenden Teufelsinsel der Gesellschaft“ arbeiten mussten. In vielen Details beschreibt Wechsberg, wie Étienne-Marcel seine Bouillabaisse zubereitete, nicht nur auf dem Schiff, sondern auch in seinem Zuhause in Marseille. Ich hätte sie nach der Lektüre des Kapitels nachkochen können – stünde nicht am Anfang der Zubereitung das Gebot, nicht etwa frischen Fisch zu verwenden, sondern allerfrischesten Fisch, buchstäblich direkt aus dem Meer. München – Meer?

Am ausführlichsten schildert Joseph Wechsberg eine Reise im Südwesten Frankreichs auf der Suche nach dem idealen Trüffelgericht sowie die Reise entlang aller damaligen Drei-Michelin-Stern-Lokale Frankreichs – inklusive Zubereitungsart der Spezialitäten, Beschreibung der Küchen und Nennung der bemerkenswertesten Weine.

Forelle blau und schwarze Trüffel hat mich in eine vergangene Epoche des Reisens und Essens (und der Verwendung des Worts „vorzüglich“) mitgenommen, ich fühlte mich wie in einem amerikanischen Film gleich nach dem Krieg. Nebeneffekt: Ich habe mir ganz fest eine Fressreise durch Frankreich vorgenommen.