Archiv für March 2010

De puta madre

23. March 2010 | von Kaltmamsell

Junot Díaz, The Brief Wondrous Life of Oscar Wao

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Auf Seite 2 von The Brief Wondrous Life of Oscar Wao macht Junot Díaz klar, dass man sich nicht auf irgendein Buch eingelassen hat: Gleich nach dem ersten Umblättern gibt es die erste Fußnote – die die Hälfte der Seite einnimmt. Und gegenüber steht gleich noch eine. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Menge Leser das Buch an dieser Stelle augenrollend weglegen. Was ein Fehler wäre.

Ihnen entginge die Sprache, in der dieser 2008 veröffentlichte Roman erzählt wird: Eine Mischung aus Nordamerikanisch und dominikanischem Spanisch (ca. 97 zu 3), ausgesprochen mündlich (ab der Hälfte glaubte ich, den Text geradezu zu hören), ganz organisch. Leser, die überhaupt kein Spanisch können, haben mir übrigens versichert, dass sie das ebenso empfunden haben.

In umgekehrt chronologischen Kapiteln entsteht eine Familiengeschichte, die auf der Dominikanischen Republik beginnt und in New Jersey endet. Die zentralen Figuren sind Oscar Wao, der unglückliche und lebensunfähige Ultra-Nerd (der auch noch den Anschluss an das Nerdtum verliert, als Rollenspiele von Magic-Karten abgelöst werden), seine harte, und doch fürsorgliche Schwester Linda, seine furchteinflößende Mutter Beli und der Erzähler.

Junot Díaz lässt einen Erzähler präsent werden, der sich beim Schildern des Lebens von Oscar Wao und seiner Vorfahren aller Bildungseinflüsse bedient, die den handelsüblichen Nerd der 80er und 90er geformt haben: Popkultur (allem voran Lord of the Rings), Science Fiction in Pulp und Film, Mainstream-Comics von Marvel und DC, sonstige Grafic Novels (1). Aber auch griechische Mythologie taucht auf (der immer wieder auftauchende dominikanische Fluch Fukú wird zum Beispiel und durchaus nachvollziebar auf eine Stufe mit dem Fluch der Atriden gestellt), selbst ein wenig Latein. Diese Mischung ist unglaublich lebendig und wirkte auf mich kein bisschen aufgesetzt. Straßenslang auf der Basis unzähliger Anspielungen auf Popkultur kann erheblich besser sein als selbstgefälliger pubertärer Schwachsinn.

Ein Bonus sind die Fußnoten. Sie dienen keineswegs konstruierter Erzähltechnik, sondern fungieren als echte Anmerkungen: Sie erklären – in der Sprache des Romans und immer an passendem Anlass aufgehängt – die letzten 100 Jahre Geschichte der Dominikanischen Republik, vor allem die Trujillo-Diktatur. Der Roman funktioniert auch ohne diese Hintergründe, doch sie sind zu fesselnd erzählt, also dass man sie weglassen möchte. Auch wenn es vermutlich töricht wäre, sie als belastbare Geschichtsschreibung zu lesen.

Die besondere Sprachmischung von Junot Díaz (spricht man seinen Vornamen spanisch, also „Chunott“ aus?) kann man derzeit an einer seiner Geschichten nachlesen, die im New Yorker veröffentlicht ist.

(1) Nein, ich halte es nicht für Allgemeinbildung, diese Genres zu kennen oder auch nur zu erahnen, worauf sich die Anspielungen beziehen: 13 Jahre Zusammenleben mit einem fast ebenso waschechten, allerdings sozial kompatiblen Nerd haben bei mir tiefe Spuren hinterlassen.

Frühlings Erwachen im Bürgerkrieg

20. March 2010 | von Kaltmamsell

Ana Maria Matute, Doris Deinhard (Übers.), Erste Erinnerung

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Der Empfehlung unter meinen Gedanken zum Polnischen Reiter folgend habe ich mir Ana Maria Matutes Roman Erste Erinnerung von 1956 besorgt. Die deutsche Übersetzung (Doris Deinhard) ist seit Jahrzehnten vergriffen, so kam ich an ein schönes ausgemustertes Bücherei-Exemplar, Deutsche Verlagsanstalt 1965 (ein Hoch auf das Internet – noch vor 15 Jahren hätte ich mir gut überlegt, wie wichtig mir das Buch ist und sehr vielleicht eine Suche im Börsenblatt des Buchhandels aufgegeben, wahrscheinlich aber auf die Lektüre des Buches verzichtet).

Es ist die mittägliche Sommerhitze, die sich mir am stärksten eingebrannt hat. Matute findet immer neue Vergleiche und Metaphern für die lautlose Gewalt, mit der die spanische Sonne auf die Tage eindrischt. Erste Erinnerung erzählt aus der Ich-Perspektive der 14-jährigen Matia einige Monate aus der Zeit des spanischen Bürgerkrieges. Sie lebt in der Villa ihrer feinen und landbesitzenden Großmutter, Mutter tot, Vater ist wegen irgendwas mit dem Krieg nicht da. Die Geschichte setzt ein, nachdem Matia aus einem feinen katholischen (natürlich) Internat geflogen ist, wegen Widerborstigkeit. Am meisten erzählt Matia von ihrem etwa gleich alten Vetter Borja, dessen Name nicht zufällig an das Geschlecht der Borgia erinnert – er ist ein verschlagenes Biest, von dem sich Matia dennoch angezogen fühlt.

Der Roman erzählt von den Tagen, die mit ein wenig Privatunterricht und vielen Ermahnungen unterbrochen werden, von Ausflügen an den Strand, von geheimnisvollen Palastbewohnern und den Geschichten, die man sich über sie erzählt, von angestrengten Bandenkriegen, die Mädchen natürlich ausschließen, von Landarbeitern, die einfach verschwinden und als zerschlagene Leichen unter Felswändern wieder auftauchen. Die Geschichte mäandert und entsteht erst aus den vielen Versatzstücken von Matias Wahrnehmung – die meisten Zusammenhänge sind ihr selbst nicht klar. Gerade politische oder militärische Vorgänge bleiben völlig im Vagen – wie es eben ist, wenn der Erzähler weder involviert ist noch eine Vogelperspektive einnehmen kann.

Meisterlich gezeichnet ist vor allem die Innenwelt eines Teenagers, der zwar seine Regungen und Impulse registriert, sie aber überhaupt nicht einordnen oder kanalisieren kann und sich dadurch als hilfloses Opfer seiner Affekte fühlen muss. Matia weiß bis zum verheerenden Ende schlicht nicht, wie ihr geschieht.

Erste Erinnerung ist der erste Teil von Matutes Trilogie Die Krämer. Den zweiten Teil, Nachts weinen die Soldaten, habe ich umgehend bestellt. Wieder im Internet-Antiquariat.

Die kleine Schwester der großen Liebe

9. March 2010 | von Modeste

IMG_0019Irinas Buch der leichtfertigen Liebe, Tim Krohn

Manchmal sitzt man mit Freunden an einem Tisch irgendwo und spricht über die Liebe wie über eine ernsthafte Krankheit mit mal mehr, mal weniger schwerem Verlauf. Wie ein siamesischer Zwilling hängt an solchen Tagen an der Liebe das Problem, alles erscheint unglaublich problematisch, so schwer wie ein Wackerstein und so dunkel wie Schwarzbrot. Manchmal aber, seltener, wirft die Liebe alles ab, was muffig ist, tanzt in Chiffon und mit losen Locken barfuß über grünen Rasen, und verstrickt alles, was ihr in die Quere kommt, mit leichten Girlanden aus Rosen, grünen Blättern und Duft. In diesen Momenten wird es dann richtig gefährlich.

Einen Anstoß braucht es dazu kaum. Bisweilen reicht – wie in diesem charmanten Buch des mir bisher völlig unbekannten Herrn Krohn – eine falsche Faxnummer, und die Verhältnisse beginnen zu schwingen. Aus einem russischen Ehepaar in Paris, einer alten Freundin, deren Assistenzarzt, einem kleinen Kind (und einem zweiten noch viel kleineren) und einer ehemaligen Geliebten aus Schweden wird ein luftiges Ballett aus Sommer und begehrten, begehrlichen Körpern. Nichts sieht ernsthaft aus,  alles zeigt sich auf einmal von ganz anderer, appetitlicher, duftender Seite, und vor den Kulissen von Moskau und Paris und einem Seebad am Atlantik zieht der Erzähler eine kleine Geschichte auf, die so luftig erscheint wie ein Baiser. Als sei dies noch nicht genug des Unernstes, der lachend-augenzwinkernden Plauderei, bindet Krohn sein Romanpersonal in eine Rahmenhandlung ein, die wiederum eine Liebesgeschichte erzählt, mit Irina nämlich, der über die 170 schnell gelesenen Seiten die Liebe ausgemalt wird, wie wir alle sie uns bisweilen wünschen: Als ein lachender, tanzender Puck, des großen Pan kleine, spitzohrige Schwester, der man sogar ein paar sprachliche Schwächen und handfeste Klischees verzeiht wie einem hübschen Kinde Sommersprossen oder ein ganz, ganz leichtes, reizendes Lispeln.

Die Briefe der Anderen

7. March 2010 | von engl

Herzzeit, Ingeborg Bachmann, Paul Celan

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Wer schreibt heute noch Briefe, mit der Hand, und lässt sie von der Post transportieren? Ich so gut wie gar nicht, nicht mehr. Ich kann mich aber erinnern, dass ich das früher einmal getan habe. Viele Briefe sogar, seitenweise. Neulich habe einen ganzen Stapel davon zurückerhalten. Von meiner Cousine, die sie über Jahrzehnte hinweg aufbewahrt hat. Offensichtlich hält sie sie für etwas Besonderes. Ich kann das nicht beurteilen, ich kann mich auch kaum erinnern. Und ich habe mich noch nicht getraut, einen Blick hineinzuwerfen.

Ich weiß einfach nicht, ob ich die Briefe dieser Fremden, etwa 17jährigen einfach so lesen darf. Schließlich gibt es ein Briefgeheimnis.

Die Post der Anderen bekommt man normalerweise nicht einmal zu Gesicht, schon gar nicht ihre Briefe. Ausnahmen gibt es nur bei bekannten Persönlichkeiten, deren zufällige Nachlässe jahrzehntelang in irgendwelchen Archiven aufgehoben werden. Bis sie dann in Buchform erscheinen. Auch da weiß ich manchmal nicht so recht.

Warum den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan lesen? Ihre Liebes- und Streitbriefe, Höflichkeits- und Geschäftspost, Telegramme, Karten und Entwürfe, entstanden zwischen 1948 und 1961. Zwei längst Gestorbene, beide einen ganz eigenen, einsamen Tod. Alles mehr oder weniger privat, wenn man das Leben und Schreiben berühmter Dichter als privat betrachten möchte. Abschied und Wiedersehen, Hoffen und Warten, alles immer nur Versuch. Das Leben und Dichten der Anderen.

Diese Vokabeln und diese Welt!

Geht mich das etwas an? Muss mich das interessieren, weil die beiden heute zu Recht als herausragende Gestalten der deutschen Nachkriegsdichtung gelten?

Es gibt zwei Arten, dieses Buch zu lesen, eine davon ist die literaturwissenschaftliche. Mit einem ausführlichen Apparat versehen, Kommentar, Nachwort und verschiedene Register, ein editorischer Bericht, ausführliche Stellenkommentare, Siglen und eine nützliche Zeittafel, ist diese Version gut bedient.

Man kann aber auch einfach nur die Briefe lesen. Und genau das sollte man tun. Weil man sonst wunderbar wahre Sätze verpasst.

Nichts ist wiederholbar, die Zeit, die Lebenszeit hält nur ein einziges Mal inne, und es ist furchtbar zu wissen, wann und für wie lange.

Und die Tatsache, dass der wohl wichtigste Brief zwar geschrieben, aber am Ende nie abgesandt wurde.

Dörfliches Elend

6. March 2010 | von Kaltmamsell

Patrick Findeis, Kein schöner Land

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Sein Text hatte mir von allen Bachmann-Kandidaten 2008 am besten gefallen: Allein schon der Schauplatz heutiges Dorf, und dann die schlichte Sprache. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ich endlich den ganzen Roman lesen würde, dem er entnommen war.

Die Langstrecke hielt, was der Ausschnitt versprochen hatte: Dichtheit und Unverblümtheit, die weder tümeln noch romantisieren noch lamentieren. Ich hatte dieses süddeutsche Dorf sofort vor Augen, in dem fast keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, in dem aus jeder stillosen Fassade, aus jedem ungenutzten Schuppen, aus jeder angemoosten Eternitplatte, aus jeder handrenovierten Kapelle Leere und Sinnlosigkeit sprechen. Diese Details brauchte Findeis gar nicht zu erwähnen – ich dachte sie mir automatisch dazu, ebenso wie die Läufer im PVC-ausgelegten Korridor und das Eichengestell der Deckenlampe im Jugendzimmer.

Findeis zoomt sich aus einer Ferne heran: Im ersten Kapitel tauchen noch spanische Ortsnamen auf, jemand dort findet zwei Telefonnummern aus dem Dorf in seinem Adressbuch. Die zweite Ferne ist eine Stadt, von der aus ein zweiter Jemand sich auf den Weg zum Dorf macht. Mit ihm treffen auch wir ein.

Zunächst wirkt die Umgebung, in der erzählt wird, nur etwas langweilig – Land ohne Landleben halt. Dann kommen die Figuren immer näher, die jetzigen Enddreißiger werden ab ihrer frühen Kindheit, wenn auch nicht durchgehend chronologisch erzählt. Vier Männer aus diesem Dorf bilden das Gerüst der Handlung, nur einer hat in der Gegenwart der Erzählung noch regelmäßig Kontakt dazu. Die Geschichte entfaltet sie und ihre Fluchtversuche, webt das Netz der menschlichen Verbindungen: Die Dorfbewohner, die erst nach dem Krieg als Flüchtlinge hierher gekommen sind und nie ganz akzeptiert wurden; der Kleinunternehmersohn, der aufs Gymnasium durfte und seinen Grundschulfreund dadurch einsam zurückließ. Alle Figuren des Romans sind verlassen, ihre schlichten Versuche, sich Aussichten und Zukunft zu schaffen, scheitern wieder und wieder, bis sie mürbe von Unglück sind. Auf ganz banale Weise.

(Allerdings interessiert mich sehr, wie jemand das Buch liest, der keine süddeutschen Dörfer samt ihrer Jugend kennt.)