Autor-Archiv

Johanna Straub: Das Beste daran

9. September 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Sonst, wenn sie zu Hause sind, ist er derjenige, der anfängt, der weiß, wie es geht, die Zeit zwischen ihnen anzuhalten, derjenige, der Berührungen verwandelt in solche, die das Gegenteil von flüchtig sind und wichtig und unabdingbar, wenn er seine Hand auf ihren Bauch legt, liegen lässt, schwerer werden lässt und nach oben streicht, das Hemdchen, das sie beim Schlafen trägt, zusammen mit ihrem leichtern Widerstand beiseiteschiebt wie einen lästigen Schleier, während er etwas in ihr Ohr flüstert, das sie zum Lachen bringt, weil es sie kitzelt und weil Lachen vielleicht dagegen hilft, dass sich all die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufrichten und dass ihre Knie weich werden, das dürfen sie jetzt, weil sie liegt, und die Knie müssen sie gerade nicht tragen, ihre Arme können sich um seinen Nacken schließen, ihre Augen dürfen zufallen und seine dann auch, und die Bilder der Gedanken dürfen blasser werden, bis es dahinter hell wird, weiß und gleißend, und die Struktur nachlässt, bis es eine helle, weiße Fläche wird, in der sie sein können, ohne dass da noch irgendetwas anderes wäre außer dem Licht, von dem da so viel ist, und noch mehr – aber jetzt ist sie diejenige …

Ui, jetzt so beim Abtippen klingt das ja erstens nach höllenlangen Sätzen und zweitens ein bisschen esoterisch mit dem Licht und dem Weiß und so. Aber so ist das gar nicht.
Jette und Marvin, Mo, Ruben, Per, Anna, Alexandra und die anderen sind alle in dem Alter, in dem man sich mal entscheidet. Wer jemanden hat, muss entscheiden, ob man zusammenbleibt, und wenn ja, ob man Kinder bekommt (und was man tut, wenn es nicht klappt). Wer niemanden hat, sucht. Und alle haben eine Vergangenheit, in die wir auch einen Blick werfen.
Ich musste beim Lesen immer wieder an PeterLichts Trennungslied denken; hier geht es zwar nicht um Trennung, sondern um das zwischen den Trennungen, um die Beziehungen nämlich, aber es ist ein ebensolcher Reigen wie bei PeterLicht: einer kennt den anderen, aber seine Frau nicht, die wiederum mit der nächsten befreundet ist und in der Vergangenheit wieder mit einem anderen zusammen war, und so weiter. Natürlich läuft keine Beziehung einfach so rund, jede hat ein anderes Problem, jede geht anders mit ihren Themen um.
Und wenn ich neulich über Judith Schalanskys Matrosenroman schrieb, man habe da einen Haufen Puzzlestücke in der Hand, die kein Bild ergeben, so hat man hier ebenfalls Puzzlestücke, die aber ein sehr genaues Bild ergeben. „Portrait einer Generation“ steht hinten drauf, das mag eine abgedroschene Worthülse sein, stimmt aber. Sehr schönes Buch, sehr gut zu lesen.
Johanna Straub steht im Regal zwischen Bram Stoker und Botho Strauß.

Johanna Straub: Das Beste daran. 221 Seiten. Liebeskind, 16,90 €

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht. Matrosenroman

6. September 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Ihre Großeltern wohnten am Meer. Sie wurden nie müde zu betonen, dass sie dort wohnten, wo andere Urlaub machen. Die Großmutter sagte es auch an diesem Morgen, als sie dem Großvater auf der Veranda Kaffee nachschenkte. Er stoppte sie mit einer Handbewegung. Neben ihm nickte Jenny, wippte ein wenig auf ihrem Stuhl und schaute aufs Fensterbrett. Dort waren die Schätze der Großmutter sorgfältig aufgereiht: eine Holzpuppe aus Ungarn, eine Vase mit blauäugigen Pfauenfedern, eine flammenfarbene Korallenkette in einer offenen Schatulle, zusammengerollt wie eine Schlange. Etwas abseits lag ein Seeigel.

Der „Matrosenroman“ hat nur gut 130 Seiten in sechs Kapiteln und ist irgendwie gar kein Roman. Kapitel eins, drei und fünf erzählen von Jenny, die immer wieder mal die Großeltern auf Usedom besucht, wo sie mit dem Großvater herumzieht und das Meer kennenlernt. Man geht als Leser davon aus, dass es sich hier um die Kindheitserinnerungen der Autorin handelt, zumal immer wieder private Fotos abgebildet sind.
Die Kapitel zwei, vier und sechs werden von einem erwachsenen „Ich“ erzählt, wohl von der erwachsenen Jenny, die als Kind ihre Faszination für Matrosen entdeckte und sie als Erwachsene immer noch empfindet. Diese Erwachsenengeschichten empfand ich als irgendwie undurchsichtig – sie fährt irgendwohin (Riga, Odessa, New York), sieht etwas, zum Beispiel einen Matrosen, und schweift dann ausgiebig ab in historische Berichte über verschiedene Leute (im Matrosenanzug), sodass wir am Ende die Hand voller Puzzleteile haben, die sich aber nicht recht zu einem Gesamtbild zusammenfügen wollen. Es kommen halt immer wieder Matrosen vor, und die sind ebenfalls abgebildet.
Das Buch macht mich völlig ratlos. Immer wieder wunderschön, schöne Bilder, aber eben nur im Kleinen. Man hat den Eindruck, Judith Schalansky hat ein paar Fotos von Menschen in Matrosenanzügen gesammelt, etwas dazu geschrieben, und bevor sich daraus etwas Zusammenhängendes ergeben konnte, war es schon gedruckt. Was nicht schlecht ist. Aber so ganz hat mir der Matrosenanzug als roter Faden nicht gereicht, auch wenn er als Faszinosum durchaus plausibel wird und das alles sehr poetisch ist.

Judith Schalansky ist ansonsten übrigens die Frau, die den wundervollen Atlas der abgelegenen Inseln verfasst hat, den Sie hoffentlich alle schon längst gekauft haben. Wenn nicht: los.

Judith Schalansky steht im Regal zwischen Marjane Satrapi und Bernhard Schlink.

Katrin Seddig: Runterkommen

27. August 2010 | von Isa

Ja, ja, ja! Leute, es gibt da draußen so viele so tolle Bücher, es ist die wahre Pracht, lest! Lest tolle Bücher, zum Beispiel dieses hier. Es fängt so an:

Als er in seinem schwarzen Mercedes-Benz um die Ecke summt, kneift sie die Augen zusammen und umarmt den sonnenwarmen Stamm.
Mein Freund, der Baum.
Sie pult ein paar Stücke aus der weichen, moosigen Rinde und tritt vor Aufregung mit der Fußspitze gegen das Holz. Von vorn das Ploffen der Wagentür, das Knacken der Verriegelung, sie kennt sein Auto, auf dem Nummernschild seine Initialen und ein Aufkleber: Ich bremse auch für Rentner. Er streckt sich, Arme Richtung Himmel, eine unglaubliche Bläue heute, wie glühendes Metall, Flecken unter den Achseln, sein Ehering blitzt – Ehe, da war doch was – und macht dabei ein Geräusch wie ein Tier aus einem Zeichentrickfilm.

Dani steht hinter einem Baum am Waldrand und beobachtet Erik. Erik ist ein gutsituierter Anwalt mit Einfamilienhaus im Grünen, Frau und zwei Kindern. Dani ist Putzfrau und hat ein Problem. Erik hat auch Probleme, seine Frau ebenfalls, in weiteren Rollen: Tom, Karin, Doreen, Zusanna, Thomasz, Johannes und so weiter: alle haben ihre Probleme, manche eine handfeste Macke, alle wären gern ein bisschen glücklich und sind ein bisschen kaputt. Alle wollen Sex, manche haben reichlich davon, andere nicht. Die meisten trinken, manche mehr, andere weniger.
Irgendwann entdeckt Erik Dani auf ihrem Beobachtungsposten am Waldrand. Er findet es erregend, beobachtet zu werden, eine Weile lang spielen die beiden eine Art Spiel. Bis das nicht mehr gut geht und die anderen alle auf die ein oder andere Weise mit hineingezogen werden. Jeder liebt jemanden, oder auch nicht, schläft aber mit jemand anderem, oder auch nicht, deswegen passiert alles mögliche, und am Ende geht es keinem wirklich besser. Oder vielleicht dem ein oder anderen ein kleines bisschen besser, anderen ein bisschen schlechter. Oder eben auch nicht, man weiß es nicht. Wie im Leben. Und das alles wird in einer Sprache geschildert, die schnoddrig ist und schonungslos und echt und so ehrlich, dass es manchmal weh- und immer guttut, so ohne jeden Kunstwillen, und das muss man auch erstmal können, dass es so wirkt wie einfach so dahingeschrieben, weil es nun mal so ist. Und die Dialoge. Großartiges Buch.
Katrin Seddig kommt im Regal zwischen David Sedaris und Anna Seghers.

David Grossman (Anne Birkenhauer): Eine Frau flieht vor einer Nachricht

25. August 2010 | von Isa

Das zweite Kapitel fängt so an:
Stotternd schlängelte sich die Kolonne aus Zivilfahrzeugen, Jeeps, Militärkrankenwagen, Panzern und riesigen Bulldozern auf Transportern dahin. Der Taxifahrer, mit dem sie fuhren, war still und grimmig, seine Hand lag auf dem Schaltknüppel des Mercedes, sein breiter Nacken bewegte sich nicht, und schon mehrere Minuten hatte er weder sie noch Ofer angeschaut.
Bereits beim Einsteigen hatte Ofer wütend die Luft durch die Lippen gepresst, und sein Blick sagte, das war aber eine tolle Idee, Mama, ausgerechnet ihn für diese Fahrt zu rufen, und erst da begann sie etwas zu begreifen – um sieben Uhr früh hatte sie Sami angerufen, er möge bitte kommen, er solle sich auf eine lange Fahrt einstellen, in die Gegend des Berges Gilboa.

Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Die Frau heißt Ora, und eigentlich wollte sie mit ihrem erwachsenen Sohn Ofer zusammen eine Wanderung durch Galiläa machen, eine Woche lang, zur Feier seiner Entlassung aus der Armee. Jetzt muss Ofer aber doch noch mal hin, in den Krieg. Und Ora flieht, sie flieht vor der Nachricht, dass er gefallen ist. Von dem Moment an, da Ofer nicht mehr zu Hause ist, hält sie es dort nicht mehr aus, weil sie dauernd damit rechnen muss, dass „sie“ kommen, um ihr diese Nachricht zu überbringen. Zum Überbringen einer Nachricht gehören aber immer zwei: einer, der sie überbringt, und einer, der sie empfängt. Wenn Ora einfach nicht da ist, dann kann die Nachricht auch nicht überbracht werden. Sie beschützt ihren Sohn sozusagen, indem sie nicht da ist. Und so macht sie die geplante Wanderung trotzdem, und zwar zusammen mit ihrem Jugendfreund Avram. Und auf dieser Wanderung reden sie miteinander.
Es geht um eine Frau zwischen zwei Männern, und mit zwei Söhnen noch dazu, also sozusagen zwischen vier Männern, und um die komplizierten Beziehungen zwischen diesen fünf Personen – eine sehr intime, persönliche, familiäre Geschichte, in der sich aber die große Politik spiegelt. Anders gesagt: in der der ewige Krieg in Israel, wie wahrscheinlich in den meisten israelischen Familien, eine furchtbare Rolle spielt und die Beziehungen und die Leben aller verändert. Und es geht um Leidenschaft, ebenso um leidenschaftliche Liebe wie um leidenschaftliche Angst, um sich selbst und um andere, bis zur völligen Unvernunft und Panik.
Es ist grausam und grauenhaft, natürlich, und es ist wahnsinnig gut. Ein sensationelles Buch, unglaublich intensiv, 728 Seiten lang, und zwar große und sehr vollgeschriebene Seiten, und es ist kein Wort zu viel. Ich habe ja normalerweise eher Angst vor so dicken Büchern, aber dies wurde mir keine Sekunde zu lang. Anne Birkenhauers Übersetzung ist, ich möchte fast sagen: makellos (Tippfehler zählen nicht). Ich ziehe tief meinen Hut vor dem Autor wie auch der Übersetzerin. Sie haben gemeinsam den Albatros-Literaturpreis bekommen, und David Grossman bekommt dieses Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, was mich wirklich freut. Und Euch lege ich dieses Buch ans Herz. Das ist ein Buch, das bleibt. Und das einen dankbar macht, in Frieden zu leben.
David Grossman bekommt einen Regalplatz zwischen Grimmelshausen und Klaus Groth.

Inka Parei: Die Schattenboxerin

21. August 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Sie ist meine Nachbarin. Seit Jahren leben wir im gleichen Stockwerk. Ab und zu stoßen wir gemeinsam unsere schweren Schlüssel in die Gründerzeittüren. Dann verschwinde ich in meinem Hausflur, einem langen, schmalen Schlauch, belegt mit gelbem Hanf, kaum einen Meter breit. Und sie in ihrem, mit den noch im Einheitsbraun der vierziger Jahre gestrichenen Dielen. Die Farbe ist scheußlich. Matt glänzend und kaum zu entfernen, ähnelt sie dem Kot, den die Schäferhunde hier aufs Pflaster werfen, wenn sie von ihren Besitzern mit rostfarbenen Fertigfutterklumpen ernährt werden.
Seit einer Woche ist es still im Seitenflügel des ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses in der Lehniner Straße, den wir als einzige noch bewohnen, sie und ich.

Die Nachbarin mit dem Namen Dunkel ist plötzlich nicht mehr da. Die Erzählerin bricht aus reiner Neugier in ihre Wohnung ein, mal nachsehen, ob sich da ein Hinweis auf ihren Verbleib findet. Sie selbst lebt illegal in dem abbruchreifen Haus, Dunkel ist die letzte legale Mieterin.
Die Erzählerin selbst heißt Hell und ist „die Schattenboxerin“, denn sie betreibt eine asiatische Kampfsportart. Über diese kleine Albernheit kann man allerdings ganz gut hinwegsehen, zumal man sie eh nur aus dem Klappentext weiß, im Text selbst wird der Name erst spät und auch nur einmal genannt. Ob er stimmt oder ob er an der Stelle ein Scherz sein soll, ist nicht mal klar.
Plötzlich steht ein Mann in Dunkels Wohnung, der sie ebenfalls sucht. Und dann entwickelt sich eine veritable Räuberpistole von Geschichte, deren Eckdaten man leider ebenfalls nicht erst aus dem Buch erfährt, sondern schon im Klappentext serviert bekommen hat. Wie oft habe ich mir nun schon vorgenommen, keine Klappentexte zu lesen? Waah! Nützt es was, wenn ich hier nichts ausplaudere und Euch sage, „lest den Klappentext nicht“? Tut Ihr das dann wirklich nicht? Natürlich liest man den Klappentext, verdammte Axt! Wie mich sowas aufregt! Mann!
Lieber Schöffling-Verlag, da das Buch ja nicht mehr so ganz neu ist (1999), nehme ich an, Ihr habt den Klappentextschreiber inzwischen gefeuert, ja? Gut.

Wo war ich? Das ist nämlich ein tolles Buch. Vor allem, wenn man den Klappentext nicht gelesen hat. Sehr viel heruntergekommene Berlinstimmung um die Zeit des Mauerfalls, ohne dass der besonders thematisiert würde. Spannend zu lesen, dabei wird sehr ruhig erzählt, es spricht eine erstaunliche Gelassenheit aus der Erzählerin, zu der sie eigentlich keinen rechten Grund hat. Dicke Leseempfehlung, schon wieder!

Inka Parei bekommt einen Regalplatz zwischen Orhan Pamuk und Dorothy Parker.

Moritz Rinke: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel

18. August 2010 | von Isa


Der Roman beginnt so:
Seine Kindheit, das hatte die Baufirma Brüning auch gar nicht mehr zu beschönigen versucht, würde in der Mitte auseinanderbrechen, eher früher als später, in zwei Teile.
Der Westflügel, in dem er mit seiner Mutter und ihrer übermächtigen Liebe groß geworden war, mit seinem Großvater, dem Bildhauer, den man den Rodin des Nordens nannte, sowie seiner Großmutter, die jeden Tag norddeutschen Butterkuchen backte – dieser Westflügel des Hauses würde zuerst absacken und im Teufelsmoor untergehen. Dabei würde sich der Ostflügel, in dem der Rest der Familie gelebt hatte, gleichzeitig in die Höhe heben, bis das ganze Haus in der Mitte in zwei Stücke breche. Und dann würde der Ostflügel zurück in den Schlamm fallen und vermutlich früher oder später auch dieser Teil der Familie Kück herabsinken – mit seinen sommersprossigen Johans, den blauäugigen Hinrichs, den Milchkühen und Mördern, dem Schnaps und dem schönen, strohblonden Bauernmodell Marie, das noch heute auf dem Bild eines alten Worpsweders wie ein Gespenst erschien.

Von der einst unübersichtlich großen Familie sind nicht mehr viele übrig; Paul lebt in Berlin und versucht erfolglos, eine Galerie zu etablieren, seine Mutter lebt auf Lanzarote, gibt dort Bewusstseinsseminare und schickt ihm ständig Salat mit der Post, damit er in der vitaminlosen Großstadt etwas Gesundes zu essen bekommt, und im riesigen alten Bauernhaus in Worpswede lebt nur noch Nullkück, der ein bisschen zurückgeblieben ist. Jetzt sackt das Haus ab, und Paul muss hin und sich darum kümmern, dass es neu gegründet wird. Wände einreißen, tief bohren, Beton reingießen.
Eine Reise zurück in die Vergangenheit also, mit reichlich Rückblicken und Erinnerungen, und Moritz Rinke schöpft aus dem Vollen: Nullkück wirft in seiner Jugend vom fahrenden Trecker Liebesbriefe ab, ein veritables Duell geht schief, ein zurückgewiesener Liebhaber klaut den Güllewagen der Nachbarn, die schöne Marie wurde von der Gestapo abgeholt, weil sie Kommunistin war (heißt es), die unfruchtbare Hilde bekommt doch noch ein Kind, außerdem geben sich Willy Brandt und Rainer Maria Rilke bei den Kücks quasi die Klinke in die Hand (das mit Willy Brandt ist durch ein von ihm angebissenes Stück Butterkuchen im Tiefkühler belegt, von Rilke gibt es einen Topf), einer geht nur bei Regen in den Puff und trinkt dort Fencheltee, und bei den Grabungen ums Haus wird Erstaunliches ausgebuddelt, während gleichzeitig die lebensgroßen Bronze-Skulpturen berühmter Männer, die der Großvater angefertigt hat, im Moor versinken. Und alles andere ist auch nicht unbedingt so, wie es aussieht.
Was für ein Buch! Da wird nicht gekleckert, da wird geklotzt und mit Material geprasst, das einem anderen womöglich für vier Romane gereicht hätte. Nichts ist zu grotesk, man muss anfangs oft lachen, und später, man ahnt es schon, ist das natürlich alles gar nicht witzig. Und erfreulicherweise ist am Ende auch nicht alles geklärt. Ich bin jetzt jedenfalls offiziell in Moritz Rinke verliebt und verzeihe ihm sogar ein paar fehlende Genitive und dies und das. Und ich will jetzt unbedingt mal nach Worpswede. Himmel gucken und so. Und mal nachsehen, was tatsächlich vor der großen Kunstschau steht. Und was drinhängt. Lest dieses Buch! Toll, toll, toll.
Danke an Annerose Beurich von stories! für die Empfehlung und für den Satz „man möchte beim Lesen dauernd, dass Detlev Buck das verfilmt“, denn genau so ist es. Und Buck selbst soll den Nullkück spielen.
Moritz Rinke wohnt im Regal zwischen Monika Rinck und Meg Rossoff.

André Brink (Inge Leipold): Kupidos Chronik

16. August 2010 | von Isa

Der Roman beginnt so:
Kupido Kakerlak kroch nicht auf die übliche Weise aus dem Mutterleib, sondern schlüpfte aus den Geschichten, die sie erzählte. Vielerlei Gestalt nahmen sie an, diese Geschichten. In einer hieß es, seine Mutter sei Jungfrau und riemendünn, und niemand habe auch nur geahnt, dass sie schwanger war. Bis der kleine Kümmerling da war. Ein andermal sagte man, sie sei seltsam lange recht deutlich schwanger gewesen, habe einen richtig dicken Bauch gehabt, drei oder vier Jahre lang, ehe dann der Berg eine Maus gebar. Je nachdem, wie sie gelaunt war und in welcher Phase der Mond gerade stand, behauptete sie, es sei gar nicht ihr Kind, sondern einfach von einem Fremden, der zufällig des Nachts vorbeigekommen sei und dessen Gesicht sie nie gesehen habe, in ihrer Hütte abgelegt worden, gleich nach der Geburt; die Nachgeburt habe noch an der Nabelschnur gehangen.

Es ist um 1760. Der Kümmerling Kupido Kakerlak wächst bei seiner Mutter, einer schwarzen Kontraktarbeiterin, auf dem Hof eines weißen Farmers in Südafrika heran. Eines Tages kommt ein fliegender Händler vorbei, dem er sich anschließt; er zieht einige Jahre mit ihm durchs Land und findet nach einem ausschweifenden Leben mit reichlich Frauen und Alkohol schließlich zum christlichen Glauben und schwört der Sünde ab. Kupido Kakerlak lernt in einer Missionsstation Lesen und Schreiben und wird der erste schwarze Missionar Südafrikas. Eine historische Figur, eine wahre Geschichte, wenn auch literarisch aufbereitet, im Nachwort heißt es: „Wiewohl der Roman in seiner vorliegenden Form fiktional ist, beruht er in den wesentlichen Grundzügen auf einer wahren Geschichte.“ Die übrigen (weißen) Missionare beispielsweise sind alle recht gut dokumentiert, Kupido selbst nicht ganz so gut, aber doch auch. Nur am Ende hat der Autor Kupidos tatsächliche Lebensgeschichte ein wenig abgeändert, aus, wie er schreibt „erzählerischen Gründen“, die ich allerdings nicht ganz nachvollziehen kann. Ich meine, man hätte gut bei der Wahrheit bleiben können, aber das mag Ansichtssache sein.
Erzählt wird im ersten Teil von einem allwissenden Erzähler, im zweiten Teil vom Missionar Reverend James Read, am Ende schließlich wieder vom Erzähler, sodass wir zwischen magischem Realismus und frommem Salbadern schwanken. Das salbungsvolle Geschwurbel des Missionars ist außerdem mit reichlich historischen Fakten über die politische Situation in Südafrika am Beginn des 19. Jahrhunderts gespickt; die Gemengelage zwischen Hottentotten, Buschmännern, Khoi, Xhosa, Missionaren, Kolonisten, vertriebenen Farmern, entlaufenen Sklaven, Engländern und Holländern ist nicht ganz einfach zu durchschauen. Ich fand diesen Teil stellenweise ein wenig anstrengend zu lesen, aber das liegt natürlich in der Person des Missionars und der politischen Situation begründet und passt von daher schon.
Mit dem magischen Realismus des ersten Teils kam ich überraschenderweise viel besser zurecht als ich dachte. Naturgeister und so was sind nicht gerade mein Thema, aber hier konnte ich sie gut haben, sie gehören hierhin, sie sind selbstverständlich, und ich bringe ihnen deutlich mehr Verständnis und Wohlwollen entgegen als der Frömmelei und diesem verdrehten Gedanken „Gott hat uns all das Leid geschickt, um unseren Glauben zu stärken“. Andererseits tut die Kirche hier tatsächlich auch Gutes – die Zweischneidigkeit des Missionierens tritt sehr schön zutage, ohne dass irgendetwas gewertet würde.
Ich habe das Buch von der Übersetzerin geschenkt bekommen, weil sie es so sehr liebt. Meine Begeisterung ist nicht ganz so überschäumend wie ihre, aber ich kann sie irgendwie nachvollziehen. Dieser Kupido Kakerlak ist eine faszinierende Person – manchmal möchte man ihn packen und schütteln, damit er zur Besinnung kommt, und genauso oft muss man ihn bewundern. Ebenso wie den Rest der Missionare. Und ich denke auch Tage später noch über Glauben und Aberglauben nach und über Sinn und Unsinn von Missionierungen.

André Brink bekommt einen Regalplatz zwischen Jean Anthèlme Brillat-Savarin und Charlotte Brontë.

Chris Killen: Das Vogelzimmer

8. July 2010 | von Isa

Auf diesen kleinen Roman bin ich wegen einer hymnischen Rezension gestoßen. Die war so toll, dass ich mir sogar einen Teil notiert habe, da schrieb nämlich Stefan Beuse im Titel-Magazin (leider nicht mehr online):

Wenn das also alles ist, geht’s darum auch in Chris Killens wundervoll spleeniger, herzzerreißend neurotischer und abgrundtief trauriger, schräg-schöner Liebesgeschichte Das Vogelzimmer. Aber auf diesen gerade mal 170 Seiten stehen Sätze, die den Himmel aufreißen lassen, die einen schluchzen machen können vor Glück.
Dieser Sprachkosmos ist durchweht von einem ganz eigenen Zauber, der einen so packt, dass die Liebesgeschichte auch auf „technischer“ Ebene funktioniert: Man kann sich als Leser ganz und gar in dieses Buch verknallen, und spätestens an dieser Stelle muss Henning Ahrens für seine Übersetzung gedankt werden, die so unglaublich gut ist, dass man froh ist, nicht den Originaltext daneben zu haben – einfach aus Angst, er könne nicht dieses magische Fluidum aufweisen, diesen sehr speziellen untergründigen Humor, diese Lebensklugheit und Größe.

Erstens kann mich eine solche Übersetzerhuldigung natürlich sowieso schon dazu bringen, ein Buch zu lesen, zweitens kenne ich den Herrn Beuse und habe seine Empfehlungen bisher gern gelesen.

Äh, Stefan? Was ist denn da passiert? Wo sind die Sätze mit dem magischen Fluidum, die den Himmel aufreißen lassen? Wo ist der Sprachkosmos? Ich sehe nur Sätze, die aus Subjekt, Prädikat, Objekt bestehen und nichts weiter. Fast ausschließlich solche Sätze, 170 Seiten lang, das erträgt doch kein Mensch.
Und sich in das Buch verknallen, nun ja, Geschmäcker sind ja verschieden, ich war jedenfalls zunehmend genervt. Die Figuren waren mir auch völlig egal, und wenn ich mich weder in die Figuren verknallen kann noch in die Sprache, dann bleibt nicht viel. Die Vögel vielleicht, aber die kommen ja nur auf den ersten paar Seiten vor, und dann ist unvermittelt Schluss mit Vögeln. Pun intended.

Der Roman beginnt so:
Gemälde kleiner Vögel. Zaunkönige, Rotkehlchen, Wellensittiche (ziemlich viele Wellensittiche). Alle leuchtend gelb, rot, braun, grün, ausgenommen die Taube. Die Taube ist grau.
Ich sitze auf dem Sofa. Sie sitzt neben mir. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen. Zwischen uns ist ungefähr so          viel Platz. Will kocht uns in der Küche einen Tee. Die beiden sind sich hier zum ersten Mal begegnet. Die Idee stammt von mir.

Der Künstler Will (der mit den Vögeln) lernt also Alice kennen, und „ich“, Alices Freund, ist eifersüchtig. „Ich“ heißt zufällig ebenfalls Will. Und dann gibt es noch Helen, die früher Clair hieß. Alles klar? Ich-Will und Alice gehören zusammen, Künstler-Will und Helen gehören noch lange nicht zusammen, aber das soll noch werden, oder auch nicht. Erstmal lernen Künstler-Will und Alice sich kennen und Ich-Will platzt vor Eifersucht. Und am Ende gibt es, wie der Klappentext verspricht, eine überraschende Wendung, die genau die ist, mit der man die ganze Zeit rechnet, die aber trotzdem irgendwie wirr und nicht wirklich verständlich ist.

Es sind ein paar schöne Ideen drin, ja. Aber mir sind die Figuren alle zu krank. Ich will nichts über Paranoiker lesen, das ist mir irgendwie zu simpel, es ist so überzeichnet, dass ich die Figuren nicht ernst nehmen kann. Vor allem dann, wenn nicht eine, sondern sämtliche Figuren Psychopathen sind und niemand auch nur ansatzweise “normal”. Wer ein wirklich tolles Buch über rasende Eifersucht lesen möchte, dem empfehle ich Der Ursprung der Welt von Jorge Edwards. Das ist große Eifersuchtskunst. (Und außerdem eins der schönsten Buchcover aller Zeiten.)

Beuse begann seine Rezension mit einem Hinweis auf das in der Tat schnarchlangweilige Buch „Dshamilja“ von Tschingis Aitmatov, von dem Luis Aragon (und seither jeder Vermarkter) behauptet: „Ich schwöre, das ist die schönste Liebesgeschichte der Welt“. Und er schloss mit dem Satz:
Bevor Rückseitentextverfasser das nächste Mal leichtfertig etwas schwören, sollen sie bitte dieses Buch lesen.
Also, das Vogelzimmer jetzt.
Ich hingegen räume das Vogelzimmer mit demselben Gefühl ins Regal, mit dem ich auch vor Ewigkeiten Dshamilja weggeräumt habe, nämlich: äh, was war das denn? Ich habe außerdem gar keine Liebesgeschichte gelesen, sondern eine Pychopathengeschichte. So gesehen ist die sprachliche Fürchterlichkeit auch wieder passend, das wollen wir dem Buch mal zugestehen. Im übrigen glaube ich, dass Henning Ahrens’ Übersetzung wirklich sehr gut ist. Die Fürchterlichkeit muss vom Autor stammen.
Chris Killen steht im Regal zwischen Irmgard Keun und Esther Kinsky.

Rodolphe Töpffer: Die Abenteuer des Herrn Cryptogam

1. July 2010 | von Isa

ToepfferCryptogam
Rodolphe Töpffer lebte von 1799-1846, war Schriftsteller und Zeichner und zu seiner Zeit sehr beliebt. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Dieser – wie nennt man das? sagen wir: diese Bildergeschichte beginnt so.

Herr Cryptogam ist 37 Jahre alt und ein begeisterter Naturfreund. Wenn er einen Schmetterling fängt, spießt er ihn mit einer Nadel an seinen Hut. Abends nimmt er ihn herunter und ordnet ihn in seine Sammlung ein. Sodann begibt er sich ins Bett. Er träumt genießerisch von Gegenden, die mit aufgespießten Schmetterlingen gepflastert sind.
Während Herr Cryptogam in Schmetterlingsträumen schwelgt, träumt Elvira, 38 Jahre alt, genießerisch von einer baldigen Ehe mit dem Auserwählten ihres Herzens.

Der Auserwählte ihres Herzens ist natürlich Herr Cryptogam, und der ist zwar irgendwie mit Elvira verlobt, interessiert sich aber leider überhaupt nicht für sie und versucht dauernd, vor ihr davonzulaufen. Nach Marseille, dann auf ein Schiff, auf dem sie auch auftaucht, dann wird das Schiff von Seeräubern gekapert, es passiert der hanebüchenste Unfug, zwischendurch landet Herr Cryptogam sogar … aber das erzähle ich nicht. Es ist jedenfalls alles sehr grotesk, im besten Sinne des Wortes. Und immer wieder erwischt Elvira ihn doch, mal zufällig, mal absichtlich, und Herr Cryptogam will immer nur weg von ihr, kann ihr das aber nicht sagen. Zu jedem Satz gibt es ein Bild, das stilistisch sehr an Wilhelm Busch erinnert, und es ist wirklich, wirklich lustig. 200 Seiten, die hat man in einer halben Stunde durch und hat dabei sehr gelacht.

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(Errötend fordert Elvira, dass ein Tag bestimmt werde. Herr Cryptogam bestimmt den Dienstag und fragt, was denn an diesem Tag geschehen solle. Das führt fast zu einer Krise.)

Kostet leider 29,80, aber es ist auch wirklich großartig. Und in Leinen gebunden. Und mit 200 Bildern.
Tipp: Klappentext bzw. Rückseite nicht lesen, denn da wird das Ende ausgeplaudert.

Ich weiß noch nicht, ob Töpffer ins nach Größe oder sowas sortierte Comicregal kommt oder zwischen Willem van Toorn und Friedrich Torberg.

Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China

2. June 2010 | von Isa

RammstedtKaiserDer Roman beginnt so:
Dass mein Großvater zu dem Zeitpunkt, als mich seine vorletzte Postkarte erreichte, bereits tot war, konnte ich nicht wissen. Ich hatte sie ungelesen beiseite gelegt, so wie ich auch die vorangegangenen Postkarten beiseitegelegt hatte. Gemeinsam mit den Rechnungen und Wurfsendungen, zwischen denen sie fast täglich lauerten, bildeten sie unter dem Schreibtisch einen immer waghalsigeren Stapel, den ich mit einer alten Zeitung abdeckte, auch wenn das wenig half, ich wusste schließlich, was sich darunter verbrarg.

Hurra! Was für ein sensationell beknacktes Buch! Bisher war alles, was ich von Tilman Rammstedt gelesen habe – nämlich alle Bücher, die er sonst noch veröffentlicht hat: Erledigungen vor der Feier und Wir bleiben in der Nähe – wahnsinnig klug und so, dass man am liebsten dauernd alles zitiert hätte. Und immer lag irgendwo unten drunter so ein grandioser Humor, der nie dumme Witze machte, sondern nur hier und da aufschien und eine Art Humus für all die klugen Gedanken bildete. Und jetzt kommt ebendieser Tilman Rammstedt daher und ist einfach mal hemmungslos albern. Ohne in blöden Schenkelklopferhumor zu verfallen, natürlich.
Keith Stapperpfennig hat ein paar Probleme. Er und seine vier Geschwister sind bei ihrem Großvater aufgewachsen, der den Kindern andauernd neue, immer jüngere Großmütter vorstellt. Bis Keith als junger Erwachsener seinem Großvater eine dieser Freundinnen, Franziska, ausspannt (Problem Nummer eins).
Etwa zur selben Zeit hat der Großvater einen runden Geburtstag, und die Kinder schenken ihm gemeinsam eine Reise an ein Ziel seiner Wahl. Der Großvater sucht sich China aus, und sein Lieblingsenkel Keith muss mit. Der allerdings hält die Idee für vollkommen bescheuert und versteckt sich am Ende unterm Schreibtisch (Problem zwei), während sein Großvater tot in einem Kühlfach im Westerwald liegt (Problem drei) und die Geschwister glauben, die beiden wären gemeinsam in China (Problem vier). Um diese Illusion aufrecht zu erhalten, schreibt Keith “Briefe aus China”, die immer länger und blumiger werden. Als Leser lernt man dabei die erstaunlichsten Dinge über China. Man weiß ja beispielsweise, dass schon die alten Chinesen viele Dinge kannten, die bei uns erst sehr viel später auftauchten; aber dass auch der Pullunder eins dieser Dinge ist, war mir dann doch neu.
Nach zwei wirklich klugen, sehr literarischen und von der Kritik gefeierten Büchern einfach so eine Albernheit rauszuhauen (die natürlich auch klug und literarisch ist, aber eben auch wunderbar unernst): das muss man sich erst mal trauen. Lieber Tilman Rammstedt, wenn ich nicht ohnehin schon ehrfürchtig vor Dir im Staub läge, dann spätestens jetzt. Meine Verehrung.

Rammstedt steht im Regal zwischen François Rabelais und Fabrizia Ramondino.

PS: Katy Derbyshire hat es auch gelesen und gemocht.
Und Tilman Rammstedt hat Max Frisch gelesen und nicht gemocht. Hihi.