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Post-Gastarbeiter-Literatur

11. March 2012 | von Kaltmamsell

Pia Ziefle, Suna

Pia Ziefle kenne ich aus dem Internet, als Blogautorin und als Kommentatorin in meinem Blog. So wusste ich schon lange, dass Abstammung aus verschiedenen Kulturen sie beschäftigt. Jetzt ist aus dieser Beschäftigung ein Roman geworden, der wohl das Dichteste, Kräftigste und Kunstfertigste ist, was ich seit Langem an deutscher Literatur gelesen habe.

Westliche Literatur, die aus einer Geschichte von Migration und Mischung verschiedener Historien und Kulturen entsteht, kenne ich aus Großbritannien: Dort hat postcolonial literature seit Jahrzehnten eine auch literaturwissenschaftlich erfasste eigene Tradition. Beispiele reichen von Doris Lessing über die Bücher von Salman Rushdie bis zu Andrea Levy, Small Island. Das Pendant in Deutschland beginnt sich gerade erst zu bilden, ich nennen es testweise Einwandererliteratur. (Ist eine Germanistin im Raum, die mir den Stand der Forschung berichten kann und ob es vielleicht schon einen üblichen Terminus gibt?) Und Pia Ziefles Suna beweist aufs Großartigste, wie groß die literarische Lücke ist, die durch dieses Genre gefüllt werden muss.

Die deutsche Gesellschaft und vor allem die Politik haben sich viele Jahrzehnte lang dem Umstand verweigert, dass Deutschland ein Einwanderungsland war und ist. Die Konsequenzen dieser Verweigerung baden wir gerade aus und werden es noch lange tun. Die literarische Verarbeitung dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit ist sicher nicht der schlechteste Weg, die Komplexität der deutschen Einwanderungsgeschichte sichtbar zu machen.

Suna tut das auf ganz individuelle Art. Die Hauptperson und Erzählstimme, Luisa, erzählt ihre höchst besondere Geschichte. Sie ist einerseits nicht denkbar ohne die Ereignisse im Nachkriegsdeutschland, andererseits aber überhaupt nicht repräsentativ für eine Generation oder auch nur beispielhaft für eine Gruppe von Menschen – und macht dadurch die Vielfalt von Auswirkungen erlebbar. In den sieben Nächten vor ihrer Reise in den Heimatort ihres leiblichen türkischen Vaters erzählt Luisa ihrer kleinen Tochter die Geschichte ihrer Vorfahren, einschließlich ihrer selbst. Luisa ist eine gequälte Seele, die nicht nur die eigenen Narben einer Aufgabe durch die leiblichen Mutter und der Zerrissenheit zwischen verschiedenen Familien trägt, sondern auch die Last ihrer Vorfahren: Der jugoslawischen Seite mit Armut und Existenzkampf bis hin zum Bürgerkrieg. Der türkischen mit Entwurzelung, Enttäuschungen und Abfinden mit Unausweichlichem. Der deutschen Adoptivfamilie, gelähmt vom Trauma des Zweiten Weltkriegs, den Gräueln und der Schuld.

Mir wurde überraschend klar, wie eng deutsche Kriegserlebnisse und Vertreibung mit der Gastarbeiterzeit verwoben sind. Dabei hätte mich das eigentlich nicht wundern sollen, denn mein spanischer Gastarbeitervater hat die 1945 geborene Tochter einer polnischen Zwangsarbeiterin geheiratet, sein bester Freund, ebenfalls Gastarbeiter aus Spanien, eine Vertriebenentochter aus Schlesien. Dennoch ist mir erst durch Suna bewusst geworden, dass es keine Generation dazwischen gab, dass die Einwanderer der 60er und 70er Jahre in Deutschland auf Menschen trafen, die durchwegs vom Krieg traumatisiert waren. (Dabei hatte mir mein Vater doch noch erzählt, wie seine ersten deutschen Kollegen in der Nürnberger Fabrik ihm den Tipp gaben, sich gegen die Kälte mit Zeitungswickeln unter der Hose zu wappnen – das hatten sie im Krieg in Russland gelernt.)

Die Erinnerungen der Erzählerin in Suna sind dicht und reich. Kapitelweise und darin abschnittsweise wechselt die Szene, wechselt die Zeit. Verschiedene chronologische Erzählstränge greifen die Geschichten von deutschen Adoptiveltern, von jugoslawischer Mutter auf und vom türkischen Vater. Dazu kommt Luisas Geschichte ab dem Moment eigener Erinnerungen – je älter und bewusster Luisa wird, desto größeren Raum nimmt ihr Leben in der Erzählung ein. Am Ende des Romans haben alle Erzählstränge zueinander gefunden und verknüpfen sich. Die große Begegnung aber bleibt ausgespart, wir bekommen glücklicherweise keine Erlösung oder Heilung geliefert.

Die sprachlichen Mittel wechseln dabei ebenso reich je nach Zeit und Szene, setzen den Tonfall und die Stimmung. Meist wird sehr mündlich und leicht erzählt, doch es scheinen Märchenwendungen auf (der Rahmen der sieben Nächte lässt ohnehin Sheherazade anklingen), andere Passagen bestehen aus innerem Monolog und fast freier Assoziation.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Klappentext die richtigen Leser anspricht: „Was alles aus Liebe geschieht – eine deutsch-türkisch-jugoslawische Familiengeschichte“ – der Roman ist so groß und wichtig, dass er dringend in die Feuilletons der großen Tageszeitungen gehört (Herr Seibt?).

Frauenbuchlaunigkeit oder Tragikomik?

25. January 2012 | von Kaltmamsell

Mariana Leky, Die Herrenausstatterin

Fantastische Elemente in Romanen sind schwierig, selbst wenn sie als magic realism konstruiert sind: In einer sonst alltäglichen und realistischen Umgebung rutschen sie leicht ins Niedliche, vor allem in Frauenromanen. Und das ist vermutlich mein Problem mit Die Herrenausstatterin von Mariana Leky. Die Ich-Erzählerin Katja hat ihren Mann verloren, erst an eine andere Frau, kurz darauf an den Tod. Ihre überforderte Psyche fantasiert sich daraufhin zwei Männer herbei, von denen der eine zumindest ein Pendant in der Realität zu haben scheint: Den gepflegte alte Herr Blank, soeben verstorben und nun auf dem Rand ihrer Badewanne sitzend, und den Feuerwehrmann Armin, dessen Auftauchen in ihrer Küche ebenso wenig erklärt wird. Der realism dabei ist, dass sie in ihrem Alltag damit problemlos durchkommt. Das funktioniert erzählerisch nur durch einen gewissen launigen (Sie merken vermutlich, dass ich überdurchschnittlich empfindlich auf deutsche Launigkeit reagiere) Frauenbuchtonfall, der allerdings auf die meisten Leserinnen den Effekt der Tragikomik zu haben scheint – darauf lässt zumindest das Echo in Blogs und Frauenzeitschriften schließen. Zu meinem großen Bedauern funktionierte das bei mir nicht: Mich machte der Roman ratlos – ein interessanter Versuch, die Verarbeitung von menschlichem Leid zu schildern, aber für mich recht beliebig. Ich bin auch bis zum Schluss nicht mit der Erzählerin warm geworden, habe sie nicht zu fassen bekommen. Ihre Wortwahl und Bildlichkeit waren immer wieder unkonventionell genug, um mich bei der Stange zu halten, aber ich bekam kein Gefühl dafür, wer diese Katja eigentlich ist.

Mit ein wenig gutem Willen lasse ich mich von der Herrenausstatterin an Peter S. Beagles A Fine and Private Place erinnern – auch darin helfen Tote einer Frau über einen Verlust hinweg.

Frau Langstrumpf?

31. October 2011 | von Kaltmamsell

Keri Hulme, The Bone People

Sie ist stark, sie hat unerschöpflich viel Geld, sie sorgt für sich selbst, sie kommt blendend allein zurecht, sie denkt sich Geschichten und Lieder aus, säuft und raucht wie ein Seemann, und sie wohnt in einem merkwürdigen Haus, das sie selbst gebaut hat: Wenn das Haus nicht auf Neuseeland läge, könnte sie die erwachsene Pipi Langstrumpf sein. Kerewin Holme, die Protagonistin des Romans The Bone People von Keri Hulme, wurde innerhalb weniger Seiten zu meiner liebsten fiktiven Figur. Und der Roman zum Highlight meines Lesejahres.

Wir lernen die Künstlerin Kerewin beim Fischfang kennen (wenn wir mal die merkwürdigen Einleitungsseiten beiseite lassen): Sie jagt mit dem Speer in seichtem Wasser. Doch von Anfang an wird sie von Düsternis belastet geschildert, als gequälte Seele – als wäre beim Übergang von Pipi zu Frau Langstrumpf einiges schief gegangen. Kerewin hat eine besondere Wahrnehmung mit einem hohem Grad von Empathie, ist aber oft gefangen im eigenen Zorn.

Die englische Wikipedia (Achtung Spoiler!) fasst die Handlung des Romans als „an unusual story of love” zusammen. Das trifft es gut. Im Zentrum dieser Geschichte stehen neben Kerewin zwei weitere Figuren: Die eine ist Simon, ein etwa sieben Jahre alter Bub, dürr, mit heller Haut und hellem Haar, stumm, eigensinnig, in sich gefangen und eine gequälte Seele. Die andere ist Joe, sein Ziehvater, dunkel, zugewandt und eine gequälte Seele. Der Roman umfasst in etwa das Jahr ab dem Moment des Zusammentreffens der drei, voll Geselligkeit, Gewalt, Ängsten, Qual.

Hintergrund und Bestandteil der Handlung ist die Maori-Kultur, wundervoll organisch einwoben: Weder spricht aus dem Element eine europäische Idealisierung von Urvölkern / Naturreligion / edlen Wilden, noch liest es sich aufgesetzt. Der Trick ist, dass Hulme statt magic realism zu verwenden auf die Magie der Realität setzt: Zum Beispiel tauchen Heilpflanzen auf, doch sie werden nur en passant erklärt – und nicht nur die Maori nutzen sie, sondern jeder interessierte Einwohner. Es gibt Amulette und Rituale, auch sie durch nüchterne Beschreibungen und Erklärungen geerdet, ohne sie zu entzaubern. Es wird schlicht nachvollziehbar gemacht, warum sie wohl tun können und warum sie manchmal schaden. Lediglich in einem Kapitel ist der Maori-Mythos explizit das Hauptthema und erklärt ihn vordergründig – was es für mich zur schwächsten Passage des Buches machte.
Dialogen sind immer wieder Maori, unübersetzt – und ich entdeckte erst auf den letzten 30 Seiten, dass das Buch am Ende ein Glossar enthält. Machte fürs Verständnis keinen großen Unterschied.

Der Roman erzählt mäandernd, aber insgesamt linear aus der Sicht wechselnder Personen, hauptsächlich der drei Protanisten, aber auch aus der Perspektive von Nebenfiguren. Meist sind die Übergänge nicht markiert, doch es hilft dem Lesefluss, dass die zahlreichen inneren Monologe eingerückt sind.

The Bone People ist eine lange, große, tiefe Geschichte; ich glaube gern, dass Keri Hulme vor der Veröffentlichung 1983 zwölf Jahre daran gearbeitet hat. (1985 wurde der Roman mit dem Booker Prize ausgezeichnet, eine damals sehr umstrittene Wahl, unter anderem weil es sich um einen Erstling handelte). Selten habe ich emotionale Verschlingungen zwischen Menschen so eindrücklich dargestellt gelesen. Bis zu den letzten 50 Seiten war schon so viel zwischen den dreien schief gegangen, dass ich innerlich um ein halbwegs gutes Ende flehte – gleichzeitig aber mit hochgezogenen Schultern auf die völlige Katastrophe gefasst war.

Deutsche Nachkriegsgeschichte, bevor Guido Knopp sie erfand

16. March 2011 | von Kaltmamsell

Hans Scholz, Am grünen Strand der Spree

(Antiquarisches Buch in 50er-Arrangement, der Geflügelsalat wird explizit erwähnt.)

Auf Am grünen Strand der Spree brachte mich ein SZ-Artikel zum 100. Geburtstag von Hans Scholz: Nachkriegsberlin als Ort eines Episodenromans von 1955 klang interessant. Und nun verzeichne ich einen neunen Meilenstein in meiner persönlichen Lesegeschichte.

(Warnung: Der Wikipedia-Eintrag gleichen Titels bespricht die Fernsehverfilmung von 1960 und verrät alles.)

Der Rahmen der Handlung ist ein Treffen alter Freunde in einer westberliner Bar der früheren 50er. Der Erzähler ist ein Hans Schott, der den Auftrag hat, den aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Hans-Joachim Lepsius aufzumuntern – muss dieser doch nach den Grauen der vorhergegangenen Jahre auch noch das Scheitern seiner Ehe verarbeiten.

In dieser Bar, dem Jockey-Club (unbedingt deutsch auszusprechen), ist die Stimmung zunächst ein wenig steif. Aber schon in dieser Phase erinnerte mich die Art der sprachlichen Launigkeit sehr an Walter Kempowskis Tadellöser & Wolff; im weiteren Verlauf des Romans erklingt dann auch „immerhinque!“. Die Herren haben sich als Programm vorgenommen, einander Geschichten zu erzählen. Lepsius hat die Aufzeichnungen des gemeinsamen Freundes Jürgen Wilms dabei, den er in russischer Gefangenschaft zurücklassen musste. Er liest sie vor: Polnische Naturidylle Ende der 30er wechselt sich mit der Schilderung von Grausamkeiten gegen die örtlichen Juden ab, mit derselben Detailgenauigkeit und Empathie. Unterbrochen werden diese Beschreibungen durch die Briefe der gänzlich dummen und albernen Verlobten von Wilms, die damals gerade in Italien mehrmonatige Ferien mir ihren Eltern machte.

So bitter und ernst aber ist keine der nachfolgenden Geschichten mehr. Immer wieder kehren wir in den Jockey-Club zurück, zu weiteren „Lagen“ White Lady, Henkell trocken, Canadian, Weinbrand. Mit der Stimmung werden auch die Erzählungen heiterer. Fühlte ich mich zunächst an Platons Gastmahl erinnert, entwickelt sich der Abend mehr und mehr zum Dekameron und zu den Canterbury Tales. Wir hören unter anderem von einem deutschen General stationiert in Norwegen an der Grenze zu Finnland (Offizierskasino-Rituale, Freiheitskämpfer, Jagdszenen, väterliche Toleranz), von einer schönen, klugen Frau mit aufregender internationaler Geschichte und ihrer unglücklichen jugendlichen Liebe, vom Besuch des Erzählers beim gemeinsamen Freund Koslowski in der Ostzone wenige Jahre nach dem Krieg, Historisches von den Vorfahren der schönen klugen Frau im 18. Jahrhundert, von der Suche nach einem Gefallenengrab in Kowslowskis Wohnort, und zuletzt – in den frühen Morgenstunden, als die Gesellschaft bereits bei Prärieaustern angekommen ist – eine wilde und platterotische Schelmengeschichte aus einer italienischen Pension.

Die Erzähltechniken unterscheiden sich deutlich, schließlich handelt es sich mal um handschriftliche Aufzeichnungen eines Frontsoldaten, mal um ein Drehbuch-Exposé, mal um Erinnerungen, mal um Fiktion. Die Szenen im Jockey-Club selbst sind meist reine Dialoge, aus denen sich die Handlung indirekt erschließt. Gerade diese Passagen nahmen mich mit in eine vergangene, aber sehr lebendige Welt: Nach Westberlin zwischen Kriegsende und Mauerbau. Die Menschen sind vom Krieg gezeichnet, manche körperlich (Koslowski hat ein Bein verloren, der vorbeischneiende Pianist ein Auge), jeder aber seelisch. Das Wirtschaftswunder ist eindeutig bereits ausgebrochen, doch daran partizipieren beileibe nicht alle.

Am fremdesten und gleichzeitig lebendigsten aber ist die Sprache: Hier spricht eine Generation im ihr ureigenen Jargon – und den bringt niemand zurück, auch nicht ein Guido Knopp, dessen Interviewpartner nur durch den Filter vieler Jahrzehnte erzählen können. Regelmäßig fallen lateinische Zitate, mit fortschreitender Alkoholisierung werden es immer häufiger altgriechische. Sprüche und Ansichten aus der Kaiserzeit werden durch den Kakao gezogen, in den Barszenen schlagen links und rechts One-Liner ein. Ein paar davon habe ich während der Lektüre live getwittert.

Am grünen Strand der Spree ist der einzige Roman, den der emsige Kunsthistoriker und Feuilletonist Hans Scholz veröffentlicht hat. Wie meinte der SZ-Laudator sinngemäß: Damit hatte er wohl alles gesagt, was er dazu zu sagen hatte.

Misanthropie und Romantik

17. November 2010 | von Kaltmamsell

Sibylle Berg, Der Mann schläft

Die Misanthropin, die als Erzählerin im Zentrum von Sibylle Bergs Der Mann schläft von 2010 steht, hat mich meist an Else Buschheuer erinnerte, manchmal auch an Frau Modeste, hin und wieder an Frau Gaga. So sehr war noch keine meiner Buchlektüren von Blogleserei beeinflusst. Else Buchheuer äußert ihre Unbehagen den Menschen gegenüber inzwischen hauptsächlich bei Twitter (z.B. „merke: auf die einleitungsfrage‚ darf ich offen zu Ihnen sein?‘ stets frenetisch den kopf schütteln!“). Frau Modeste ist den Menschen erheblich zugetaner, leidet aber doch hin und wieder an den Durchschnittsexemplaren der Gattung. Gaga wiederum hat kürzlich einige anerzogene Hemmung fallengelassen und zugegeben, wie sehr sie oft menschliche Kontakte als Belästigung empfindet.

Die Erzählerin ist eine nicht mehr junge Frau, die bis in ihr Innerstes am liebsten für sich ist. Die Grundtriebe nötigen sie dazu, ihre Wohnung hin und wieder zu verlassen und mit Menschen in Kontakt zu treten, doch selbst diese Interaktionen kosten sie immer mehr Energie. Das macht die Fassungslosigkeit nachvollziehbar, mit der diese Frau eines Tages vor der Entdeckung steht, dass es einen Menschen gibt, der sie überhaupt nicht stört, in dessen Anwesenheit sie sich sogar wohler fühlt als in dessen Abwesenheit, um den sie sich sorgt, den sie auch ohne erotisches Begehren physisch herbeisehnt.

Die Geschichte hat zwei Handlungsstränge, die einander kapitelweise abwechseln: Der eine beginnt vor vier Jahren und erzählt die Zeit, in der die Ich diesen Mann kennenlernte und ein Leben mit ihm begann. Der zweite spielt in der Gegenwart auf einer Insel vor Hongkong, auf der sich die Frau jetzt ohne den Mann befindet. Die Vergangenheit erzählt sie bis heran an die Gegenwart, in den letzten Kapiteln decken sich die Stränge. Im Zentrum stehen die Liebe und der unerträgliche Schmerz der Erzählerin, erzeugt durch die Lücke, die die Abwesenheit des Mannes hinterlassen hat.

Wieder wünschte ich, ich hätte den Klappentext nicht gelesen: Er nimmt als Tatsache vorweg, was der Roman zumindest im ersten Drittel lediglich als Möglichkeit durchscheinen lässt, nämlich was mit dem titelgebenden Mann, der schläft, los ist. Kann sich eine Autorin dagegen nicht wehren? Hat man ihr erklärt, das Buch werde sich nicht verkaufen, wenn dem Klappentext diese Schlüsselinformation fehlt? Zum wiederholten Mal nehme ich mir vor, Klappentexte erst nach der Lektüre eines Romans zu lesen.

Die Erzählerin drückt sich ausgesprochen manieriert aus – sie scheint nicht nur der Menschen, sondern auch ihrer heimeligsten Wörter überdrüssig. Manchmal treibt sie das bis hart an die Grenze des Hinnehmbaren, zum Beispiel wenn sie einen fehlgeschlagenen Morgengruß mit „versuche ich ihr die Tageszeit zuzuraunen“ ausdrückt.

Fast keine der Personen hat einen Namen, sie sind „der Mann“, „der Masseur“, „die schwierige Bekannte“, „der unsichtbare Herr“, „die Prostituierte“. Ausnahmen sind ein Mädchen namens Kim und ein Cafébesitzer Jack. Die Geschichte all dieser Menschen sind Teil des Romans, mal mehr, mal weniger konventionell erzählt.

Eigentümlich ist der Roman, doch ist er surreal oder bloß nicht-realistisch? Viele Details sind bizarr, zum Beispiel spielen selbst gebaute Archen / Raumschiffe und Ritualmorde eine Rolle. Und die Wahrnehmung der Erzählerin entzieht sich gerne mal normaler Überprüfbarkeit – wenn sie zum Beispiel beiläufig berichtet, dass sie durch ein Fenster einen aus der Schule heimkehrenden Buben beobachtet, der seine Großmutter umarmt und ihr dann ein Beil in den Kopf schlägt. Andere Details wieder widersetzen sich einfach den Erwartungen an realistisches Erzählen: Geld kommt im ganzen Roman nicht vor, nie wird etwas bezahlt, und die materielle Grundlage für einen monatelangen Aufenthalt auf einer asiatischen Ferieninsel ist kein Thema.

Dann wiederum liefert die Geschichte die realistischste Beschreibung von Liebe, die ich je gelesen habe. So kam ich ja auch auf das Buch: über ein Interview mit Sibylle Berg. Die Klischeeliebe der Filme, der Musiktexte, der Werbung will uns nur Dinge und Dienstleitungen verkaufen, so erzählt es auch der Roman – es ist völlig hirnrissig, sich zur Sehnsucht nach dieser Klebrigkeit manipulieren zu lassen. Die Liebe in Der Mann schläft, die einfach dafür sorgt, dass es jemandem dauerhaft besser geht, kommt in der Literatur kaum vor (obwohl sie durchaus romantisch im kulturhistorischen Sinn ist und irrational).

Die Erfindung des Tuntentums

2. November 2010 | von Kaltmamsell

Quentin Crisp, The Naked Civil Servant.

Aber sicher kennen Sie alle Quentin Crisp: Das ist der alte Herr, der im Video zu Stings „Englishman in New York“ fast häufiger im Bild zu sehen ist als Herr Sting selbst.

Quentin Crisp wurde 1908 in Südengland geboren und war eine schrille Gestalt (möglicherweise wurde diese Bezeichnung eigens für ihn erfunden). 1968 veröffentlichte er seine Autobiografie The Naked Civil Servant. Darin beschreibt er, wie er als junger Bursche seine Homosexualität entdeckte, sich bis ins Mark dafür schämte und in einer unwiderstehlichen Purzelbaum-Logik beschloss, sich fortan so zu verhalten und herauszuputzen, dass absolut niemand Zweifel an ihr haben konnte. Womit ich diese Umstände allerdings erheblich schlüssiger zusammengefasst habe als Crisp selbst sie beschreibt. Denn: Zu den vielen Dingen, die dieser bezaubernde Mensch nicht wirklich gut kann, gehört das Schreiben – wie er selbst auch nicht müde wird zu versichern und damit zu belegen, wie oft er vergeblich versucht habe, Selbstgeschriebenes zu veröffentlichen. Aber das macht überhaupt nichts: Crisp ist ein Meister der Bonmots; sein Lebensrückblick dient in erster Linie dazu möglichst viele wundervoll elaborierte Formulierungen unterzubringen. Kein Wunder, dass dieses Büchlein in unserem Haushalt landete, weil der Mitbewohner Quentin Crisp aus seinem Penguin Book of Modern Humorous Quotations kannte.

Crisp gibt freimütig zu, dass er nichts so richtig kann, nicht mal in einem Maß, das ihm einen Gelderwerb sichern würde. Seine Begabung, so stellt er schon in jungen Jahren fest, lag nicht in doing, sondern in being, doch es dauerte sehr lange, bis er davon leben konnte.

Er führt uns durch das halbseidene London der 20er und 30er, durch Schwulencafés und Boheme-Spelunken, durch die damals prosperierenden Werbeagenturen, die ihm hin und wieder Arbeit gaben. Und Crisp teilt mit uns den Spaß, den ihm der Ausbruch des 2. Weltkriegs bereitete.

Viele seiner Beobachtungen sind klarsichtig, viele allerdings himmelschreiender Blödsinn – Hauptsache sie klingen gut. Schließlich war Crisp nach eigener Beschreibung „a shallow and horribly articulate personality“. Einige Beispiele:

Mit Mitte 30 findet Crisp sich zu seiner großen Überraschung mal wieder in echtem Lohn und Brot, und zwar in einem Verlag:

Finding it impossible to take any further interest in myself because I had exhausted all the potentialities of my character, I decided, since I was suddenly surrounded by new people in a new setting, that I would try to devote some attention to them. It wasn’t easy.

Im Vorbeigehen merkt er an anderer Stelle an:

I never understood music. It all seemed to me to be the maximum amount of noise conveying the minimum amount of information.

Crisp interessiert sich sehr für Kinofilme. Doch die Diven der 50er enttäuschen den Verehrer von Brigitte Helm, Greta Garbo und Marlene Dietrich:

…there had to be a mechanical doll whose only recommendation was her infinite availability. The woman who came to embody this ideal to the full was Marilyn Monroe. Her directors persuaded her to flaunt her astonishing sexual equipment before us with the touching defencelessness of a retarded child. She was what the modern young man most desires in life – a mistress who could be won without being wooed. She was the football pool of love.
This was no kind of diet for anyone brought up on Rider Haggard.

The Naked Civil Servant ist ein ungelenkes, exzentrisches Buch. Es hat mir sehr gut gefallen.

Spurensuche in Weinkellern

15. September 2010 | von Kaltmamsell

Alfred Komarek, Himmel, Polt und Hölle, erschienen 2001

Der Klappentext beginnt so:

Ein glühend heißer Sommer im Wiesbachtal. Doch wieder mal trügt die Landidylle. Einer beginnt zu zündeln, aus dummen Späßen werden handfeste Schweinereien, schließlich Sabotage und – Mord.
Simon Polt ermittelt diesmal nicht nur in Wirtshäusern und Kellergassen, sondern auch an einem Ort, den er bislang nur mit respektvoller Scheu betreten hat, dem Pfarrhaus.

Sieht aus wie ein weiterer der im vergangenen Jahrzehnt Mode gewordenen Heimatkrimis? Ist es auch. Dafür aber ein recht netter.

Vor zwei Wochen hatte ich von einer Weinverkostung in Gols aus den Mitbewohner angerufen und ihm atemlos von meinen Erlebnissen des Tages erzählt. Das komme ihm bekannt vor, meinte er, er habe da einen Krimi, der im beschriebenen Ambiente spiele. (Ich glaube: Wenn ich mir in den nächsten 20 Jahren kein einziges Buch mehr kaufte und mich nur durch des Mitbewohners Bibliothek läse, würde mir nicht langweilig.) (Wenn! Keine Angst, Frau Meyer-Clason.) Ich bat den Herrn also, mir das Buch rauszulegen.

Wir befinden uns im niederösterreichischen Weinviertel und sehen die Welt personal erzählt aus der Perspektive des Dorfkriminalers („Gendarmen“) Simon Polt. Wirklich greifbar ist er mir allerdings dennoch bis zum Ende des Buches nicht geworden. Das lag an solchen Kleinigkeiten wie der, dass Polt ganz zu Anfang als „von achtungsgebietender Leibesfülle“ geschildert wird, der weitere Text mir das aber an nichts beweist: Er passt durch jeden Mauerspalt ohne auch nur den Bauch einzuziehen, er setzt sich auf jede noch so kleine Bank, ohne dass diese ächzte, dafür fährt auch die längsten und steilsten Strecken mühelos mit dem Rad – nach und nach passte ich als Leserin mein inneres Bild von dem Herrn an, bis von Leibesfülle nicht mehr die Rede sein konnte.

Das Dorf quillt vor skurriler Gestalten mit skurrilen Lebenswegen über, im Verlauf der Handlung ergänzt durch zwei Wien-Importe, die in Erscheinung und Ausdrucksweise in ein Skurrilitätswettrennen mit der heimischen Bevölkerung geschickt werden. Das ist durchaus originell und nett ausgedacht.

Um Stereotype kommen wir leider trotzdem nicht herum: Der Lehrer sagt „Setzen!“, der Pfarrer wird mit „Hochwürden“ angesprochen und sagt „mein Sohn“, die Lehrerin ist hübsch und lässt jeden Mann, dem sie begegnet, denken, dass er bei ihr jederzeit gerne Schüler gewesen wäre.

Wirklich schön ist das Weinambiente. Es wird sich durch zahlreiche Presshäuser und Weinkeller verkostet, dabei ernst zu nehmend gefachsimpelt. Dass ausgerechnet ein Cabernet Sauvignon zum Mordinstrument wird, könnte man als Kritik an der damaligen österreichischen Mode sehen, angesagte Weinsorten aus USA anzubauen (habe mir dieses Jahr in Gols sagen lassen, man habe damit aufgehört und sich statt dessen autochthonen und regional typischen Rebsorten zugewandt).

Habe mich insgesamt nicht unter Niveau amüsiert, aber keine Lust auf weitere Romane dieser Serie bekommen.

Writer goes Common Reader

21. August 2010 | von Kaltmamsell

Nick Hornbys The Complete Polysyllabic Spree – The Diary of an Occasionally Exasperated But Ever Hopeful Reader von 2004 gehört unbedingt hierher. Darin tut der britische Schriftsteller nämlich genau das, was wir Common Reader hier tun: Er schreibt als Leser über Bücher. Allerdings nicht buch- sondern monatsweise. Das umwerfend Neuartige daran sei, so erklärt Hornby im Vorwort, dass er nicht etwa sachliche und möglichst objektive Rezensionen schreibe, sondern sich als Person sichtbar mache, also zum Beispiel beschreibe, wie er überhaupt an das Buch geraten sei, wann er es gelesen habe, was es ihn ihm auslöse, dass er zum Beispiel durchaus erwähne, dass Bestsellerautor Robert Harris sein Schwager ist (diesen Hinweis bringt er in der Folge fast jeden Monat unter, sei die Anstrengung auch noch so groß). „Willkommen beim Bloggen!“, möchte ich Hornby nachträglich zurufen.

Folge ich also seinem Beispiel. Leider findet sich in meiner Verwandtschaft keine einzige Schriftstellerin, kein einziger Autor, aber – hey! – bei mir hat schon mal eine Übersetzerin von Weltruhm übernachtet, und ich schreibe mich mit diversen Kochbuch-Bestsellerautoren und -autorinnen, zudem bin ich mal mit einer Bachmannpreisträgerin um die Wette geschwommen. Künftig werde ich darauf achten, auf einen dieser Umstände regelmäßig zurückzukommen. Angela Leinen führt in ihrem Wie man den Bachmannpreis gewinnt Nick Hornbys Kolumnen „Stuff I‘ve been reading“ (deutsch: Mein Leben als Leser, Köln 2005) als Quelle auf, die er für das Magazin The Believer geschrieben hat. Nick Hornby mag ich, und mich interessierte, wie er wohl übers Lesen schreibt. Herausgefunden habe ich das in meinem Brightonurlaub.

Hornby tut das vor allem gut und sehr britisch selbstironisch. Deshalb störte es mich keineswegs, dass ich viele seiner Urteile nicht teilte (Ich bitte Sie: Der Mann verstand nicht, was an Eats, Shoots & Leaves lesens- oder auch nur schreibenswert sein sollte.). Aber wie bei jedem guten Blogger erfahren wir in seinen monatlichen Leseberichten, wie es ihm gerade so geht, wie und wo er Bücher kauft, aufbewahrt und liest. Einen großen Einfluss hat seine Fußballleidenschaft (Arsenal), einen weiteren haben seine zwei, im Fortgang des Buches dann drei Söhne, von denen einer Autist ist. Und natürlich kennt er erheblich mehr Schriftsteller und -stellerinnen persönlich als unsereiner – was sein Lesen ebenfalls beeinflusst. (An einer Stelle schildert er seinen Konflikt, wie er seinen Söhnen anerziehen soll, das Rauchen ganzganz böse ist, wo er selbst doch Kurt Vonnegut nur deshalb persönlich kennengelernt hat, weil sie beide rauchen.)

Jede Kolumne beginnt mit der Aufzählung der Bücher, die er im zurückliegenden Monat gekauft hat, und der Bücher, die er gelesen hat. Angela Leinen hat von Hornby die Klage über den unverhältnismäßig hohen Anteil an Romanliteratur übernommen, der sich um Romane und Schriftsteller dreht – wobei Hornby den so bemängelten (z.B. Saturday von Ian McEwan) gleichzeitig hohe Meisterschaft zugesteht. Da er selbst Schriftsteller ist, stellt Hornby fast monatlich eherne Gesetze des Bücherschreibens auf (z.B. Serienkrimis beleidigen jeden Leser, der die Vorläufer nicht kennt), um sie später anhand von Gegenbeispielen aus seiner jüngsten Leseerfahrung zu widerrufen. Sehr sympathisch. Ich wiederum fand mich am besten verstanden in seiner Wut über Klappentexte oder Vorwörter, die das Leseerlebnis verderben. Wie schrieb die Übersetzerin von Weltruhm, die schon mal bei mir übernachtet hat, doch kürzlich:

Wie oft habe ich mir nun schon vorgenommen, keine Klappentexte zu lesen? Waah! Nützt es was, wenn ich hier nichts ausplaudere und Euch sage, „lest den Klappentext nicht“? Tut Ihr das dann wirklich nicht? Natürlich liest man den Klappentext, verdammte Axt! Wie mich sowas aufregt! Mann!

Nick Hornby zürnt speziell den Klappentext- und Einführungsschreibern von literarischen Klassikern:

I have complained in this column before about how everyone wants to spoil plots of classics for you. OK, I should have read David Copperfield before, and therefore deserve to be punished. But even the snottiest critic/publisher/whatever must presumably accept that we must all, at some point, read a book for the first time. I know that the only thing brainy people do with their lives is reread great works of fiction, but surely even James Wood and Harold Bloom read before they reread? (Maybe not. Maybe they’ve only ever reread, and that’s what separates them from us. Hats off to them.) Anyway, the great David Gates gives away two to three major narrative developments in the very first paragraph of my Modern Library edition (and I think I’m entitled to read the first paragraph, just to get a little context or biographical detail)

Ich könnte noch warnen, dass die Lektüre dieses Buches eine deutliche Verlängerung jeder Buchwunschliste nach sich zieht – aber das ahnten sie eh.

Der lange Kaddish

2. August 2010 | von Kaltmamsell

Michael Chabon, The Yiddish Policemen’s Union

Hoffentlich kann ich mir jetzt endlich die Bezeichnung für diese Art von Geschichten merken: Kontrafaktische Literatur, laut meinem in-house Experten eine Untergruppe der fantastischen, wenn nicht sogar Science-Fiction-Literatur. Darunter werden Geschichten zusammengefasst, die historisch alternative Szenarien erfinden, wie Robert Harris mit Fatherland (Hitler hat den zweiten Weltkrieg gewonnen) oder Stephen Fry mit Making History (Was, wenn Hitler nie geboren worden wäre?). Das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg haben ganze Regalmeter an kontrafaktischer Literatur inspiriert, naturgemäß von höchst unterschiedlicher Qualität.

Zu kontrafaktischer Literatur zählt auch The Yiddish Policemen’s Union des Pulitzerpreisgewinners Michael Chabon, und zwar zur hervorragend gemachten. Die mörderische Judenverfolgung im Dritten Reich hat in seinem 2007 veröffentlichten Roman nicht zur Gründung des Staates Israel geführt, sondern zur Auswanderung der europäischen Juden nach Alaska. Die USA haben ihnen dort ein zeitlich befristetes Bleiberecht zugestanden, es hat sich eine jüdische Gesellschaft gebildet, die Stadt Sitka, mit eigener Verwaltung und semistaatlicher Struktur. Eingebettet wird das ganze in das Genre hard boiled, noire Krimi – eine Nebenfigur heißt sogar Spade. Der Roman beginnt so:

Nine months Landsman’s been flopping the Hotel Zamenhof without any of his fellow residents managing to get themselves murdered. Now somebody has put a bullet in the brain of the occupant of 208, a yid who was calling himself Emanuel Lasker.

Das ist deswegen so hervorragend, weil Chabon eine ganze jüdische Gangster- und Polizeiwelt erfunden hat: Die Jargon der Gangstersprache ist Jiddisch (z.B. für Knarre sholem), die Straßen und Gebäude tragen deutsch klingende Namen. In der fiktiven Sprache steckt besonders viel Liebe zum Detail – und viel Komik: Während die im Süden des nordamerikanischen Kontinents lebenden Juden den Spitznamen “Mexicans” tragen, werden die Juden in Alaska von den Mexicans als “the frozen chosen” bezeichnet. (Ich finde das lustig.)

Dazu kommen 60 Jahre alternative Geschichte, die zum Teil erzählt wird, zum Teil auch nur durchscheint. Zum Beispiel ist in dem alten, heruntergekommenen Hotel, in dem der Protagonist Landsman lebt, alles in Esperanto ausgeschildert: Die ersten Siedler hatten erwartet, dass das die gemeinsame Sprache würde. Teil der Handlung ist immer wieder das schwierige Verhältnis mit den Indianern, die in Alaska leben und die mit dem Umstand fertig werden mussten, dass die USA ihnen einfach ein paar Hundertausend Europäer in ihr Wohn- und Siedlungsgebiet setzte. Oder die strengreligiöse Gemeinschaft der Verbover Jews mit ihren Mafia-ähnlichen Strukturen. Nur angedeutet wird, dass auch im Rest der Welt der Krieg ab 1941 einen anderen Verlauf genommen hat, als wir ihn kennen. Das Ganze bildet eine bei aller Tristesse dichte, lebhafte und fesselnde Welt.

Ich mochte auch die (wenigen, zugegeben) Frauen, die in der Geschichte vorkommen. Wir haben zwar die Genre-typische heiße Rothaarige – doch diese Bina ist zum einen Landsmans Ex-Frau, zum anderen seine Chefin. Eine große Rolle, wenn auch in Abwesenheit, spielt Landsmans Schwester Naomi:

Naomi was a tough kid, so much tougher than Landsman ever needed to be. She was two years younger, close enough for everything that Landsman did or said to constitute a mark that must be surpassed or a theory to disprove. She was boyish as a girl and mannish as a woman. When some drunken fool asked if she was a lesbian, she would say: “In everything but sexual preference.”

Der Plot des Romans ist sauber durchkonstruiert, dass der harmlos wirkende Mordfall vom Anfang zur Aufdeckung von immer abgefahreneren und weitreichenderen Verstrickungen führt, ist gut aufgebaut. Und wenn es mal gar zu pathetisch wird, gibt es ja immer den schnoddrigen Tonfall der noire-Vorbilder, in den sich der Roman retten kann. Ich nehme an, als Christian Kracht Anlauf nahm zu seinem missglückten Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, hat er sich das Können erträumt, das in The Yiddish Policemen’s Union resultierte.

So ein Schmarrn

17. July 2010 | von Kaltmamsell

Philip Roth, The Humbling

Paul Auster und Philip Roth kriege ich ständig durcheinander, tut mir leid. Mit beiden machte ich erste Bekanntschaft in einer Amerikanistikübung zu zeitgenössischer Literatur bei Prof. Zapf. Wir trafen uns dazu abends in einem Biergarten, der mittlerweile einer Umgehungsstraße gewichen ist, in jeder Sitzung wurde ein Roman besprochen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil in Literaturseminaren an deutschen Universitäten drei bis vier Romane pro Semester als die Obergrenze dessen gelten, was einem Studenten zuzumuten ist (don‘t get me started) – es handelte sich also um eine Streberveranstaltung (für die es nicht mal einen Schein gab). Die Werke der beiden Herren besprachen wir in aufeinander folgenden Sitzungen, und seither kriege ich sie durcheinander. Ich wusste nur, dass mir der eine Roman gefallen hatte (recht abgefahrene Erzähltechnik) und der andere nicht (irgendwas über einen alten Mann mit Potenzproblemen). Meine Leseumgebung der vergangenen Jahre vermittelte mir, dass Paul Auster doof sei und Philip Roth bemerkenswert, also glich ich meine Erinnerungen an. Sie werden jetzt natürlich fragen, warum ich nicht einfach ins Regal gegriffen habe, um das zu verifizieren. Was soll ich sagen – es hat sich halt nicht ergeben.

Nachdem ich jetzt The Humbling von Philip Roth gelesen habe, werde ich die beiden nie wieder verwechseln. Denn es war Philip Roth mit The Counterlife, in dem über viele Seiten wehleidig über das männliche Altern gejammert wurde (das Bayrische bietet für diesen Tonfall das schöne „wuislat“), wie vorher schon in Zuckerman unbound, und dann ist der Protagonist auch noch Schriftsteller. Dazwischen viel Erotik.

In The Humbling ist der alternde Mann zur Abwechslung Schauspieler, außerdem ist das sehr luftig gesetzte Buch nur 140 Seiten dick. Wir kriegen also dasselbe im Zeitraffer: Schauspieler im Rentenalter verliert Fähigkeit schauzuspielen, wird depressiv, von Frau verlassen, beginnt heiße Affäre mit junger bis dahin Lesbe, das klappt aber nicht, bringt sich um (ups, jetzt habe ich das Ende verraten). Dazwischen viel Erotik. Beim abschließenden Zuklappen des Romans ging mir einzig das Resumee durch den Kopf, das ich als Überschrift verwendet habe.

Während ich in meiner Ausgabe von The Counterlife wenigstens noch ein paar Anstreichungen zu literaturtheoretisch relevanten Passagen gefunden habe, bietet The Humbling nicht mal das. Zumindest macht es sprachlich nichts falsch, Herr Roth kann Handwerk (und muss schließlich die Miete reinkriegen; für die Veröffentlichung eines Romans ein besserer Grund als viele andere).

Und weil in Konsequenz der andere das Buch geschrieben haben muss, das mir 1993 im Seminar gefiel, gehe ich jetzt hin und lese nochmal Paul Austers New York Trilogy.